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Nun waren sie noch einmal umgezogen und zwar wieder in den Kaiserhof. Obwohl es sich nur noch um wenige Tage handelte. Aber Lydia fand den Aufenthalt in der Klinik plötzlich unerträglich. Die Luft, die düstern Tapeten, das Bewußtsein, von lauter Kranken umgeben zu sein, alles wirkte zusammen.

Und dann hatte sie auch eine merkwürdige Abneigung gegen Schwester Henriette gefaßt. Den Grund vermochte Alexander nicht recht einzusehen. Es war doch so natürlich, daß diese die ihr gebotene Versorgung ergriff. Aber Lydia erklärte, schon aus rein ästhetischen Gründen hätte sie das nicht tun dürfen. Sie war so rührend gewesen, so schön, so rein, so beinahe überirdisch. Und jetzt … Man konnte sie sich schon vorstellen, wie sie mit ihrem säbelbeinigen Doktor einherstolzierte, als Mutter vieler dicker, kleiner, säbelbeiniger Pommernkinder.

Im Kaiserhof bewohnten sie zwei Schlafzimmer, die durch einen Salon verbunden waren. Da sie nichts zu tun hatten, konnten sie mit Muße die Museen besehen. Es machte Alexander ebensoviel Freude, Führer zu sein, wie Lydia, belehrt zu werden.

Abends gingen sie wieder ins Theater. Dort begegneten sie dem Kommissionsrat Friedemann. Er erkannte Lydia nicht gleich und fragte, ob sie krank gewesen sei. Er bat sie dringend um eine geschäftliche Unterredung. Aber sie erklärte, sie reise schon morgen wieder ab.

Am vorletzten Tag hatte sie sich nach dem Essen ein wenig hingelegt und war fest eingeschlafen. Nun fuhr sie in die Höhe. Im Traum war sie unters Eis geraten und hatte vergeblich um Hilfe gerufen. Mit leiser, verschlafener Stimme rief sie: »Alex! Alex!«

Kaum war dies geschehen, als ihr die Spärlichkeit ihrer Toilette einfiel. Im Schreck darüber schloß sie die Augen und stellte sich schlafend. Gleich darauf hörte sie das Öffnen einer Tür. Alexanders Stimme fragte: »Hast du gerufen, Lydia?«

Sie gab keine Antwort. Jetzt mochte er sie bemerkt haben. Er wurde gewiß rot wie ein Primaner. Einen Augenblick blieb alles still. Dann näherten sich ihr Schritte. Die auf den Boden geglittene Decke wurde behutsam wieder über sie gebreitet, ganz hoch, sie fühlte einen leisen Kitzel unterm Kinn. Dann wieder Schritte. Alles still.

Sie blinzelte ein wenig. Sie öffnete die Augen ganz. Wahrhaftig, er war fort! – Er war fort und hatte ihr nicht einmal einen Kuß gegeben. Das hätte er schon tun dürfen! Über einen sanften Kuß auf die Stirn wäre sie nicht erzürnt gewesen.

Aber er war fort. Sie versank wieder in Halbschlummer. Von Eis träumte sie jetzt nicht mehr, sondern von Küssen und andern erwärmenden Dingen. Das mochte an der Decke liegen, deren Seidenflausch sie leise am Kinn kitzelte.

Nach einer Weile ermunterte sie sich und richtete sich auf. Sie steckte ihre Füße mit den schwarzen, hell durchschimmernden Strümpfen in ein Paar Pantöffelchen von sämischem Leder, schlüpfte in einen Kleiderrock, schlich dann gähnend und sich wohlig reckend lautlos über den dicken Velours zum Toilettespiegel. Dort strich sie ein paarmal mit dem Kamm durchs Haar, wischte einige Tropfen Eau de Cologne über Stirn und Wangen, hauchte mit der Puderquaste einmal darüber und fand, daß das Brüsseler Spitzenjäckchen sehr kokett aussah.

Nachdem sie dieses alles mit ebensoviel Ernst wie Zierlichkeit getan, setzte sie sich wieder auf den Rand der Chaiselongue mit verschränkten Beinen, die Hände im Schoß, den Kopf ein wenig geneigt, und rief mit der süßen Stimme eines noch traumwirren Kindes: »Alex! Alex!«

Aber kein Stuhl rückte, keine Stimme antwortete, keine Tür öffnete sich, und es erschien auch kein verschämt errötender Primanerkopf. Da ging sie schmollend ins andere Zimmer hinüber.

Alexander war fort. Doch wie es schien erst seit wenigen Augenblicken. Denn die Schrift auf dem Briefbogen war noch feucht. Es war ein langer Brief an seine Frau. Lydia war neugierig, ob wohl etwas über sie darin stände.

Der Anfang des Briefes interessierte sie wenig.

Endlich begann der Brief von ihr zu handeln: ›Du glaubst nicht, wie froh ich bin über meinen ungeahnten Erfolg. Ich zog aus, um eine kontraktbrüchige Schauspielerin zurückzuholen, ich habe eine schiffbrüchige Seele ans Ufer gerettet. Ja, mein liebes Weib, von der Lydia, die an meinem Krankenbett zum Vorschein gekommen ist, da hattest Du und ich und hatte auch sie selbst keine Ahnung. Sie war wirklich unbeschreiblich rührend und groß in ihrer Sorgfalt, ihrer stillen Unermüdlichkeit, ihrer selbstvergessenen Aufopferung. Sie, die alle die Jahre hindurch nur sich, nur ihre Launen gekannt hatte, hat während der ganzen Zeit nur an meine Pflege gedacht. Es hat sich tatsächlich ein vollständiger Wandel in ihr vollzogen, und etwas total Neues ist in ihr erstanden. Oder nicht erstanden, denn es war ja immer da, es ist nur frei geworden, ihr großes, edles, gutes Herz.‹

Lydia hielt mit dem Lesen inne und tat einen kleinen Atemzug. Ein zartes Rot färbte ihre Wangen, und das Lächeln um ihren Mund gab ihren Zügen den Ausdruck eines Kindes, dem das Glück, gelobt zu werden, aus dem Gesicht strahlt. Ihr großes, edles, gutes Herz! – Sie fühlte es beglückt und hurtig unter ihrer milchweißen kühlen Haut schlagen.

Und als sie bedachte, daß sie, die Gefeierte und Verwöhnte, in der Klinik ihre Tage und Nächte damit zugebracht hatte, zu wachen, für frisches Wasser zu sorgen, Fieber zu messen, blutige Verbandwatte zu entfernen und ähnliche Sachen zu machen, während niemand sie dabei sah als ihr Schwager, der Arzt und höchstens die Schwester, da mußte sie sich sagen, daß er wirklich recht hatte.

Ihr großes, edles, gutes Herz! Indem sie weiterlesen wollte, merkte sie, daß ihre Augen feucht waren. Sie wischte die Tränen ab, die mit diamantenem Glanz auf dem zarten Knöchel ihres Zeigefingers schimmerten.

›Daß sie so geworden ist, wie wir sie in Weyringen wiedertrafen, liegt nur an der Umgebung, in der sie gelebt hat. Alle haben ihr geschmeichelt, aber niemand hat mit Ernst von ernsten Dingen zu ihr gesprochen. Sie mußte entzücken, blenden, fortreißen, so haben sich ihr Geist und ihr Temperament entwickelt, aber niemand wollte die leise Sprache ihres Herzens vernehmen. So war sie trotz aller Gesellschaft und allen Glanzes eigentlich recht unglücklich. Ich habe das glückliche Bewußtsein, daß ich der einzige Mensch bin, der sie wirklich verstanden hat, der die Goldkörner in der Tiefe unter der Oberfläche ihres Leichtsinns hervorgeschürft hat. Und deshalb hoffe ich auch, daß ich einen nachhaltigen Einfluß zum Guten auf sie haben werde. Die seelischen Bedürfnisse, die einmal wachgerufen sind, werden nicht wieder zum Stillschweigen kommen. Der Abstand von ihrer elenden, schalen Umgebung wird ihr nach ihrer Rückkehr erst recht zum Bewußtsein kommen, und ich glaube, wir dürfen sie mit vollem Recht von nun ab die unsere nennen.‹

Jetzt kam eine andere Seite, gegen deren Ende die Schrift noch feucht gewesen war. Alexander schrieb: ›Mein liebes Herz, dieser Bericht wäre unvollständig, wenn ich nicht auch zwischen uns vollständige Klarheit schaffte. Es bestand eine Zeitlang eine Spannung zwischen uns. Und auch zwischen Dir und Lydia hat eine solche bestanden, wie Lydia mir erzählte. Du warst ja vollkommen im Recht, als du ihr damals Vorwürfe machtest wegen der Verschweigung ihres ledigen Zustandes. Das war unverantwortlich von ihr. Aber darüber hinaus – nein, da war sie wirklich unschuldig. Und doch warst du auch damit im Recht, denn ich – jetzt, wo es vorbei ist, kann ich davon sprechen – ich war eine Zeitlang von einer wahnsinnigen Leidenschaft zu ihr gepackt. Ich habe dagegen angekämpft. Das wirst du mir glauben. Aber sag zu dem Wasser, dessen schwarze Fluten dich umgurgeln, es solle sich verlaufen. Sag zu dem Feuer eines brennenden Hauses, in dem du eingeschlossen bist, es solle seine Flammen löschen. Laß mich diese Hölle nicht weiter ausmalen. Ich bin ja kuriert. Nun, wo ich Lydias Seele entdeckt habe, sind ihre körperlichen Reize zum wesenlosen Schein für mich geworden. Ich sehe in ihr nur noch die Schwester. Meine Krankenschwester war sie ja auch! Du hättest sie nur sehen sollen in dem schwarzen, mehr als einfachen Kleid, das sie immer trug, so hohläugig und blaß! Wirklich, die Arme hat viel um mich geopfert. Ihre Frische ist dahin. Gestern erkannte ein Herr im Theater sie zuerst überhaupt nicht wieder. Aber –‹ Hier brach der Brief ab.

Lydia ließ den Bogen aus der Hand gleiten und erhob sich. Mit hochgezogenen und gekrümmten Schultern stand sie da, wie von Kälte durchschauert, und ließ die Augen hin- und herwandern, als suchte sie etwas Fassungsloses zu begreifen. Ein Gefühl tödlichen Gekränktseins beherrschte sie in diesem Augenblick, als wenn nach einem großen Aktschluß, wo sie ganz allein im Mittelpunkt der Bühne stand, der Vorhang unter lautlosem Schweigen des Publikums gefallen wäre.

Noch einmal ergriff sie den Brief und sog das Gift der kränkendsten Stellen ein: ›Ihre Frische ist dahin.‹ – ›Hohläugig und blaß.‹ – ›Nicht wiedererkannt.‹

Dann schlich sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich in dem Korbstuhl vor ihrem Kleiderschrank nieder. Der darin eingelassene Spiegel warf ihr Bild zurück. Blasser und blasser wurde ihr Gesicht. Sie fror! Sie fror! Sie fühlte sich alt. Erledigt. Ihre Frische war dahin. Sie war zum alten Eisen geworfen. Sie reizte nicht mehr. Vorbei waren die Tage, wo man sie gefeiert hatte, sie, die Ausgelassene, die Lachende, die Sprühende, deren Augen, deren Schultern einen solchen Glanz ausgestrahlt hatten, daß die Blicke der Männer mit pfeilgeradem Flug wie Motten auf sie losgeschossen waren. Aus war's mit ihr! Sie konnte als Krankenschwester gehen. Bei Myomexstirpationen assistieren. Steckbecken legen.

Und bei der Klinik fiel ihr plötzlich das Kleid ein, das sie da getragen. Besonders die dunkle Flanellbluse. Mit einer Geste voll Haß und Abscheu, als wenn sie es mit einem persönlichen Feind zu tun hätte, holte sie diese aus dem Kleiderschrank und riß sie mitten durch. Das verschaffte ihr einige Beruhigung.

Da hörte sie das Öffnen einer Tür und gleich darauf die Stimme ihres Schwagers. »Lydia! Darf man herein?«

Sie kam zu ihm hinüber. »Wo bist du gewesen? Warum haft du mich allein gelassen?«

»Friedemann war eben da und wollte dich absolut sprechen. Da du schliefst, habe ich ihn unten abgefertigt. Es war wieder die alte Geschichte mit Amerika. Ich sagte ihm, du würdest ihm von Weyringen aus schreiben. Erst müßte der Fürst gefragt werden. – Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.« Er hielt ihr einen großen Strauß köstlicher weißer Rosen hin, die er hinter dem Rücken verborgen hatte.

»Hübsch! – Hübsch! – Wie für eine Leiche.«

»Aber Lydia!«

»Verzeih! Ich danke dir.«

»Was ist dir, Lydia? Du siehst –«

»Blaß, krank, widerwärtig aus. Ich weiß! Ich weiß! Ich habe furchtbar eingepackt. Das habe ich eben schon vor dem Spiegel konstatiert.«

»Nein! Nur – um Gottes willen, was ist dir?«

Sie hatte ihr Gesicht tief in die Rosen eingepreßt und sog mit erregten Atemzügen den Duft ein. Nun erhob sie den Kopf, und ihre Stimme, die eben noch gramvoll, rauh und hart geklungen hatte, war jetzt ein geheimnisvolles Flüstern voll weicher Seligkeit. »Ich habe geträumt, Alex. Einen greulichen Traum. Ich habe mich so gefürchtet!«

»Was denn?«

Sie schüttelte den Kopf. Er wiederholte seine Frage. Aber in den tränengefüllten Augen ein versunkenes Starren, schüttelte sie nur von neuem den Kopf.

»Aber Lydia« – im Ton seiner Stimme lag etwas Gütiges, wie man einem erschrockenen Kind zuspricht. »Setz dich doch und erzähle. Was hast du so Furchtbares geträumt?«

Er schob zwei Stühle zurecht. Sie rückte den ihrigen ganz nah heran und schmiegte sich an seine Schulter.

»Mir träumte, ich wäre unters Eis geraten.«

»Deine Decke war heruntergefallen. Ich war ja bei dir und habe dich wieder zugedeckt. Offenbar hast du gefroren.«

»Ja, mich fror. Ich merkte, wie ich zu Eis erstarrte. Fühl nur, wie eisig kalt ich bin.« Und sie legte seine Hand auf ihre Brust. »Dabei war es dunkle Nacht. Die Menschen am Ufer sah ich kaum noch. Ich hörte nur noch ein undeutliches Gemurmel von Stimmen.«

»Das war wahrscheinlich der Straßenlärm.«

»Ich versuchte zu schreien. Aber meine Kehle war wie zugefroren. Endlich, endlich kamst du mir zu Hilfe. Aber wie du noch ein ziemliches Stück entfernt warst, bliebst du plötzlich stehen. Auch du warst zu Eis erstarrt. Da hörte mein Herz vor Schrecken auf zu schlagen. Fühl nur, es schlägt auch jetzt noch kaum.«

»Oh, Lydia –« stammelte er verwirrt, indem er seine Hand wie von einem glühenden Stück Eisen zurückzog. »Du solltest dir etwas Warmes anziehen. Du wirst dich erkälten.«

»Nein, ich will bei dir sitzen bleiben. Allein fürchte ich mich. – Du, was sind das für schöne Rosen! Wundervoll duften sie. Aber warum sind es weiße und nicht rote?«

»Sie standen gerade in der Halle. Und rote waren nicht da.«

»Aber du weißt doch, daß dunkelrote Rosen meine Lieblingsblumen sind?«

»Glaubst du, das könnte ich je vergessen?«

»Das wäre auch schlimm. Denn für eine dunkelrote Rose haft du ja den ersten Kuß von mir bekommen. Du erinnerst dich doch noch?«

»So gut wie an gestern.«

»Ich sah sie im Nachbargarten. Es war wohl die erste Rose im Jahr. Du klettertest hinüber und stahlst sie mir. Trotz der hohen Mauer und trotzdem da ein greulicher Hund war.«

»Ja, vor dem Hund hatte ich, offen gestanden, fürchterliche Angst.«

»Aber du stahlst sie mir trotzdem.«

»Ach, damals hätte ich noch ganz andere Streiche für dich gemacht.«

»Damals – wie lange ist das her! – Nun sind wir alte Leute.«

»Du, Lydia, und alt –! Du bist –«

»Sag' mir! Küßtest du mich damals gern?«

»Halb wahnsinnig haben mich deine Küsse gemacht.«

»Wohin küßtest du mich am liebsten?«

»Dorthin!«

Er suchte ihren Mund, der sich ihm leise öffnete. Beide erschauerten im Kuß. Ihre Lippen waren kühl und so spröde wie durstige Erde.

Da klopfte es an die Tür. Sie hörten nicht. Es klopfte noch einmal stärker. Sie fuhren auseinander. »Sag, daß niemand herein kann,« flüsterte Lydia schnell gefaßt.

Er tat's. Die Stimme des Zimmerkellners antwortete, daß die Milch zur Vesper da wäre. Er würde sie draußen niederstellen.

»Was brauchen wir Milch?« lachte Lydia. »Wir trinken Champagner.«

Sie glitt auf seinen Schoß und sah ihm in die Augen mit blauem, dunkelm Blick. Etwas in tiefste Tiefen Lockendes schimmerte aus diesem Blick voller Licht und Dämmerungen und rief die Luft wach, unterzutauchen und zu versinken in Fluten von Wohlsein. Ganz vage tauchte einmal das verwunderliche Bild einer blassen, schwarzen Krankenschwester vor Alexander auf, zerfloß aber rasch wieder, als sein Mund fühlte, daß die eben noch so spröden Lippen sich weniger kühl, daß sie sich weich und wie betaute Rosenblätter anfühlten.

* * *

Es war eine Stunde vergangen, vielleicht ein bißchen mehr, vielleicht ein bißchen weniger, die beiden hatten nicht nach der Uhr gesehen – da tippte Lydia dem in Gedanken Versunkenen auf die Schulter. »Ich bin bereit.«

Ihren Hals umschloß eine schwere Boa von Blaufuchs, aus dem ihr Gesicht mit rosigem Pfirsichschmelz hervorblühte. »Komm! Dein kleines Mädel ist durstig auf Champagner. Auf Champagner von Pommery! Aber schreib nur den Brief noch zu Ende, damit Anna ihn morgen hat.«

Er starrte auf die letzte Seite, ohne doch zu verstehen, was er las. »Was soll ich schreiben?«

»Was du schreiben sollst? Schreib: ›Ich muß jetzt schließen. Alles andere erzähle ich dir mündlich. Mit tausend Grüßen und Küssen Dein treuer Alex.‹ – So. Punktum. Nun schreib noch drunter: ›Auch Schwester Lydia grüßt herzlichst.‹«

Der D-Zug Berlin-München-Verona ratterte seine einförmige Melodie. Er hatte die Gegend der Kiefernwälder hinter sich gelassen, rechts und links vom Schienenstrang breiteten sich satte braune Felder und grüne Wiesen aus. Auf den Gängen schoben sich die gewichtigen Gestalten der Beamten an den Reisenden vorbei. Das Gespräch der Gäste im Speisewagen drehte sich hauptsächlich um die Vergnügungen der Großstadt, die sie soeben verlassen hatten.

In einem Abteil erster Klasse saßen Lydia und Alexander. Sie waren allein. Lydia hatte ihren Kopf bequem gegen die Ecke der Polster gedrückt und roch von Zeit zu Zeit an einem großen Rosenstrauß, der auf ihr Gesicht einen rosigen Widerschein gezaubert zu haben schien. Neben ihr lagen ihr Hut, ihr Riechfläschchen, ihr Zigarettenetui, eine Schachtel mit Konfekt und ein Buch verstreut. Alexander saß ihr gegenüber und blickte unruhig aus dem Fenster.

Plötzlich zog er die Uhr und sagte: »In drei Stunden entscheidet sich unser Schicksal.«

»Wessen Schicksal?« fragte Lydia, die darüber nachgedacht hatte, ob sie den Verkehr mit der Reinhold abbrechen sollte oder nicht.

»Deins – meins – und Annas.«

»Wieso denn?«

»Nun, es ist doch klar, daß ich Anna heute noch sagen werde, was geschehen ist.«

Lydia richtete sich auf, indem ihre Hand mit unwillkürlicher Bewegung über ihre Schläfe strich. »Du willst Anna sagen, daß – –?«

»Ja, glaubst du, ich könnte es verheimlichen? Sieh, Lydia, was wir getan haben – wir wollen der Wahrheit mutig ins Gesicht sehen – ist ein Verbrechen. Eines der schwersten Verbrechen gegen die heilige Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Aber es gibt eben Mächte, die stärker sind als diese von Menschen eingesetzte Ordnung. Sie sind urewig wie die verheerenden Kräfte der Natur. Wer von ihnen betroffen wird, muß sich ihnen beugen wie unter Schicksalszwang. Es mindert nicht unsere Schuld, es nimmt nicht die Verantwortung von uns, es wird die Folgen nicht abschwächen, wenn wir beide uns sagen: wir stehen unter einem Verhängnis. Aber wenn wir unser Tun heimlich fortsetzten wie Diebe in der Nacht, dann nähmen wir unserm Schicksal alle Größe und zögen unsere Liebe in den Schmutz. Deshalb wollen wir mit erhobenem Haupte unsere Schuld bekennen. Abgesehen davon, daß ich vor Anna nie Heimlichkeiten gehabt habe. Ich bin einfach unfähig, sie zu belügen.«

»Und was, glaubst du, wird Anna tun?«

»Ich nehme an, daß sie sich scheiden läßt. Und dann bin ich frei für die Ehe mit dir.«

Darauf war Lydia nicht gefaßt. Es schrillte in ihrem Innern wie ein Gelächter. Aber auf Alexanders Zügen, der diese Gedanken in langen schweren Stunden hin und her gewälzt haben mochte, lag ein so tiefer Ernst, daß sie ihn mit unwillkürlicher Rührung auf die Stirn küßte. »Wir beide – Eheleute! Dann führten wir also unsern Kindertraum doch noch aus.«

»Ja, und gerade darin liegt für mich etwas so Zwingendes. Es hat von Anbeginn so kommen müssen. Denn – im Grunde liebt man doch nur einmal. Nicht wahr?«

»Ja – gewiß!« murmelte Lydia. – »Also heute abend schon. Gleich heute abend. Das ist kein sehr angenehmer Empfang für Anna. – Du, Alex! Beschlaf es noch eine Nacht.«

»Soll ich Anna belügen?«

»Ach, wer spricht von belügen? Aber sogleich mit der Tür ins Haus fallen – das ist doch zu grausam. Denk doch nur, Anna freut sich den ganzen Tag auf dich, und du – nein, nein, Alex! Du weißt, ich lüge auch nie. Ich hasse die Lüge. Aber in diesem einen Fall –«

»Gerade in diesem einen Fall ist Wahrheit nicht nur eine heilige Pflicht, sondern auch Barmherzigkeit. Anna zu hintergehen, das wäre –«

»Und Papa –« fuhr Lydia, die nun wirklich ernstlich besorgt wurde, fort. »Aber Alex, denkst du denn nicht an Papa? Ach, der unglückliche alte Mann! Für den ist das einfach ein tödlicher Schlag. Er ist doch ganz alte Schule und nimmt diese Dinge furchtbar tragisch. Erinnere dich doch nur, was er für ein Wesens davon machte, daß ich nicht verheiratet bin. Und nun kommt gleich hinterher noch dies! – Und dann dein Stück, Alex! Aber ich bin ja vollständig drunter durch beim Publikum, wenn das jetzt herauskommt. Man wird mich auszischen. Und in der Stimmung soll deine Premiere sein?«

»Aber Lydia, das ist doch eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was auf dem Spiel steht.«

»Dein Stück eine Bagatelle? Für mich nicht. Für mich ist das augenblicklich das Allerwichtigste und Heiligste, für das ich zu kämpfen habe. Dein Stück ist meine Fahne, die ich zum Sieg führen muß. Ich bin eben ein besserer Soldat als du – du hast ja kein Künstlerblut –«

»O bitte –«

»Nein, Alex, tausend Gründe sprechen dagegen. Die Wahrheit ist eine schöne Sache, aber man darf sie nicht auf die Spitze treiben. Und vor allem soll man damit nicht ins Haus fallen.«

»Also was schlägst du vor?« fragte er erregt. »Wir sollen lügen, lügen, lügen?«

»O Gott, nun rege dich nur über dieses Wort nicht so auf. Jeder Mensch lügt jeden Tag ein dutzendmal. Übrigens will ich ja gar nicht, daß du lügst. Ich will nur, daß du Anna nicht gleich mit der Nachricht ins Gesicht springst.«

»Aber wenn Anna mich fragt?«

»Wie wird sie denn fragen! Sie denkt nicht dran.«

Lydia setzte sich an seine Seite, ergriff das Plaid, breitete es über sie beide und schob ihren Arm unter den seinen. So sich dicht an ihn schmiegend, sagte sie: »Du tapferer, ehrlicher, ritterlicher Mann! Wie liebe ich dich wegen deiner Aufrichtigkeit. An dir ist kein Falsch. – Was du vorhast, ist herrlich, aber gräßlich unpraktisch. Es würde zu den furchtbarsten Konsequenzen führen, nicht bloß für uns, sondern auch für Anna und Papa.«

»Aber wenn du mir nur sagen wolltest, was ich eigentlich tun soll. Denn einmal wird alles herauskommen. Dergleichen kommt immer heraus.«

»Na, immer nicht. Sonst hätten ja die Richter vor lauter Ehescheidungen zu nichts anderm Zeit. Wenn es herauskommt, ist immer eine Unvorsichtigkeit daran schuld. Wir müssen eben rasend vorsichtig sein. Aber das laß nur meine Sorge sein.«

»Ach, Lydia, das ist alles so häßlich, so klein –«

Sie fiel ihm geschmeidig ins Wort: »Nun mußt du mich nicht absichtlich falsch verstehen. Wenn ich zur Klugheit rate, so tu ich's doch nur für dich, du großer Junge. Du sollst dich um gar nichts kümmern. Du sollst von aller Verstellung frei bleiben und dich geben wie du bist. Natürlich, wenn Anna fragt – aber das halte ich für ausgeschlossen – mußt du ihr die Wahrheit sagen. Mein ganzer Vorschlag geht ja auch nur dahin, den richtigen Augenblick abzuwarten. Darauf kommt alles an. – Ich weiß ja nicht, wie Anna ist. Ob sie – ob eure Ehe nicht eher ein sehr inniges Freundschaftsverhältnis ist. Denn dann wäre alles ja noch viel einfacher.«

»Wieso?«

»Dann hielte ich es für sehr möglich – vorausgesetzt nur, daß du den richtigen Zeitpunkt abwartest – daß sie das Geständnis viel weniger tragisch nimmt als du glaubst. Daß sie es dann überhaupt nicht zu einer Ehescheidung kommen läßt. Daß sie nachsichtig und groß genug ist –«

»Das hältst du für möglich?«

»Ich bin eigentlich fest davon überzeugt.«

Er atmete aus befreiter Brust. Ihm war, als hätte ihre leichte, wundertätige Hand ihm eine schwere Rüstung, wenn nicht ganz abgenommen, so doch gelockert.

In den Stunden, wo er über die Neugestaltung seines Lebens nachgedacht hatte, war ihm der Gedanke, daß er sich aus allen den liebgewordenen Beziehungen losreißen mußte, doch schwer auf die Seele gefallen. Noch schwerer hatte der Gedanke an Anna auf ihm gelastet, der Gedanke, daß sie, die ihm die besten Jahre ihres Lebens geschenkt hatte, nun als verlassene Frau dastehen würde. Er wußte, für sie gab es keinen neuen Aufbau mehr. In der Beziehung ähnelte sie ihrem Vater. Wenn er ihr die Katastrophe ersparen könnte? …. Er hatte die Möglichkeit eines Doppellebens, einer Vereinigung der beiden Frauen überhaupt noch nicht ins Auge gefaßt. Dergleichen kam unter Künstlern, unter extravaganten und außerhalb der Gesellschaft stehenden Menschen vor. Aber nicht in seinen Kreisen. Und doch hatte die Vorstellung etwas so Verlockendes.

Und es war nun schon ein leises Nachgeben, als er sagte: »Ich glaube nicht an eine solche Lösung. Und wenn sie möglich wäre, so wäre sie doch nur eine Halbheit und eine Lüge.«

Lydia schmiegte sich enger an ihn. Sie glaubte ihn schon gewonnen zu haben. Nun mußten um diese unmögliche Sache noch mehr Worte gemacht werden. Sie gab ihm einen Kuß. »Schau, Alex, man muß nicht alles bei so häßlichen Namen nennen. Du hast doch selbst gesagt: ›Was du und ich durchgemacht haben, das kann kein Mensch begreifen.‹ Also muß man es auch andern nicht begreiflich machen wollen. Ich wenigstens finde das inkonsequent.«

»Und du meinst, unser Leben könnte so weitergehen?«

»Ja. Nichts braucht sich zu ändern. Nur wir beide haben uns gefunden und lieben uns.«

Er blickte ihr ins Gesicht, und es tat ihm beinah weh, sie so schön, so rosig und frisch zu sehen. Das ungeheure Ereignis dieser letzten vierundzwanzig Stunden hatte nicht die leisesten Spuren auf ihren Zügen, in ihrem Wesen hinterlassen. »Liebst du mich überhaupt?« fragte er in plötzlichem Zweifel.

»Dummkopf!« erwiderte sie und rundete die Lippen zum Kuß.

»Ich liebe dich so,« sagte er, »als wäre ich nur ein Gefäß, um dich ganz aufzunehmen. Ich möchte dich ganz zu eigen haben. Meine Frau! Mein! Mein! Am liebsten wohnte ich mit dir irgendwo in der Einsamkeit.«

»Ja, ja! Auf einer Insel mitten im Meer.«

»Ja, mitten im weiten Meer.«

»Und ringsherum stelltest du Kanonen auf und knalltest alle nieder, die uns besuchen wollten. Alex, du bist doch nicht eifersüchtig?«

»Rasend eifersüchtig.«

»Alex! Alex! Denke daran, was für einen schlimmen Streich dir schon einmal deine Eifersucht gespielt hat.«

»Oh, Lydia, wie kannst du!«

»Ich hasse Eifersucht. Dich machst du dadurch verächtlich und mich beleidigst du. Schwöre mir, daß du nie wieder eifersüchtig sein wirst!«

»Schwöre du mir, daß du mir nie Grund dazu geben wirst.«

»Das tue ich.«

»Ich auch.«

Da umschlang sie stürmisch seinen Hals und bedeckte seinen Mund mit Küssen. »Ach, du großer, wundervoller, einziger Mann! Wenn du wüßtest, wie hoch du über all den Zwergen stehst, dann würdest du lachen über die Idee, eifersüchtig zu sein. – Nun aber Schluß mit den Dummheiten. Gib mir die Tasche herunter. Ich will dein Stück noch mal lesen. Zwar kann ich meine Rolle schon auswendig. Aber es schadet nichts, sie aufzufrischen. Und du – du denke daran, daß du ein Dichter bist.«

»Das will ich.«

»Hab doch endlich den Egoismus des Künstlers. Irgendwo habe ich gelesen, Künstler müßten egoistisch sein, aus Selbsterhaltungstrieb. Sonst würden sie zugrunde gehen, da sie alles so viel stärker und schwerer empfinden als andere Menschen. – Ein sehr wahres Wort, finde ich. Also merke dirs!«

Als ob sie ihre Mahnung noch bekräftigen müßte, drückte sie wieder ihre Lippen auf seinen Mund mit einem langen Kuß.

Der Zug ratterte seine einförmige Melodie. Es begann zu dämmern. Schon erhoben sich am Horizont die Hügel des Thüringer Waldes. Immer näher kamen sie ihrem Ziel.

›Zu welchem Ziel?‹ fragte Alexander sich. Die tragische Entschlossenheit des Mannes, der der heraufbeschworenen Katastrophe entgegensieht und gewillt ist, ihr Trotz zu bieten, hatte einer feurigen Unruhe Platz gemacht. Was eben noch überwältigend vor ihm gestanden hatte, zerschmolz im Dunkeln, wurde fremder und ferner. Ehrgeizige Pläne beschäftigten ihn. Wenn ›Das leere Herz‹ Erfolg hatte, würde er sich an die hohe Tragödie wagen. In seinem Schreibtisch lagen noch manche Dramen, vollendete und Entwürfe. Er brauchte nur zu wählen. Ja, Lydia hatte wohl recht! Es hieß eher das Schicksal herausfordern, als es männlich tragen, wenn er gleich heute oder morgen Anna vor die Entscheidung stellte. Natürlich, lügen durfte er nicht. Fragte sie, so würde er die Wahrheit eingestehen. Vermochte er aber ohne Verstellung das Leben an ihrer Seite fortzusetzen, so war es weit besser, abzuwarten. Denn wenn er seine Schuld durch Taten rechtfertigen, wenn er Anna sagen konnte: ›Sieh, das habe ich geschaffen unter der Sonne dieses Glücks,‹ dann würde sie hochherzig und ohne kleinliche Eifersucht ihm dieses Glück gönnen, das ihm so notwendig war wie Luft und Licht.

Anna hatte sich Vorwürfe gemacht, daß sie ihren Mann nicht auf seiner Reise begleitet.

Warum kämpfte sie nicht, um ihn zu behalten, so gut wie Lydia kämpfte, ihn ihr zu entreißen? Aber sie fühlte, sie war zu solchem Tun nicht fähig. Viel lieber hätte sie gleich verzichtet und dem Schicksal seinen Lauf gelassen, als etwa die Rolle einer sich aufdrängenden und dem Manne nachspürenden Frau zu spielen. So wartete sie ab und sagte sich, daß in seinen Briefen ja nicht das geringste stand, was sie beunruhigen konnte. Freilich auch wenig genug, was sie hätte beruhigen können. Was trieb er die langen Tage in Berlin? Sonst pflegte er stets ausführlich zu berichten.

Dann kamen Nachrichten, die um Geduld baten. Eine Entscheidung nahte sich. Noch aber könnte er nichts Bestimmtes sagen. Er appellierte an ihr Vertrauen. Sie antwortete umgehend: sie sei überzeugt, was er täte, sei das Richtige. Daß Lydia sich nicht von einem Tag zum andern umstimmen ließ, erschien ihr begreiflich. Was Alex von ihrer inneren Umwandlung, von ihrer Besserung schrieb, vermochte sie nicht zu glauben. Lydias Umwandlung hatten den Wert vorübergehender Stimmungen, mehr nicht. Sie war veränderlich wie das Wetter. Sie war heute reuige Büßerin, um morgen desto lustiger drauflossündigen zu können. Aber Anna wollte ihren Mann nicht kränken, indem sie ihm ihre Zweifel verriet.

So dehnte sich ein Tag nach dem andern in zehrender Ungewißheit. Unter der Oberfläche mühsam erhaltener Ruhe wurde ihr Inneres von den widerstrebendsten Empfindungen zerrissen. Gewöhnlich gelang es ihrem Stolz, sich zu behaupten. Sie sagte sich, wenn seine Leidenschaft so mächtig war, daß er ihr unterlag, dann war es ein vergebliches Bemühen, sich dagegen aufzulehnen. Was dann geschehen würde, wußte sie nicht. Jedenfalls wollte sie sich frei halten von der niedrigen Eifersucht, die um den körperlichen Besitz eines Menschen kämpft, wenn sie sich auch damals in einem unbewachten Augenblick Lydia gegenüber zu würdeloser Heftigkeit hatte hinreißen lassen.

Zu andern Stunden aber ergriff die Eifersucht sie wie ein Fieber ihres Körpers. Dann stiegen Bilder in ihr auf von solcher Aufdringlichkeit, von so brennender Verruchtheit, daß sie mit den Zähnen knirschte und sich die Nägel ins Fleisch bohrte.

Es war noch ein Labsal für sie, eine Rettung in reinere Regionen, daß in dieser Zeit die Sorge um ihren alten Vater sie sehr beschäftigte.

Der Oberst hatte sich durch den Besuch des Fürsten nicht umstimmen lassen. Er bestand darauf, fortzuziehen. Aber wenn seine Tochter ihn fragte wohin, so nannte er wohl diese oder jene Stadt am Rhein oder in Norddeutschland, doch sie merkte nur zu gut, daß er über seinen neuen Aufenthaltsort gänzlich im unklaren war. Dagegen begann er ernstlich mit dem Aufräumen seines Haushalts. Eines Tages gewahrte Anna auf dem Hofplatz vor dem Garten alles mögliche staubbedeckte Mobiliar. Größtenteils war es altes Gerümpel, doch waren auch wertvolle Stücke darunter. Jahre- und jahrzehntelang hatte es auf dem weitläufigen Boden ein vergessenes Dasein geführt. An manches erinnerte sich Anna noch aus ihrer frühesten Kindheit. Die Besitzer anderer Sachen waren längst vor ihrer Geburt gestorben.

Ahnungslos fragte sie ihren Vater, ob es nicht geraten wäre, vor seinem Umzug einiges zu verkaufen. Aber zornbebend erwiderte der alte Mann, ob sie sich nicht schämte, so etwas zu denken. Er legte die Hand auf einen vermoderten Lehnstuhl und sagte: in diesem Lehnstuhl hätte Tante Bettina stets gesessen und ihm Märchen erzählt. Und auf dem Spinnrad da hätte seine Großmutter noch Flachs gesponnen; in jenem Himmelbett wäre sein Großvater in seinem sechsundsiebenzigsten Jahr gestorben.

Es sollte nichts verkauft werden. Er wollte nur Inventur aufnehmen und alles säubern und neu instand setzen lassen, damit es in der neuen Wohnung wieder seinen Platz fände.

Mit diesem Tun brachte er seine Tage hin. Er hing mit solcher Zärtlichkeit an diesen alten Dingen, die ihm die Geschichte seines Lebens erzählten, daß er sich nicht einmal für wenige Tage von ihnen trennen konnte, sondern die Handwerker ins Haus kommen ließ.

Auch er selbst verließ nicht mehr sein Haus. Wenn Anna, die ihn täglich besuchte, ihn zu einem Spaziergang abholen wollte oder ihn zur Stunde seines Frühschoppens daheim fand und ihre Verwunderung darüber aussprach, so machte er alle möglichen Ausflüchte: das Wetter wäre zu schlecht, er wäre von seinem Reißen wieder geplagt, der Schmutz auf den Straßen wäre ihm zuwider und dergleichen. Doch als sie dann einmal heftiger in ihn drang, erwiderte er: »Laß das! Solange ich hier bleibe, gehe ich nicht mehr auf die Straße. In meinen vier Wänden bin ich wenigstens sicher vor dem Geschwätz der Leute.«

Als Anna eines Tages von ihrem Vater nach Hause ging, begegnete sie einer Horde Straßenkinder, die mit dem lauten Ruf: »Rucktäschel, Rucktäschel!« einen von Rheumatismus fast rechtwinkelig gekrümmten alten Mann umtanzten, der wütend seinen Stock schwang und die neckende Schar mit den fürchterlichsten Drohungen bedachte. Den Namen ›Rucktäschel‹ verdankte der stadtbekannte Alte einer auffallend großen, am Rock aufgenähten Tasche. Er verdiente sich nämlich sein kärgliches Brot damit, daß er zerbrochenes irdenes Gerät mit Drahtnetzen umspann. Besonders schien seinen Zorn ein kleines Mädchen entfacht zu haben, das, nicht weniger schmutzig als die übrige Gesellschaft, sich doch durch einen ehemals kostbaren, grünen Sammetmantel auszeichnete.

»Der krienen Schlange mecht' ich doch gleich 'n Kopf zerträten,« schrie der Alte. »So äne is mir doch noch nich vorjekommen. Baß nur uff, dir wird noch de Zunge zum Grabe nauswachsen, du kriene Gräte du!« – welche Worte das kleine Mädchen jedesmal mit lautem Entzückungskreischen und damit aufnahm, daß sie ihre Zunge, auf der noch der Rest eines braunen Bonbons zerschmolz, nur noch länger herausstreckte.

Als Anna näher kam, bemerkte sie zu ihrem Schrecken, daß die ›kriene Schlange‹ niemand anders als ihre Nichte Walpurga war. Freudestrahlend kam sie ihr jetzt entgegengehüpft: »Hurra, Tante Anna! Guten Tag, Tante Anna! Nimmst du mich mit, Tante Anna? Ätsch, Rucktäschel! Adieu, Willy! Adieu, Lieschen! Adieu, Hermann! Sag deiner Mutter, daß ich ihr einen Polsterstuhl borge. Ganz bestimmt kriegt sie ihn. Adieu, Fritze! Adieu, die andern!«

Der zerlumpten kleinen Schar, deren Führerin sie offenbar war, nachwinkend, hängte sie sich Anna an den Arm. »Gehst du nach Haus, Tante Anna? Könntest du mich vielleicht zu Mittag einladen, Tante Anna? Was es bei uns gibt, das ist nämlich Fraß. Das kann man nicht essen. Nämlich –«

Und in seiner atemlosen, ungestümen Art erzählte das kleine Ding, daß der Schatz der Köchin Diener beim Baron Strupp sei und von diesem ein paar hinter die Ohren bekommen hätte, so wegen nichts und wieder nichts. – Aber Maruschka meinte, weil er Zigarren gemaust hätte. – Da hätte er sich Knall und Fall davongemacht, und die Köchin wäre gleich mit ausgerückt. Da hätte Maruschka kochen müssen, hätte es aber nicht gekonnt wegen Hexenschuß. Da hätten sie das Essen aus dem ›Bismarck‹ kommen lassen. Das wäre aber fürchterlich gepfeffert. Und gestern hätte es Steckrüben gegeben, die hätte Walpurga jedoch heidi! zum Fenster hinausgeschüttet, wie es ihre Mama einmal mit einem zähen Huhn ihr vorgemacht hätte. Da hätte Maruschka ihr heute fünf Groschen für Kuchen beim Konditor gegeben, sie hätte aber das Geld mit ihren Freunden geteilt und Manna und Lederzucker dafür gekauft.

»Du, Tante, die sind arm! Davon machst du dir keinen Begriff. Die denken, Steckrüben und Hammelfleisch wäre was Feines! Die Eltern von Hermann müssen ausziehen, weil sie die Miete nicht bezahlen können. Der Vater von Hermann ist nämlich ein Lebemann, sagt seine Mutter. Sie hat mich gebeten, ich sollte ihr zweiunddreißig Mark für Miete borgen. Aber wir sitzen selbst auf dem Proppen, sagt Maruschka. Aber ich habe Hermanns Mutter versprochen, daß ich ihr einen Polsterstuhl borge für den Umzug!«

»Was will sie denn mit einem Polsterstuhl?«

»Sie sagt, es macht sich gut für die Nachbarn, wenn sie beim Umzug einen Polsterstuhl hat.«

So plauderte das Kind ununterbrochen, bis sie zu Hause angelangt waren. Als dann aber das Essen auf dem Tische erschien, wurde es mäuschenstill und entwickelte einen solchen Appetit, daß an diesem Mittag Frau Horn fasten mußte, da ihr kleiner Gast alles allein verzehrte.

Anna brachte ihre Nichte nicht wieder zu Maruschka zurück, sondern ließ diese fragen, ob es nicht besser wäre, wenn Walpurga für einige Tage bei ihr bliebe. Das alte Faktotum antwortete, daß es das Anerbieten dankbar annähme, und daß auch ihre gnädige Frau nichts dagegen haben würde.

So siedelte Walpurga zu ihrer Tante über, und die beiden Verlassenen schlossen sich eng aneinander. Anna spürte bald, daß Walpurga trotz ihrer Wildheit ein herzensguter, aufrichtiger und treuer kleiner Kerl war. Sie verschaffte ihr im Kreis der Nachbarn einige Spielgefährten, und es erfüllte sie mit Freude, wenn auch zugleich mit einiger Sorge der späteren Erziehung wegen, als Walpurga erklärte: es wäre ja ganz nett, mit Daisy, Ellen, Maggie und Karlfried zu spielen, aber ihre alten Freunde Lieschen, Hermann, Willy und Fritze wären denn doch zehnmal lustiger.

Für Anna bedeutete dies Kind ein nie gekanntes, seit ihrer Hochzeit ersehntes Glück, und sie gewann es beinah vom ersten Tage an so lieb, daß sie seitdem der Rückkehr der beiden Flüchtlinge mit weit größerer Ruhe entgegensah. Walpurga gab einem von ihr still gehegten Wunsch Ausdruck, indem sie sagte, sie wollte die Mama bitten, ganz bei der Tante bleiben zu dürfen.

»Es ist ja auch viel vernünftiger,« setzte sie auf ihre altkluge Art hinzu. »Du schickst mich doch wenigstens in die Schule. Aber Mutti sagt immer, in der Schule stinkt's. Das glaube ich ja, aber ich muß doch was Ordentliches lernen. Glaubst du, daß Mutti es erlaubt?«

»Ich weiß nicht.«

»Natürlich nicht gleich am ersten Tag. Zuerst muß ich mal bei Mutti bleiben. Aber dann will ich sie so quälen, bis sie es erlaubt.«

Die beiden stifteten förmlich eine kleine Verschwörung an. Anna empfand die Möglichkeit, sich bald wieder von dem sonnigen kleinen Ding trennen zu müssen, so schwer, daß es Augenblicke gab, wo sie wünschte, es möchte immer so weiter gehen: morgen wie heute und gestern.

Aber dann teilte Alexander seine Rückkehr mit. Und der lange Brief enthielt zugleich die Erklärung für sein rätselhaftes Schweigen während der letzten Tage.

Zuerst erschrak Anna tief beim Lesen. Sie lebte in wenigen Stunden alles nach, was er während zweier Wochen durchgemacht hatte. Dann aber klärte sich aus dem Gewoge von Angst, Empörung, Zweifel doch schließlich ein reines Glücksgefühl heraus. Er war genesen!

Der neue Mensch in Lydia wurde ihr freilich trotz Alex' gutherziger Gläubigkeit um nichts wahrscheinlicher. Ja, sie war gegen die Schwester grausam genug, um dem Schicksal zu danken, daß es ihn zweimal aus Lebensgefahr gerettet hatte. Zweimal hatte die tödliche Waffe es auf sein Herz abgesehen, und beide Male war sie abgerutscht und hatte ihm eine wenn auch tiefe, so doch heilbare Wunde beigebracht. Und nun war er genesen! Wenigstens durfte – wollte sie es hoffen.

So holte sie die beiden ohne den geringsten Argwohn von der Bahn ab. Die kleine Walpurga war mitgekommen. Trotzdem sie selbst erklärt hatte, es sei besser, mit der Bitte zu warten bis zum nächsten Tag, konnte sie ihre Ungeduld nicht zügeln und sprudelte das, was ihr das Herz abzwängte, schon im Wagen hervor. Sofort runzelte Lydia die Stirn, in ihrer mütterlichen Eifersucht betroffen.

Wie, Walpurga wollte ihre gute, liebe Mutter allein lassen?!

Aber nein, erklärte das Kind. Sie würde sie ja immer besuchen. Auch wollte sie nicht schon heute fort. Nächste Woche oder übermorgen oder vielleicht morgen abend!

Anna legte sich ins Mittel. Doch Lydia erklärte schroff, nein, sie sollten sich den Gedanken nur aus dem Kopf schlagen, sie ließe ihr Kind nicht aus dem Hause. Dann aber tauschte sie plötzlich einen Blick mit Alexander, versank in nachdenkliches Schweigen und gab ihre Einwilligung.

Wäre Anna nicht so glücklich gewesen, dieser Blick hätte ihr zu denken gegeben.

Lydias Rückkehr war für die theaterlustige Stadt geradezu ein Ereignis.

Am Tage nach ihrer Ankunft stand in den »Nachrichten für Stadt und Land« unter ›Kunst und Wissenschaft‹ die Notiz, daß das ›gefeierte Mitglied unseres Hoftheaters‹, Frau Lydia Meyn, von ihrem kurzen Erholungsurlaub wieder eingetroffen sei. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem vornehmen Sanatorium des Berliner Westens hätte die nervöse Abspannung, die sie sich durch Überarbeitung zugezogen, glücklich beseitigt. Mit besonderer Genugtuung müsse es begrüßt werden, daß Frau Meyn das Anerbieten eines Impresarios zu einer Tournee durch Dollarika trotz der gebotenen goldenen Schätze abgelehnt habe, um ihrer Vaterstadt treu zu bleiben.

In derselben Nummer erging der Wochenplauderer ›Wegwart‹ sich in einigen geharnischten Angriffen gegen gewisse Verleumder und Klatschverbreiter, denen es beinahe gelungen wäre, einer Dame den Aufenthalt in ›unserer Residenz‹ zu verleiden, deren Ruf ebenso unantastbar dastände, wie ihre Kunst jedes Lobes würdig sei.

Lydias erstes Auftreten als Gretchen fand vor beinahe ausverkauftem Hause statt. Nur auf den Abonnementsplätzen im ersten Rang gab es einige Lücken. Dafür aber war der Fürst in seiner Seitenloge erschienen und gab durch reges Klatschen seiner behandschuhten Hände das Zeichen zu immer wiederkehrendem Beifall.

Natürlich ›regnete‹ es Blumenkörbe und Lorbeerkränze, darunter einen mit zwei langen, wenn auch etwas dünnen Atlasbändern, und den Gedichtzeilen: »Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen, und das Erhabene in den Staub zu ziehn.« (Schwarzer Druck.) »Doch fürchte nicht! Es gibt noch schöne Herzen, die für das Hohe, Herrliche erglühn.« (Golddruck.) Gestiftet war die sinnige Huldigung von achtzehn Backfischen eines Töchterpensionats, denen Lydia dafür zum Dank achtzehn Kabinettphotographien mit ihrer Unterschrift verehrte.

Um ihre Stellung zu festigen, hätte sie nichts Besseres erfinden können als diese Flucht. Herr Doktor Legfeld, der Regisseur, sowie die übrigen Schauspieler behandelten sie mit einer Zuvorkommenheit und Vorsicht, als wollten sie begangene Fehler wieder gutmachen. Lydia aber begrüßte alle auf die herzliche und freimütige Weise, in der sie Meisterin war. Sie wollte ihre Kolleginnen gewinnen, um sie einmütig für Alexanders Stück zu interessieren.

Gleich am ersten Morgen begab sie sich in das Sprechzimmer des Intendanten, um ihm für seine Nachsicht zu danken, und fragte nebenbei, wann die Proben anfingen. Dank ihrer klugen Energie wurden sie schon für die nächste Woche angesetzt.

Selbst mit ihrer erbittertsten Feindin am Theater gelang ihr eine Aussöhnung, und zwar auf höchst einfache Weise.

Eines Abends saß sie im Konversationszimmer, als Frau von Limburg hereinrauschte. Kaum hatte diese Lydia gesehen, als sie die Nase rümpfte, etwas von schlechter Luft murmelte und das Fenster aufriß. Lydia erhob sich sanft und schloß ohne ein Wort das Fenster wieder. Die Limburg rollte die Augen, arbeitete aufgeregt mit ihrem Fächer, wagte aber nichts zu unternehmen. Da streckte Lydia ihr plötzlich mit dem liebenswürdigsten Lächeln die Hand hin und sagte: »Du, Limburg, warum sind wir eigentlich so blöd?«

Die andere stutzte, wurde blaß und rot, ergriff dann aber die Hand. Und die Versöhnten hatten sich noch nicht zehn Minuten unterhalten, als Frau von Limburg Lydia ihre Not klagte. Ihr Engagement war mit der nächsten Saison zu Ende, sie wartete jeden Tag auf eine Erneuerung ihres Kontraktes, doch trotz aller Nachfragen hatte sie nichts Bestimmtes erfahren können.

Lydia versprach ihr, bei nächster Gelegenheit mit dem Alten ein Wörtchen zu sprechen. Schon nach kurzer Zeit konnte sie ihr eine beruhigende Nachricht geben, und damit war die neue Freundschaft besiegelt.

Einige Tage später traf sie den Kritiker der »Nachrichten« auf der Straße. Er hatte das Pech gehabt, an ihrer Nora einiges aussetzen zu müssen, und Lydia hatte daraufhin seinen Gruß nicht mehr erwidert. Jetzt ging sie freudestrahlend auf ihn zu und sagte: »Ich wollte schon an Sie schreiben, Herr Doktor, und Ihnen meinen innigsten Dank für Ihre so fein empfundene und tiefe Faustkritik aussprechen. Es ist das Beste, was ich je über Faust gelesen habe. Und daß ich Ihre hohe Zufriedenheit errungen habe, macht mich rasend stolz.«

»Aber bitte sehr, gnädige Frau. Dem Verdienste seine Krone. Da, wo ich loben kann, tue ich's wirklich herzlich gern.«

Die beiden gingen noch ein Stück Wegs zusammen. Lydia sprach von den Vorstellungen, die sie in Berlin besucht, brachte dann die Unterhaltung auf das Repertoire des eigenen Theaters, und es machte sich ganz von selbst, daß der Kritiker sagte: »Nächstens wird ja nun ›Das leere Herz‹ herauskommen. Was ist das eigentlich für 'ne Sache? Es klingt ganz appetitlich. Aber es wird wohl ein Schmarrn sein?«

»Sie, mein lieber Doktor, da irren sie sich aber. Passen Sie auf, das Stück wird Aufsehen machen. Es ist ja nichts fürs große Publikum. Dafür ist es zu modern. Aber es ist enorm literarisch. Unser Intendant hat ein Schweineglück, daß ihm das in die Hände gefallen ist.«

»Kennen Sie den Autor?«

»Keine Ahnung! Es soll ein junger Mensch sein, der sich irgendwo in Spanien herumtreibt.«

»Na, wir werden ja sehen,« sagte der Kritiker und empfahl sich.

In der guten Gesellschaft war man anfangs übereingekommen, Lydia in Acht und Bann zu tun. Aber als die Leute merkten, in wie hohem Maße der Fürst sich für sie interessierte, als man ihr auf den Tees der Frau von Giebichen begegnete, als man hörte, daß sie sich mit Horns vollständig ausgesöhnt, daß ihre Schwester sogar das arme vaterlose Kind zu sich genommen hatte, da besann ein großer Teil der Gesellschaft sich eines Bessern. Alles in allem war sie doch eine reizende und interessante Frau! Und als jemand gar noch das Gerücht verbreitete, der Vater ihres Kindes, den sie auf ihrer amerikanischen Tournee kennengelernt, sei auf der gemeinsamen Reise nach Europa, wo sie sich trauen lassen wollten, einem Schlaganfall erlegen, erschien die Sache überhaupt in einem andern Licht.

Die kleine Frau von Uhlen, die am ersten Tag bei Lydias Anblick schnell in einem Laden verschwunden war, kam bald darauf strahlend auf sie zu und sagte: »Ach, guten Tag, liebste Frau Meyn! Wie freue ich mich, daß Sie wieder da sind. Warum haben Sie sich noch gar nicht bei mir sehen lassen? Kommen Sie doch morgen nachmittag zum Tee. Ich habe solche Sehnsucht nach Ihnen.«

Lydia lohnte diese Nachsicht dadurch, daß sie, ganz im Gegensatz zu früher, von einer bezaubernden Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit war. Sie schien es darauf abgesehen zu haben, die Damen, besonders die der älteren Jahrgänge, zu erobern, für die Herren hatte sie kaum noch einen Blick, und der elegante Herr von Schmettau, trotz seines Podagras noch ein großer Schwerenöter, erklärte: sie wäre bei näherer Betrachtung eine Pute. Ihr ganzes Temperament schiene sie auf der Bühne zu verpulvern.

Auf diesen Tees, Dieners, Routs, überall wohin sie kam, sprach Lydia von dem ›leeren Herzen‹. Mit dem Feuer, das in ihr lohte, wußte sie die andern zu entzünden. Nach einiger Zeit geschah es des öftern, daß die Leute aus eigenem Antrieb zu ihr von dem Stück sprachen, und zwar in Lydias Ausdrücken.

Alexander verbrachte die ersten Wochen nach seiner Rückkehr wie in einem Rausch. Jeden Tag erschien er auf der Probe und gab dem Regisseur und den Schauspielern Ratschläge, deren sicherer Bühnenblick diese weniger erstaunt haben würde, wenn sie gewußt hätten, daß Lydia sie ihm eingegeben hatte.

Von Tag zu Tag steigerte sich in ihm die frohe Erregung. Auch sein Äußeres hatte sich geändert. Die ehedem etwas philiströse Rundung seines Gesichts hatte sich in scharfgeschnittene, blasse Magerkeit gewandelt. Sein Gang war schneller, seine Haltung gerader geworden. Lydia versicherte ihm oft, er stürme einher wie ein siegreicher Feldherr.

In den seltenen Stunden, die er zu Hause verweilte, sagte er manchmal zu seiner Frau, er würde erst froh und wieder er selbst sein, wenn die Aufführung vorüber wäre. In Wahrheit aber fühlte er sich wohler als je. Wenn ein Bekannter ahnungslos von dem Stück zu ihm sprach, hüllte er sich wohl in Schweigen, aber die Freude strahlte aus seinem Gesicht. Nach der Art der unerprobten Soldaten genoß er seinen Sieg im voraus und träumte von immer größern Triumphen.

Es hieß, daß die Intendanten mehrerer Nachbarresidenzen zur Premiere herüberkommen würden, sogar ein Berliner Direktor wurde erwartet … Bei solchen Nachrichten durchzitterte Alexander ein schwindelhaftes Glücksgefühl. Bald würde sein Name durch alle Zeitungen fliegen. Denn den Plan, seine Autorschaft zu verschweigen, hatte er auf Lydias Drängen aufgegeben.

Ruhm und Liebe – beides wurde ihm auf einmal zuteil. Ihm gehörte das Herz der reizendsten Frau, um die so viele vergeblich geschmachtet. Denn an die vielen, die es nicht vergeblich getan hatten, dachte er kaum. Lydias Vergangenheit war ausgelöscht. Ihr Leben begann mit ihm, so gut wie das seine mit ihr anfing. Er war überzeugt, ihr ein und alles zu sein, ihr Geliebter, Vertrauter, Lehrer, ja beinahe ihr Gott.

Und das war nicht ganz ein Wahn. Denn Lydias Art zu lieben war rasch, heiß und blind. Der sie besaß, beherrschte sie, weil sie sich ihm scheinbar ganz unterordnete, während sie in Wirklichkeit doch ihn mit ihrem Wesen durchdrang. Dieselbe Gabe der Steigerung und Verklärung, die sie zu einer großen Schauspielerin machte, war ihr auch in der Liebe eigen. Der Mann, auf den ihr Herz gefallen, mußte immer etwas Vollkommenes sein. Gleichviel auf welchem Gebiet: ein vollendeter Gentleman oder ein vollendeter Schuft, ein genialer Geschäftsmann oder ein genialer Künstler. Und diese Verblendung brachte in den Männern oft wirklich eigentümliche Kraftsteigerungen hervor. Ein Bankier schrieb ihr einmal: das Verhältnis mit ihr sei seine beste Kapitalsanlage gewesen. Obwohl ihre Verschwendungssucht ihn Unsummen gekostet, hätte er doch nie mit solchem Glück spekuliert wie während dieser Zeit.

Nun war Alexander ihre Leidenschaft. Wie diese entstanden war, das hatte sie vollständig vergessen. Sie gehörte ihm an, als wär es immer so gewesen: ihm, der ihre erste Jugendliebe besessen hatte.

Sie saß zu seinen Füßen, nannte sich sein ›kleines Mädel‹ und sagte zu ihm: ›Mein Dichter!‹ Sie war überzeugt, daß ein großes dichterisches Talent in ihm steckte, dessen Entfaltung nur durch die Ungunst der Verhältnisse gehindert war. Und darin sah sie ihre Aufgabe: seine künstlerischen Kräfte zu befreien, sein Selbstgefühl zu steigern und den Philister in ihm totzuschlagen. Philiströs nannte sie seine Bescheidenheit, seine Redlichkeit, die Reue gegen seine Frau, alle seine sittlichen Bedenken. Ein Künstler durfte nicht so empfinden!

Mit solchen Worten zerrieb sie seine besten und solidesten Kräfte. Und was ihre Worte nicht vermochten, gelang ihren Küssen.

Dabei aber wäre Alexander nie auf die Idee gekommen, daß Lydia diesen Einfluß auf ihn besaß. Denn dem Anschein nach war es gerade umgekehrt. Da war sie es, die von ihm veredelnde und vertiefende Anregungen empfing, die auf seine Veranlassung kunst- und literarhistorische Studien trieb, sich in die Goethezeit vertiefte und sich zu der idealen Empfindungshöhe der Frauen dieser Epoche emporschwang.

Die besten Stunden waren freilich die, wo er ihr, seiner Muse, von seinen dichterischen Plänen vorschwärmte. Natürlich sollte sein neues Stück eine tragende Rolle für sie enthalten. Sein Rauschzustand hatte auch seine Phantasie gesteigert: die Pläne jagten einander. Alle heroischen, dämonischen und liebreizenden Frauen der Antike, der Gotik und der Renaissance, des In- und Auslandes, wurden für diesen Zweck mobil gemacht. Er hatte ein Dutzend Stoffe für einen.

Freilich, wenn Alexander dann zu Hause einem der Pläne näher auf den Leib rückte, zerstoben die guten Einfälle. Es blieb nichts als die vage Empfindung von etwas noch nie Dagewesenem, Grandiosem zurück. Er schob diese Unfähigkeit zur Arbeit auf die mannigfachen Aufregungen. Nach der Premiere! Da würde seine Schaffensfreudigkeit sich entfalten.

Was seine Ehe betraf, so verflüchtigte das Gefühl einer Schuld gegen Anna sich mehr und mehr. Er war überzeugt, sie durch seinen Ruhm dafür entschädigen zu können, was sie an seinem Herzen verlor. Und schließlich, was verlor sie? War ihr Verhältnis nicht schon längst das einer mehr freundschaftlichen Kameradschaft gewesen? Wenn sie großherzig war, wie er erwartete, konnte schließlich alles beim alten bleiben.

Daß aber jetzt schon alles anders geworden war, daß er sein Leben für sich oder vielmehr mit einer andern führte, daß es zwischen ihnen keine Vertraulichkeit und keine Offenheit mehr gab, das wurde ihm nicht bewußt.

Und seine Frau war nicht imstande, es ihm zu sagen. Sie fühlte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war und merkte, ohne freilich die Wahrheit zu ahnen, wie sehr er unter Lydias Einfluß stand. Gewaltsam versuchte sie, sich mit ihm zu freuen und seine Hoffnungen zu teilen. Aber immer schwerer drückte auf sie die Furcht vor einer Katastrophe. Wiederholt hatte sie das Stück gelesen, ohne daß sich ihr Eindruck verändert hätte. Aber wo sie hinkam, hörte sie nur Gutes darüber. Wem sollte sie glauben?

So verbarg sie ihre innersten Empfindungen, wurde einsilbig und matt. Während sie sich schwermütigen Herzens rüstete, den Enttäuschten nach seinem Zusammenbruch in ihre Arme aufzunehmen und ihm wie einst Trösterin und Beraterin zu sein, verirrten Alexanders Gedankenflüge sich in immer schwindelndere Höhen, und er phantasierte sich in die Überzeugung hinein, daß nach der Aufführung ein neues oder vielmehr erst sein wahres, eigentliches Leben beginnen würde.

Da, kurz vor der Premiere, verbreitete sich das Gerücht, der unbekannte Autor, Herr Vossen, der sich irgendwo in Spanien herumtreiben sollte, sei niemand anders als der Hofrat Horn. Die Leute stutzten zuerst. Waren sie düpiert worden?

Schon drohte Enttäuschung um sich zu greifen. Denn allzuviel trauten die Weyringer ihrem Mitbürger nicht zu. Doch bald sprang der Wind um. Die, welche das Stück gelesen oder es doch behauptet hatten, erklärten: unmöglich könne Alexander Horn der Verfasser sein. Wenn aber doch, so wäre er eben ein bis dahin verkanntes Genie.

Am Abend der Premiere war das Theater ausverkauft. In der großen Hofloge saß der Fürst, zu seiner Rechten seine Tante, eine anhaltische Prinzessin, zu seiner Linken seine hübsche Cousine, deren Tochter. Der Oberhofmarschall, die Hofdamen, die Kammerherren vom Dienst nahmen die übrigen Plätze ein. Die Hofgesellschaft war fast vollzählig erschienen. Selbst der Oberjägermeister und seine Gemahlin, die sich selten im Theater zeigten, waren zugegen. In der Loge neben der kleinen Hofloge saßen der Staatsminister und seine Gemahlin. Drei Intendanten teilten sich in die Intendantenloge. Sie hatten die Vorderplätze dem Autor und seiner Gattin überlassen wollen, doch diese zogen es vor, im dunkeln Hintergrund zu bleiben.

Der erste Akt spielte im Kerker eines römischen Zirkus. Germanische Gefangene nahmen gerührt Abschied voneinander. Sie sollten im nächsten Augenblick von wilden Tieren zerrissen werden. In ihre Worte mischte sich fernes aufgeregtes Geschrei der blutdürstigen Menge. Ein einziger, Friediger, blieb zurück. Während er vergeblich ein Schwert herbeiwünschte, um sich freiwillig den Tod zu geben, nahte sich ihm, begleitet von ihrer syrischen Amme, die römische Senatorenfrau Marcia. Auf ihr Geheiß wurde eine Fackel gebracht.

Jetzt erst erkannte das Publikum Lydia. Selbst ihr Organ hatte sie entstellt. Sie sprach in einem schleppenden, fremdländischen Akzent, mit zerborstener Stimme. Ihr Äußeres war das einer müden, verlebten Weltdame. Ihre violette Tunika schien einen ausgemergelten Körper zu umschließen. Das dünne Gewebe der Palla hing über magern Schultern, die sich fröstelnd, blutleer zusammenzogen. Tiefe Schatten umgaben die erloschenen Augen. Aber beim Anblick der blühenden Mannesgestalt flackerte es funkenhaft in ihnen auf.

Sie begrüßte den Gefangenen mit Worten befriedigter Rache. Er hatte in der Feldschlacht ihren Gatten getötet. Nun nahte ihm die Vergeltung. Er fragte, ob das eine gerechte Vergeltung sei, für einen ehrlichen Tod in der Feldschlacht von reißenden Tieren hingemordet zu werden? Sie antwortete: die Rachegeister einer Frau glichen reißenden Tieren. Sie entwarf ein Bild des geraubten Gatten, eines Helden wie Friediger. Sie schilderte die Trauer ihres verwaisten Herzens, die Öde ihres Lebens. Ihre Stimme erwärmte sich. Aufrichtiger Schmerz schien ihre Worte zu durchklingen. Er antwortete teilnahmvoll. Die Stimmung rachsüchtiger Feindseligkeit ging unvermerkt zu etwas Neuem über.

Endlich versprach sie ihm Leben, Freiheit und höchste Macht. Sie sei durch ihre Amme im Besitz geheimer Kräfte. Aber sie sei krank. Um leben zu können, bedürfe sie frischen Blutes. Nur so viel, um eine weiße Blume zu färben, sollte er ihr nächtens überlassen. Er weigerte sich. Er wollte lieber sterben. Da beschrieb sie ihm die bevorstehenden Qualen mit solcher Glut, daß die geschraubten und farblosen Bilder in ihrem Munde dichterisches Leben bekamen. Nicht nur den Gefangenen, auch das Publikum ergriff ein Grauen angesichts eines solchen Schicksals. Man glaubte ihm, als er nach leidenschaftlichem Hin und Her endlich auf den schmachvollen Handel einging.

Der erste Akt war ein großer Erfolg für Lydia. Sie wurde neunmal gerufen. Alexander stürzte auf die Bühne und wäre bei dem schnellen Aufziehen des Vorhangs beinahe vom Publikum erblickt worden.

Die Intendanten beglückwünschten ihn, lobten die ›famose Sprache‹, fragten, ob der Stoff historisch wäre, sprachen dann aber von Lydia.

Alexander wandte sich an seine Frau. Sie hatte Tränen in den Augen. »Nun?«

»Was ist sie für eine Künstlerin!« murmelte Anna.

Er bestätigte es. Aber ihre Worte trafen ihn wie ein Stich.

Der zweite Akt führte in die germanischen Urwälder. Trinkszene, bei der mit Kuhhörnern geklappert und beim Wotan versichert wurde, daß der Met gut geraten sei. Überfall der Römer. Zuerst zersplitterten die römischen Schwerter an den germanischen Speeren. Dann aber war die Überzahl zu groß. Tubengeschmetter. Sieg. Vorführung der gefangenen Feinde. Szene zwischen der Mutter Friedigers und ihrem Sohn, der niemand anders als der siegreiche Feldherr war. Die Mutter verfluchte den Abtrünnigen und sprach dunkle Schwurworte. Zum Schluß noch eine große Szene zwischen Gertraute, der einstigen Braut des Friediger, und Marcia. Auch diese bekam nichts Gutes zu hören und wollte die Nebenbuhlerin erstechen. Aber Friediger entriß sie ihr im letzten Augenblick.

Diese letzte Szene rettete noch den Akt. Doch verhielt sich das Publikum merklich kühler. Die Intendanten unterhielten sich angelegentlichst über die Möglichkeit einer neuen Ehe zwischen dem Fürsten und seiner hübschen Cousine. Alexanders bemächtigte sich plötzlich eine große Mutlosigkeit.

Das Räuspern, das ihn während des zweiten Akts so oft hatte zusammenzucken lassen, wollte auch beim dritten nicht aufhören. Der Werbung des römischen Unterbefehlshabers um Gertraute, die sich jetzt in Friedigers Gefolge befand, hörte das Publikum teilnahmlos zu. Es wurde auch nicht wärmer, als jetzt Friediger erschien und auf seine Braut einsprach, den Antrag anzunehmen. Ohne Gnade wurde geräuspert und gehustet.

Und doch hatte Alexander sich gerade diesen Auftritt so packend gedacht: diese Gegenüberstellung des in der römischen Sumpfluft, in den Armen Marcias um sein sittliches Zartgefühl gebrachten Friediger und der treuen, keuschen Gertraute, die selbst ihre verratene Liebe heilig hielt.

Aber die schwarze, vielköpfige Menge da unten, deren vom Widerschein des Bühnenlichts erhellte Gefickter er undeutlich wahrnehmen konnte, ging nicht mit. Man verstand ihn einfach nicht. Während seine Niedergeschlagenheit wuchs, glaubte er sein Stück bereits gescheitert. Im Geist sah er sich nach Hause schleichen, an Annas Arm. Beide gingen schweigend durch die dunkle Straße. Und plötzlich stieg das Gefühl des Unrechts, das er ihr getan hatte, mit dumpfem Schmerz in ihm auf.

Als jetzt Lydia erschien, trat lautlose Stille ein. Sie trug ein Untergewand von durchsichtigem weißen Stoff, das den schlanken Wuchs ihrer Beine wie ein dünner Wasserschleier umrieselte. Eine golddurchwirkte Palla warf schimmernde Funken auf die unbedeckten Teile ihrer Schultern. Ihr Gesicht zeigte sich jetzt in seiner natürlichen Jugendfrische. In ihrem Haar trug sie einen Kranz von Orangeblüten.

Sie musterte die Vorkehrungen im Saal, die zum Empfang des Kaisers getroffen waren. Man hörte, daß ihre Vermählung mit Friediger gefeiert werden sollte. In einem langen Monolog vernahm man, daß sie ihren zukünftigen Gatten jetzt leidenschaftlich liebte. Aber das Blut des Friediger, dem sie die Kraft geraubt hatte, ließ ihr keine Ruhe. Sie mußte ihn vorwärts treiben zu immer neuen Taten, in den Tod.

Friediger trat wieder auf. Neben Marcias blühender Schönheit sah man erst, wie er gealtert hatte, müde und blaß war. Heftiger Streit zwischen den beiden wegen der Ermordung des Imperators. Er weigerte sich. Feierlicher Aufzug des Imperators. Festmahl. Aber mitten im Jubel die Geistererscheinung der Mutter. Düstere Vorahnungen Friedigers.

An Alexander rauschten die Vorgänge auf der Bühne vorüber wie ein betäubender Wirrwarr. Wohl wirkten sie auf seine äußern Sinne. Doch seinem innern Gesicht enthüllte sich unter dem prunkvollen Bombast eine andere, stille, alltägliche Geschichte, die ihn aber erschütterte, weil sie ihn betraf. Er war der um seine Kraft gebrachte Friediger. Und Marcia, die blühende, verjüngte, war Lydia. Wirklich? Hatte er da unwissentlich sein eigenes Erleben geschrieben? Er sehnte sich fort. Er war müde. In die Einsamkeit, ins Dunkel verlangte ihn.

Da fiel der Vorhang. Mit breitem Schwall drang das Händeklatschen an sein Ohr. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, eine Stimme sagte: »Donnerwetter, das war 'ne Leistung. Gratuliere.« – »Ebenfalls! Wirklich kolossal bühnenwirksam, lieber Herr Hofrat!« sagte eine andere Stimme.

Meinten sie Lydia oder sein Stück?

Immer wieder erschienen die Hauptdarsteller mit Lydia in der Mitte vor dem Vorhang.

Jetzt strömte das Publikum auf die Gänge. Alexander eilte zur Bühne hinunter. Herr Rittersloh, der Darsteller des Friediger, kam ihm entgegen, fratzenhaft bemalt, aber strahlend. »Herr Hofrat, wir haben gesiegt. Für die nächsten Akte garantiere ich.«

Langsam schoben sich die Gruppen aus dem ersten Rang ins Foyer.

»Na?« fragte Kammerherr von Uhlen.

»Na?« erwiderte Kammerherr von Rosen.

»Wie finden Sie's?«

»Wie finden Sie's?«

»Oh – hm, ja – oh, ich muß sagen – hm – ich bin sehr gespannt auf den nächsten Akt. Wirklich sehr gespannt. Wissen Sie übrigens, wie es ihm gefallen hat?«

»Wie ich sehen konnte, war er recht befriedigt.«

»Was Sie sagen! Recht befriedigt. So. Hat er auch geklatscht?«

»Demonstrativ!«

»So! Wirklich! Ja, es ist aber auch ein hervorragendes Stück. Und so erfreulich, daß jemand in unserer nivellierenden Zeit mal so herzhafte Gesinnungen ausspricht.«

»Und die Meyn war doch vorzüglich!«

»Exzellent! Na, überhaupt – unsere Meyn! Übrigens, es ist doch von unserm Freund?«

»Man munkelt.«

»Na, und –« Herr von Uhlen zwinkerte zur Rückwand der Hofloge hin. »Hm?«

»Tja! – Hoffen wir's!«

Auch im Foyer wurde viel davon gesprochen, ob das Stück vom Hofrat Horn sei oder nicht. Einige wollten es ganz bestimmt wissen, andere leugneten es ebenso bestimmt ab. Auffallend war jedenfalls, daß der Hofrat nicht auf seinem gewöhnlichen Platz im Parkett saß.

»Entschieden 'ne Sache!« erklärte der Kritiker der ›Nachrichten‹. »Hat zweifellos Qualitäten. Nur zu lang.«

Es klingelte. – Der vierte Akt brachte keinen rechten Fortschritt. Es kam eine Aussöhnung zwischen Friediger und Gertraute zustande, die zum Schluß doch noch von Marcia erstochen wurde.

Im fünften Akt kam es zur Ermordung des Imperator. Doch als Friediger den Thron besteigen wollte, ein gebrochener Mann, sank er tot nieder. Schon neigte Marcia sich dem jungen Sklaven zu, mit dem sie heimlich geliebäugelt hatte, da wurden die beiden von der hereindringenden Leibwache erschlagen. Deren Anführer verkündete zum Schluß, daß germanische Urkraft über alles siegt: über römische Sittenverderbnis wie über die Abtrünnigen des eigenen Volks.

Als der Vorhang fiel, gab es großen Beifall. Aber nichts rührte sich hinter dem Vorhang. Die Schauspieler, die sonst nicht lange zögerten, schienen taube Ohren zu haben. Da rief hier und dort eine Stimme im Parkett nach dem Dichter. Die Rufe wurden allgemeiner. Das Klatschen verstärkte sich.

Endlich teilte der Vorhang sich: Lydia und einige Schauspieler erschienen. Man applaudierte ihnen sehr, verlangte aber von neuem nach dem Dichter. Der Fürst und seine Gäste standen an der Logenbrüstung und beteiligten sich an dem Händeklatschen.

Vom zweiten Rang brüllte ein Herr durch das Schallrohr seiner Hände mit Stentorstimme: »Wir wollen den Dichter sehen!« Es war Alexanders Zigarrenlieferant. Maruschka war noch am Morgen bei ihm gewesen und hatte Lydias Rechnung bezahlt.

Dies stürmische Verlangen weckte den in den Herzen schlummernden Wunsch. Ja, wirklich, man wollte den Dichter sehen! Das Volk im Parkett, im zweiten und dritten Rang erließ immer lärmender die Aufforderung an den Dichter, sofort vor ihm zu erscheinen.

Endlich ging der Vorhang wieder auf, und als wäre er eine Zentnerlast, die fortzubewegen Männerkraft erforderte, erschien, von Lydia und drei Schauspielern gezogen, Alexander auf der Bühne.

Der Herr Hofrat Horn! Den alle im Publikum zum mindesten von der Straße her kannten. Man jubelte ihm zu. Man freute sich, daß es kein ›auswärtiger Dichter‹ war. Man triumphierte, daß man recht geraten hatte.

Der Vorhang ging auf und nieder. »Wie 'n Gummiball,« sagte jemand im zweiten Rang. Jetzt stand Alexander ganz allein und verneigte sich.

Noch einmal applaudierten der Fürst und seine Gäste, dann zogen sie sich zurück. Auch der erste Rang entleerte sich. Aber Alexanders Bekannte im Parkett blieben standhaft. Und was vom ›Rabatt-Sparverein‹ im Theater war, klatschte in die Hände, als sollten die Handschuhe zuschanden gehn.

»Nu wär mer'sch aber genug!« erklärte der Weinhändler Teichmann im zweiten Rang.

»Nä, nu grab noch emal!« erwiderte der Zigarrenhändler. Aber endlich mußte auch er sich zufrieden geben.

»Kinder, ich glaube, im Theater sind immer noch Leute, die Bravo schreien,« sagte Lydia lachend, als sie aus dem Schauspielereingang auf die Straße trat, wo Alexander und seine Frau auf sie warteten. »Nun, Anna, was sagst du zu deinem Dichtersmann? Wieviel Prozente von seinen Tantiemen hat er dir versprechen müssen?«

»Ich habe mir eine Rivierareise gewünscht. Aber –«

»Erst muß ich jetzt nach Berlin und dort die Annahme durchsetzen,« erklärte Alexander bestimmt.

»Du bist so herunter, du solltest dich wirklich erst erholen.«

»Erholen! Nie habe ich mich wohler gefühlt.«

»Kinder, nun bloß keine eheliche Szene! Ich habe rasenden Hunger. Mich gelüstet's nach mit Sklaven gefütterten Muränen. Zum mindesten aber muß ich ein paar Austern schlucken. Das Souper im ›Englischen Hof‹ ist doch bestellt?«

»Heute morgen schon.«

»Also, Kutscher, zum ›Englischen Hof‹!«, rief Lydia, die als Erste in den Wagen kletterte.

»Nein, halten Sie zuerst in der Ludwigstraße bei dem Obersten von Meyneburg!« befahl Alexander und fügte zur Erklärung für seine Schwägerin hinzu, daß ihr Vater heute morgen durch seinen Barbier erfahren habe, wer der vermutliche Verfasser des Stückes sei. Er habe darauf Anna nach allem ausgefragt und sie gebeten, ihn von dem Erfolg der Aufführung sogleich zu benachrichtigen. Darum wollte sie schnell für einige Minuten hinaufspringen.

»Weiß Papa, daß ich die Hauptrolle spiele?«

»Das habe ich ihm natürlich erzählt.«

Lydia lehnte sich schweigend ins Dunkel des Wagens zurück. Als der Schein einer Laterne auf ihr Gesicht fiel, bemerkte Alexander Tränen in ihren Augen.

Seit ihrer Rückkehr hatte sich Lydia wiederholt bei Anna nach ihrem Vater erkundigt, hatte aber nicht gewagt, ihn zu besuchen.

Den Gedanken an einen Umzug hatte der Oberst endgültig aufgegeben. Er lebte als freiwilliger Gefangener in seinen vier Wänden und wollte außer Anna niemand empfangen. Er paßte nicht mehr in die Gesellschaft von heute, erklärte er. Seine Freunde und Altersgenossen wären mit ihrer Zeit fortgeschritten und hätten sich den veränderten Anschauungen gefügt, er aber wäre zu ungelenk dazu. Er wollte nicht loben, was er früher getadelt, und verspotten, was er für heilig geachtet hätte.

Anna merkte fast bei jedem Besuch, wie der alte Herr bei diesem Sonderlingsleben mehr und mehr verfiel. Aber sie vermochte nicht, ihn zu bewegen, einen Arzt kommen zu lassen.

»Ich bin ganz gesund,« erwiderte er. »Mir fehlt nichts. Nur deine liehe Mutter, Ännchen. Und die werde ich hoffentlich bald wiedersehen.«

Um das, was in der Welt vor sich ging, schien er sich nicht mehr zu kümmern. Um so mehr hatte Anna seine Erregung über die bevorstehende Aufführung überrascht. Wie kam Alexander, der doch ein Mann in reifen Jahren war und eine angesehene Stellung bekleidete, dazu, sich auf solche Streiche einzulassen? Anna erwiderte begütigend, ein Stück zu schreiben wäre doch schließlich kein Verbrechen.

»Aber eine kapitale Dummheit!« erklärte der Oberst mit heftiger Bestimmtheit. Daß ihr braver, solider Mann kein Dichter sei, brauche er der Öffentlichkeit nicht erst zu beweisen. Zu diesem Schwabenstreich hätte niemand anders als Lydia ihn verführt. Und er warnte seine Tochter geradezu vor ihrer Schwester.

Anna hatte einen sonderbaren, unheimlichen Eindruck von dieser Unterredung, als wenn ihr Vater in seiner Einsamkeit Dinge ahnte, Dinge für möglich hielt, die sie selbst wie wahnsinnige Schreckgebilde von sich stieß. Aber dann beruhigte es sie wieder, daß er gleich darauf mit merkwürdiger Inkonsequenz zu erfahren verlangte, wie das Stück gefallen und wie Lydia gespielt habe.

Der Wagen hielt vor dem noch erleuchteten Hause des Obersten. Als Anna ausstieg, folgte Lydia ihr nach und sagte mit beherrschter, aber doch vor Erregung zitternder Stimme: »Da Papa noch auf ist, gehe ich gleich mit und sage ihm Guten Tag.«

»Lydia, um Gottes willen, nicht jetzt!« erklärte Anna erschrocken.

»Warum jetzt nicht so gut wie ein anderes Mal? Ich denke, Papa hat gerade genug geschmollt.«

»Dann laß mich wenigstens vorangehen und sagen, daß du kommst.«

»Meinetwegen.«

Alexander folgte den beiden Frauen. Auf Lydias Gesicht lag ein Ausdruck blasser Erregung. Sie schien zu allem entschlossen. Sie folgte der Schwester, welche die Tür öffnete, unmittelbar auf dem Fuß.

Der Oberst hatte mit aufgestützter Schläfe am Tisch gesessen. Seine vor kurzem noch straffe Gestalt war zusammengeschrumpft. Seit einiger Zeit wuchs er ins Grab, wie das Volk sagt. Eine hohe Petroleumlampe erhellte das Gesicht. Vor ihm lag aufgeschlagen das Buch ›Aus dem Nachlaß des Generals Ludwig von der Marwitz.‹

Als es klopfte, erhob er freundlich lächelnd den Kopf. Aber der wohlwollende Ausdruck verschwand von seinen Zügen beim Anblick Lydias. Sein Gesicht wurde fahl, dann dunkelrot.

War es nun von Lydia ein berechneter Überfall, war es eine unwillkürliche Fortsetzung theatralischer Gesten – sie stürzte sich ihrem Vater zu Füßen und rief, seine Hand ergreifend: »Verzeih mir, Papa!«

»Steh auf!«

»Nicht eher, als bist du mir verziehen hast.«

Da donnerte der alte Herr mit einer Kraft, die niemand ihm zugetraut hätte: »Laß die verdammte Theaterei und steh auf!«

Ungeschickt genug raffte Lydia sich auf, indem sie vor Erregung auf ihr Kleid trat. Alexander half ihr mit verstörter Miene. Anna suchte ihren Vater zu beruhigen. »Rege dich doch nicht so auf, Papa,« flüsterte sie. Lydia meint's ja gut.«

»Sie soll die Theaterei lassen. Da muß sie ihren alten Vater doch verdammt schlecht kennen, wenn sie das für angebracht hält. In diesem Zimmer beträgt man sich anständig und vernünftig. Da wird nicht auf den Knien gerutscht. Was willst du denn eigentlich?« wandte er sich an Lydia.

Indem er sich zu seiner alten Größe aufreckte, trat er drohend der Tochter entgegen, die ihre Haltung ganz verloren hatte und mit todblassem Gesicht, voll Wildheit, aber noch mehr in Furcht ihn anstarrte. »Meine Verzeihung? Was kann dir daran liegen? Alle Welt billigt ja dein Tun. Die Leute jubeln dir zu. Du hast die ganze Stadt für dich. Warum willst du gerade mich vor deinen Wagen spannen?«

»O Gott, Papa –«

»Du hast gelogen. Sage mir, wie du das wieder aus der Welt schaffen willst.«

»Ich habe nicht – ich habe meinetwegen auch gelogen. Ich habe dir verschwiegen, daß ich nicht verheiratet war, weil ich wußte, daß du mein Handeln nicht verstehen würdest.«

»So? Dann hast du dich wieder mal in mir geirrt. Ich hätte das nicht bloß verstanden, sondern ich habe es vorausgesehen. Ich habe oft mit Mama darüber gesprochen. Wenn ein junges Ding, wie du, leichtsinnig, ohne sittlichen Halt und ohne Schutz sich allein in der Welt herumtreibt, dann ist es ganz natürlich, daß ihr das passiert. Und wenn du damals zu uns gekommen wärst, wir hätten dich nicht verstoßen, wir hätten gar kein großes Geschrei um die Sache gemacht, sondern uns deiner angenommen, wie es unsere Pflicht war. Aber du hast dich in ein schönes Mäntelchen gehüllt. Hast uns Wunderdinge von deinem Mann erzählt, von deiner Erbschaft. Äh, pfui, daß du kein armes Luder bist, sondern eine reiche Frau – das macht die Sache so ekelhaft.«

»Das Geld, das ich habe, das –«

»Schweig! Ich weiß, was du sagen willst. Du hättest es dir erspart. Es mag ja wahr sein. Aber ich glaube es dir nicht mehr. Siehst du, was nützt alles Verzeihen, wenn der Glaube hin ist, wenn statt dessen der Argwohn lauert.«

Er trat noch dichter zu Lydia hin, die unwillkürlich an die Seite Alexanders zurückwich. Indem er die beiden mit seinen Blicken umklammerte, fuhr er in rauhem Flüsterton fort: »Jetzt bittest du mich um Verzeihung und spielst die Zerknirschte. Aber wer sagt mir, ob du nicht in deinem Herzen neue Sünde und neue Lüge angehäuft hast?!«

Zitternd, von der bleichen Furcht des bösen Gewissens umgraut, hatte Lydia doch noch den Mut, zu erwidern: »Ich versteh nicht, was du meinst.«

»Frag nicht, sonst sag ich Dinge, die uns allen leid tun könnten! – Siehst du, so weit hast du's gebracht, dein eigener Vater traut dir das Schlimmste zu.« – Er wandte sich ab und ließ sich auf den Stuhl am Tisch nieder, indem er sein Gesicht bedeckte.

Alle drei standen mit verstörten Mienen, bis Anna sich ihrem Vater näherte. Der Oberst ergriff ihre Hand und murmelte: »Sag ihnen, daß sie gehen sollen. Ich möchte allein sein. Du kannst ja bleiben, wenn du willst.«

Alexander und Lydia hatten verstanden und entfernten sich. Anna ging ihnen nach, indem sie bat, sie möchten vorfahren und den Wagen dann zurückschicken.

Die beiden saßen in dem engen Wagengrund, ohne doch einander zu berühren, jeder versunken in eine einsame Welt von Gedanken.

Endlich sagte Alexander: »Lydia, ich kann jetzt nicht länger schweigen. Ich muß Anna die Wahrheit gestehen.«

Sie wandte ihm langsam ihr Gesicht zu und sagte mit klangvoller, kühler Stimme: »Gestehen? Die Wahrheit gestehen? Ja, hast du denn nicht gehört, daß sie sie längst wissen?«

»Sie wissen –?«

»Ja, welchen andern Sinn hatten denn Papas Worte? Er war doch deutlich genug.«

Sie zog den Mantel fester um sich, während ihr Kopf sich wieder gegen die Kissen lehnte. Dann murmelte sie aus tiefem Nachdenken heraus: »Ein sonderbarer Mann, Papa. Ich habe ihn unterschätzt.«

Wieder fuhren sie dahin, in Schweigen, im Gefühl der Einsamkeit.

Erloschen waren in Alexander die grellen, wechselvollen Eindrücke, die der Abend gebracht. Nur ein unheimliches Gefühl von Unheil, das aus der Zukunft drohend heranwuchs, bedrückte ihn. Es verdichtete sich zu eisiger, schwarzer Nacht. Es zwängte ihm das Herz ab wie das Grauen, das einen im Traum aufschreien läßt.

Mit aller Gewalt suchte er sich diesem Zustand zu entreißen. Er starrte das kaum erkennbare Gesicht Lydias an, mit dem Vorsatz, sich ihr zu nähern. Leise berührte sein Mund ihre Lippen. Leise nur und nippend. Wie einen kaum spürbaren Strom genoß er die Wärme, das Lebensgefühl, das ihn durchrann. Er küßte sie wieder und wieder, und immer stärker empfand er diesen Zustrom eines köstlichen, berauschenden und in seiner Süßigkeit nicht zu überbietenden Gefühls. Mit Bewußtsein genoß er dieses Gefühl, mit Staunen, mit Scham, mit Schmerz, mit Grauen, dieses Gefühl, das stärker war als alles, was sonst an lebendigen Kräften sein Hirn und Herz erzeugten. Alles ist mir gleich, dachte er, wenn nur dies mir nicht genommen wird!

Einen kurzen Augenblick lang hatte er so etwas wie eine Vision. Er lag an einem Marterpfahl, wurde verhöhnt und mit Steinen geworfen. Aber seine Arme umklammerten Lydias Leib, sein Mund ruhte auf ihren Lippen. Und er fühlte nichts anderes als die Seligkeit ihrer Küsse.

»Dieses Frühstück entschuldigt manches,« sagte der Bibliothekassistent Lauenstein zu seinem Nachbar zur Linken, dem Maler Börner. »Wenn ich bedenke, daß diese herrlichen Trüffeln auf dem – na, sagen wir lieber Humus … seines Stücks gewachsen sind, so beginne ich mich mit den Poesien unseres Gastgebers zu befreunden. Ich gönne ihm, daß es allerorts gefällt. Aber ich fürchte, es sieht damit faul aus. In Dresden war es ein nur durch die Wohlerzogenheit des Publikums gelinderter Durchfall. In Berlin wird es einen Theaterskandal geben, passen Sie auf.«

»Schade! Der Hofrat hat mir eine Skizze abgekauft und versprochen, ein Bild zu kaufen, wenn die Berliner Premiere Erfolg hat.«

»Lassen Sie es ihm sofort zum halben Preis.«

»Ich werde mich hüten. Soviel ich weiß, soll die Meyn in Berlin die Hauptrolle spielen.«

»Das wäre allerdings seine Rettung. Denn die Meyn versteht Tote lebendig und – Lebendige tot zu machen. Hehe! – Ich bin neugierig, wie lange die Geschichte noch dauern wird.«

»Welche Geschichte?« fragte die Reinhold, seine Nachbarin zur Rechten.

»Aber, gnädiges Fräulein, tun Sie doch nicht so! Augenblicklich gibt es in Weyringen doch überhaupt nur eine Geschichte. – Ich möchte nur wissen, was in den drei Menschen vor sich geht: im Hofrat und in den beiden Schwestern. Sie, Börner, das wäre übrigens eine Sache für ein symbolistisches Bild: die Menschen und ihre Gedanken. Eine lustig tafelnde Gesellschaft und dahinter stehen die Gespenster ihres Innern.«

»Wenn ich das malte, so würde ich hinter der armen Frau Horn den Tod malen.«

»Ich hinter dem Hofrat. Oder hinter der Meyn. Oder hinter beiden. Ich fürchte, das nimmt ein böses Ende. Denn lange kann sie dem guten Mann doch nicht treu bleiben.«

»Wissen Sie, eigentlich ist es recht schlecht, wie Sie über den Gastgeber herziehen,« sagte die Reinhold, der plötzlich einfiel, daß sie eine abgelegte Toilette Lydias anhatte.

»Es ist nicht bloß schlecht, es ist direkt taktlos!« erwiderte Lauenstein. »Denn der Takt erfordert, daß man die Speisen erst verdaut hat, ehe man über den Gastgeber herfällt. Aber ich will Ihnen was verraten: die wirklich vornehmen Leute begnügen sich in diesen Dingen mit der Theorie und tun, was sie wollen. Übrigens, warum hat der Hofrat uns drei gerade ans Tischende gesetzt? Wenn wir da oben zwischen ein paar Exzellenzen säßen, so würden wir uns schon anders unterhalten.«

Das Frühstück war wirklich gut. Mit seiner Herstellung hatte Alexander auf Lydias Rat keinen Weyringer Koch betraut, sondern es von Borchardt in Berlin kommen lassen. Lydia hatte auch die Zusammensetzung der Speisenfolge besorgt und dabei ihrem Hang zur Verschwendung so die Zügel schießen lassen, daß Alexander vorsichtige Einwendungen machte. Solche üppigen Gastereien war man in seinem Hause nicht gewöhnt. Sie aber erklärte, als erfolgreicher Dramatiker müsse er anders auftreten als früher. Er hatte sich gefügt und auch Anna gegenüber das reiche Mahl durchgesetzt.

Die Auswahl der Weine stand der der Speisen nicht nach, die Zahl der Lohndiener war respekteinflößend. Für den Blumenschmuck waren dunkelrote Rosen verwandt, die in der Mitte der Tafel sich wie ein glühender Busch wölbten, die schlank und taufrisch sich aus Kristallkelchen in besonders erlesenen Exemplaren vor jedem Gast erhoben und sich wie ein purpurnes Band mit dem Dunkelgrün ihrer Blätter um die ganze lange Tafel wanden.

»Und man muß bedenken, daß wir erst Ende Februar haben,« sagte die Exzellenz von Giebichen. »Als ich gestern ein paar Rosen kaufte, habe ich für jede fünfundsiebzig Pfennig bezahlt. Sein Stück scheint also doch zu ziehen.« Natürlich sagte die Exzellenz das nicht laut, sondern ganz still zu ihrem eigenen Innern.

Es war wirklich eine prächtige Aufmachung, wie die bescheidenen Räume dieses Hauses sie noch nicht gesehen hatten. Aber diese selbst waren nicht mehr die alten. Erst vorhin hatten die Gäste das neu eingerichtete Arbeitszimmer des Hofrats bewundert, mit der schweren getäfelten Decke, deren Muster dem Bargello in Florenz entlehnt war, mit den von kostbaren Meßgewändern verhängten Büchergestellen, mit dem Wunderwerk von Schreibtisch aus eingelegtem Palisanderholz. Dieses Bauwerk von zwei zu vier Metern Größe stand frei in der Mitte des Zimmers, und davor erhob sich ein reichgeschnitzter Armstuhl mit vergoldeten Knäufen, in dem ein Kirchenfürst mit Stola, Mitra und Kirchenstab keine üble Figur gemacht hätte. Die Türen waren dick gepolstert, so daß kein Lärm von draußen in die heilige Stille dieses Gemachs dringen konnte, in dem der neuentdeckte Dichter die Eingebungen seines Genius erwartete.

Auch an der Auswahl dieser Einrichtung war Lydia beteiligt. Sie hatten sie bei einem Abstecher von Dresden in Berlin bestellt. Alexander hätte nach seinem Geschmack lieber prunklose, moderne Möbel gewählt. Lydia aber erklärte, den puritanischen modernen Stil zu hassen. Unmöglich könnten einem auf solchen Bürostühlen gute Einfälle kommen. Sie redete sich so in Eifer, daß Alexander auch hierin sein besseres Urteil hintansetzte.

Die Gesellschaft war sehr zahlreich. Obwohl die Veranstaltungen in diesem Monat einander jagten, hatten Horns dennoch nur wenig Absagen bekommen, so daß sie den Raum des Eßzimmers bis zum letzten Eckchen ausnützen mußten.

Lydia saß ihrem Schwager gegenüber, in der Mitte der Tafel. Sie trug eine Toilette aus hellbronzefarbenem Crêpe de Chine, darüber eine Jäckchentaille aus altem indischen Brokat mit einem kostbaren indischen Brustschild. So erschien sie unter den dunkeln wie eine helle Rose, wie die strahlendste und frischeste Blüte des Frühlings. Aber trotz ihres glänzenden Äußern, und obwohl sie die Genugtuung hatte, daß die Absicht gelungen war, sie als den leuchtenden Mittelpunkt dieser ganzen Festlichkeit erscheinen zu lassen, befand sie sich in unruhiger und verdrießlicher Laune.

Sie wußte nicht, was in ihrem Blute spukte, wohin diese prickelnde Unruhe ihrer Nerven strebte. Aber es passierte ihr öfter, daß ihr Blick aus dem Fenster schweifte, wo der Sturm in den Ästen der Linden und Ulmen tobte, wo er mit vollen Backen blies und gellend pfiff wie ein übermütiger Straßenjunge voll Luft an schlimmen Streichen.

Vorhin, als sie am Park entlang gefahren war, hatte sie die ersten Krokus und Schneeglöckchen hinter den Eisengittern der Gärten entdeckt, und von besonders sonnigen Stellen war der schwere Duft von Hyazinthen zu ihr hinübergeweht. Es lag etwas Tolles und Veränderungslustiges in der Luft, und etwas Tolles, Veränderungslustiges trieb auch in ihrem Blut.

Sie trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischdecke und ergötzte sich am blitzenden Feuer ihrer Brillanten. Dann warf sie einen Blick auf ihren Tischnachbar, den Oberhofmarschall des verstorbenen Fürsten Herrn von Baldern. Er war berühmt in diesem Kreis wegen seines untadeligen Hoftons, seiner Eleganz und seiner Dummheit. Diese letztere hinderte ihn nicht, ein Gönner von Kunst und Wissenschaft zu sein, und obwohl er es auf der Schule nur bis zur bescheidenen Höhe eines Sekundaners gebracht hatte, pflegte er in elegischen Stunden dennoch zu äußern, daß er bedaure, nicht wenigstens den Doktor gemacht zu haben.

Nachdem er die eisgekühlte Bouillon ausgetrunken hatte, steckte er sich eine Rose in das Knopfloch seines Cutaway und sagte, zu Lydia gewandt: »Charmant, dieser Duft! Ich komme gerade aus der Heimat de ces enfants de la côte d'azur. Wir sind erst gestern mit dem Riviera-Expreß in Frankfurt angekommen.«

»Exzellenz waren in Monte?«

»Gott behüte, meine gnädigste Frau. Je déteste le jeu. Übrigens hat Monte ganz seine guten Allüren verloren. Man sieht in den Spielsälen nur noch aventuriers und Deutsche. Einige Tage waren wir in Nizza, aber nur de passage. Die meiste Zeit waren wir in Beaulieu bei lieben Freunden, die dort eine Besitzung haben. Ein reizendes Schlößchen, bestes Louis Quinze.«

»Oh, wie hübsch!« erwiderte Lydia zerstreut. »Ich schwärme fürs Rokoko! Ich las jetzt gerade die Briefe der Pompadour. Was für eine reizende, frivole Zeit, dieses achtzehnte Jahrhundert!«

»Ich besitze auch einige sehr wertvolle Familienbriese aus dem achtzehnten Jahrhundert,« erwiderte Herr von Baldern stolz. »Befreiungskriege. Achtzehnhundertzwölf und -dreizehn. Wirklich eine charmante Zeit!«

»O ja,« pflichtete Lydia liebenswürdig bei. »Besonders achtzehnhundertzwölf.«

Und sie dachte bei sich: ›Vor einem halben Jahre hätte ich noch hell aufgelacht! Ich bin wirklich furchtbar anständig geworden. Erschreckend anständig. Wenn ich noch ein halbes Jahr weiter mit diesen Leuten verkehre, werde ich ebenso langweilig wie sie. Ich sollte fort! Aber wohin?‹ Sie dachte an Nizza. Sie hatte dort einmal einen lustigen Karneval verlebt mit einem Leutnant von den schweren Reitern. Er hatte später die Torheit begangen, sich mit seinem Jagdgewehr in ein wahrscheinlich weniger lustiges Jenseits zu befördern … Sie dachte an Sizilien. Ägypten – doch als ihr einfiel, daß Alexander sie begleiten würde, verdunkelte sich der Glanz dieser fernen Gegenden.

Sie wandte sich an ihren Nachbar zur Rechten, den persönlichen Adjutanten des Fürsten, Herrn von Werther. »Was machten Sie denn neulich so allein in der Ausstellung? Gewiß hatten Sie ein Rendezvous!«

»Aber meine gnädigste Frau!« versetzte dieser eifrig. »Ich studierte die Bilder. Mein Wort! Sie sind ja nicht mein Geschmack, aber höchst interessant, die Entwicklung der modernen Malerei zu verfolgen.« Und er stürzte sich mit Hingebung auf dieses Thema.

›Warum quatschen alle Leute nur immer über Kunst mit mir?‹ dachte Lydia und hatte nicht übel Lust, dem Oberleutnant zu sagen: »Reden Sie nicht solchen Unsinn! Seien Sie lieber lustig! Denken Sie, wir wären im chambre separée und Sie machten mir den Hof.‹ Aber sie sagte das nicht. Denn ihr Nachbar hätte sich doch nur erschrocken nach rechts und links umgeschaut. So verbreitete auch sie sich mit Hingebung über Malerei und behauptete, nur noch die französischen Neoimpressionisten goutieren zu können.

Von Zeit zu Zeit irrte Alexanders Blick von der Dame, mit der er sich unterhielt, zu ihr hinüber; und obwohl sie ihn kaum sekundenlang kreuzte, fühlte sie dennoch, wie sein Auge sie umklammerte.

Sie hatte ihn oft gebeten, sie im Beisein anderer nicht so anzustarren. Immer vergebens. Er hatte sich damit entschuldigt, daß gegen seine Macht sein Auge an ihr hinge. Aber früher war es ihr als ein Blick demütig anbetender Liebe erschienen, als ein Blick, wegen dessen sie ihm nicht böse sein konnte, weil er sie rührte. Jetzt aber lag so etwas wie der Triumph des glücklichen Besitzers darin. Als wäre sein Glück besiegelt, verbrieft und vom Standesamt beglaubigt. Und gerade jetzt! Jetzt besonders! Wo er am wenigsten Grund hatte, so stolz und sicher zu sein. Denn sie war abgekühlt von ihm. Sie konnte es nicht leugnen. Und es kostete sie Mühe, ihm das nicht zu zeigen. Ja, sie mußte sich geradezu Zwang antun, um ihn wie früher freundlich zu empfangen.

Fast jeden Tag kam er zu ihr, um ihr von seinen neuen Ideen zu erzählen und um mit ihr Maßnahmen zu beraten, die getroffen werden mußten, damit sein Stück an mehr Bühnen angenommen wurde. Das Urteil darüber hatte sich in Theaterkreisen bald gewandelt. Von allen Seiten war Lydia versichert worden, daß der Erfolg in Weyringen nur ihrer glänzenden Darstellung zu danken sei. Derselben Meinung war offenbar auch der Berliner Theaterdirektor, der ›Das leere Herz‹ nur unter der Bedingung angenommen hatte, daß sie während eines mehrwöchigen Gastspiels darin die Hauptrolle spielte. So war sie auch von dem dichterischen Talent Alexanders bedenklich abgekühlt und betrachtete es als ein nicht geringes Opfer, daß sie sich mit diesem Gastspiel für ihn in die Schanze schlug. Er aber war blind genug, sich allein das Verdienst zuzuschreiben. In stärkeren Worten als je sprach er von seiner Zukunft. Übrigens arbeitete er seit einiger Zeit auch wieder. An einer ›Brunhild‹. Er war über den ersten Akt noch nicht hinausgekommen, den er immer wieder neu entwarf und Lydia immer wieder vorlas. Eine harte Geduldsprobe!

Die Unterhaltung war anfangs nicht sehr animiert. Sie verlief in fast lauter Zwiegesprächen zwischen Menschen, die seit einem Monat sich fast täglich bei einem Frühstück oder einer Abendgesellschaft trafen. Als mit dem Fasan Sekt eingeschenkt wurde, wurden die Zungen etwas lebhafter. Dann hatte mit einmal Alexander das Wort. Da und dort stockte das Gespräch, und man hörte ihm zu, wie er seine Erlebnisse in Dresden zum besten gab. Mit gutem Humor beschrieb er einige komische Szenen, die bei den Proben passiert waren. Er hatte sich das ausdrucksvolle Sprechen und die umfangreichen Gesten der Schauspieler angewöhnt.

Jemand fragte Anna, ob sie der Aufführung in Dresden beigewohnt habe?

Sie hatte natürlich hingewollt, war aber im letzten Augenblick durch Mutterpflichten abgehalten worden. Die kleine Walpurga hatte, wahrscheinlich infolge verdorbenen Magens, etwas gefiebert. Darum hatte sie zu ihrem Bedauern Lydia allein fahren lassen müssen.

Niemand schien darüber zu erstaunen, wie eigentümlich die Rollen der beiden Schwestern vertauscht waren.

Lydia mußte von dem Verlauf der Vorstellung erzählen, Anna wurde über Walpurga ausgefragt.

Bis jetzt hatte man von der Hausfrau nicht mehr Notiz genommen, als die Höflichkeit erforderte. Im Gegensatz zu der Eleganz Lydias war sie heute besonders schlicht angezogen, als legte sie Wert darauf, so wenig wie möglich beachtet zu werden.

Nun war sie auf einmal Mittelpunkt der Unterhaltung. Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen glänzten in reiner Freude, ihre Sätze bekamen Leben, Witz und Anschaulichkeit, während sie von Walpurga berichtete, von diesem quecksilbrigen, kleinen Treppauf-Treppab, der das stille Haus mit Sonnenschein und Lachen erfüllte. Jeder Tag brachte ergötzliche Überraschungen und niedliche kleine Schelmenstreiche. Mit seiner Liebe zu allem Lebendigen hatte das Kind schon eine ganze Menagerie zusammengebracht, des Großvaters Teckel und ein Kätzchen von der Waschfrau, ihren eigenen Kanarienvogel und dazu noch eine Hecke japanischer Tanzmäuse. Mit rührender Regelmäßigkeit fragte es beinahe jeden Mittag: »Tante, dürfte ich mir wohl Annemarie oder Fritz oder Daisy einladen?« Das war dann aber natürlich schon geschehen. Und ebenso natürlich erschien zum Kaffee nicht die eine Freundin allein, sondern eine Schar von fünf oder sechs, die alle eingeladen zu sein behaupteten … Wenn abends das Kind in seinem Bett mit tiefen Atemzügen schlummerte, dann überfiel Anna in dieser plötzlichen Stille das traumhafte Gefühl, daß ein ganzes Völkchen lustiger Kobolde und Geister davongehuscht wäre.

Die Mütter lächelten gerührt. Eine Weile drehte sich die Unterhaltung nur um Kinder, bis diese Woge verlief und andere heranrollten, Hof- und Stadtklatsch, Toiletten, Frühjahrsreisen, was immer.

Aufmerksam hatte Lydia zugehört und etwas wie Verwunderung und Neid hatte sie beschlichen. Es war doch schließlich ihr Kind! Aber anderseits freute sie sich auch wieder, daß Anna darüber so glücklich war. War es nicht eine Art von Entschädigung für das, was Lydia ihr genommen hatte?

Wie ein Nachklang alter Gefühle regte sich in ihr von neuem eine warme, vertraute Zuneigung zur Schwester. Sie erinnerte sich an frühere gute Stunden. Obwohl Anna ganz anders war, hatte sie ihr doch nahegestanden wie wenige Menschen. Trotz ihrer gelegentlichen Heftigkeit war sie frei von aller Enge. Sie brach nie den Stab, sondern suchte auch die ihr fremdesten Regungen zu begreifen. Eine großherzige, seine Natur … Wie schade, daß ihr gutes Verhältnis zerstört war! Äußerlich bewegte ihr Verkehr sich ja in untadeligen Formen, aber sie gingen sich möglichst aus dem Weg, und nie mehr war zwischen ihnen von persönlichen Dingen die Rede … Ob das wohl immer so bleiben würde? Ob nie wieder eine Brücke hinüberführte? Vielleicht später einmal, wenn die Geschichte mit Alexander zu Ende und die Wunde verheilt war. ›Wäre sie nur erst aus!‹ dachte Lydia voll Ungeduld. ›Was läßt sich machen? Das beste wäre vielleicht doch, zu verreisen.‹

Ihr Blick glitt hinaus. Prächtig, wie der Sturm die Bäume zauste! Sie glaubte förmlich, das Krachen der morschen Äste zu vernehmen, und empfand jedesmal etwas wie Schadenfreude und Zerstörungslust dabei. Schön mußte es sein, jetzt da draußen zu marschieren, in einem alten Flausch, mit irgendeinem lustigen Gesellen am Arm, vom Regen umprasselt, vom Wind durchweht – und im Herzen doch, wie ein Scheinchen Frühlingssonne, die Ahnung einer neuen Liebe!

Wieder spürte Lydia fast wie den Schwaden einer Kerzenflamme einen grellen, heißen Blick auf ihrem Gesicht brennen. Der Sender dieses groben Geschosses war der Rittmeister von Gysberg, ein blauer Dragoner, mit krausem Schnurrbart, schwarzen Augen, hochgewachsen und breitschulterig. Eine echte Uniformschönheit. In Zivil pflegte er karierte und zu enge Anzüge zu tragen und sah wie ein Buchmacher aus.

Einige Male schon hatte der Rittmeister ihr diesen beutegierigen Blick zugeworfen, den Lydia stets mit hochmütiger Nichtachtung beantwortete. Immerhin, wenn sie ihn auch übersah, so mußte sie sich doch in Gedanken mit ihm beschäftigen.

Sie erinnerte sich noch, wie er als Junge von dreizehn, vierzehn Jahren nach dem Tode seines Vaters in der Stadt aufgetaucht war. Schon damals hatte man über seine Ähnlichkeit mit dem regierenden Fürsten allerhand gemunkelt. Was für eine Bewandtnis es auch mit seiner Geburt haben mochte, jedenfalls war er ein Wildling am edlen Stamm der Gysberg. Ein schlimmer Tunichtgut, der seiner eleganten Mama viel Ungemach bereitete und sie frühzeitig zwang, sich die Haare zu färben. Durch seine wilden Streiche der Gesprächsstoff vieler Kaffeegesellschaften, ein Schrecken der Mütter und Tanten und ein heimlicher Schwarm sämtlicher Backfische.

Einst war er in die Töchterschule eingedrungen und hatte aus Lydias Klasse eins der Mädchen herausgeholt, um auf einem bereitstehenden Wagen mit ihr durchzugehen. Diesen Streich hatte er im Kadettenkorps gebüßt. Als Leutnant hatte er die an seine Entwicklung geknüpften Erwartungen noch übertroffen. Nachdem er mehrmals rangiert worden war, verfügte er bald wieder über eine solche Schuldenlast, daß selbst die aus scheinbar unversiegbaren Quellen fließenden Zuschüsse nicht mehr ausreichten. So schwamm er denn über die große Pfütze. Es hieß, drüben wäre es ihm sehr schlecht gegangen, er hätte als gewöhnlicher Arbeiter sein Leben fristen müssen. Seine knochigen, eisenharten Hände sprachen nicht dagegen.

Nach einigen Jahren kehrte er wieder zurück, mit einer baumlangen, blauäugigen und phlegmatischen Frau, einer Deutschamerikanerin, auf deren Visitenkarten nicht vermerkt stand, was für eine Geborene sie sei. Zuerst erhob sich in der Gesellschaft ein stürmischer Einspruch gegen solchen Zuwachs, da aber der Hof das Paar in Gnaden aufnahm, machte man gute Miene zum bösen Spiel.

Hans von Gysberg war der alte geblieben, und bald erzählte sich die ganze Stadt wieder von seinen Abenteuern, die jedem andern den Hals gebrochen hätten. Bei ihm war man nun schon daran gewöhnt. Und auch seine Frau schien keine Versuche zu machen, ihren Gatten in diesem Punkt zu bekehren. Als eine wohlmeinende Bekannte sie bei einer Gelegenheit warnte, erwiderte sie mit beneidenswertem Phlegma nur: daß sie es für unpraktisch hielte, diese Albernheiten zu beachten. Oder sollte sie etwa Skandal machen? Um ihre angenehme Stellung bei Hof zu verlieren und als geschiedene Frau den Kontinent zu bereisen? Wenn eine Liebschaft ihr aber doch unbequem wurde, pflegte sie die Dame so oft zum Frühstück, zum Tee, zum Mittag- und Abendessen einzuladen, bis sie ihrem veränderungslustigen Gatten zum Ekel wurde.

Als man nach Tisch in kleinen Gruppen umherstand, merkte Lydia, wie Herr von Gysberg sich an sie heranzupürschen suchte. Nun war es schon so etwas wie ein heimliches Spiel zwischen ihnen beiden, daß sie ihm absichtlich aus dem Wege ging, daß aber doch hin und wieder ihre Augen zu ihm hinüberirrten mit leisem Spott.

Da machte er schließlich einen Frontangriffs, indem er über die Köpfe einiger Damen weg mit seinem langen Arm Lydia seine Zigarettendose reichte. Sie erwiderte, daß sie nicht rauche.

Er schob sich mehr drängelnd als schlängelnd weiter vor. »Tausendmal um Verzeihung, Gräfin! – Bitte gehorsamst zu entschuldigen, gnädiges Fräulein! Schleppe hoffentlich noch ganz. – Tut mir kolossal leid, daß ich die gewiß riesig geistreiche Unterhaltung störe. Aber ich muß der gnädigen Frau meine Bewunderung ausdrücken. Fabelhafte Leistung! Einfach fabelhaft! So was macht Ihnen die Sarah Bernhard nicht nach.«

Nun stand er breitschulterig vor ihr, mit trotzigem Humor, ganz so wie er damals die aufgeregte Lehrerin beiseite geschoben und sich den Backfisch herausgeholt hatte. »Also wirklich ganz fabelhaft!«

Lydia sah ihn an und gefiel sich darin, zu schweigen.

»Gnädige Frau haben das gewiß schon bis zur Erschlaffung gehört?«

Lydia nickte leicht und fragte: »Welches Stück meinen Sie überhaupt?«

»Selbstverständlich das von unserm Hausherrn! Werde doch sonst in kein klassisches Stück gehn! Stücke von alten Griechen und Römern sehe ich mir nur an, wenn Offenbach Musik dazu macht.«

»Da haben Sie leider nicht oft Gelegenheit, mich zu sehen.«

»Ja, leider! Das ist aber auch das einzig Bedauerliche. Bin sonst fabelhafter Verehrer Ihrer Kunst. Was nun das Stück angeht: ›Das leere Herz‹ … Am Titel ist ja nischt auszusetzen. Wenigstens kann man sich was dabei denken. Als ich den Theaterzettel sah, habe ich gleich zu meiner Frau gesagt: ›Du, die Marcia ist ein Luder.‹«

»Warum denn?« fragte Lydia lachend.

»Erstens, weil das Stück ›Das leere Herz‹ heißt. Und zweitens, weil Sie sie spielen.«

»Wie liebenswürdig! Sie besitzen wirklich ein Talent, einem Komplimente zu sagen, Herr von Gysberg –«

»Pardon, meine Gnädigste, sollte aber ein Kompliment sein. Drücke mich nur ungeschickt aus. Meine natürlich ein angenehmes Luder, eine fabelhaft amüsante Bestie. Sie ist doch die einzig anständige Partie in dem Stück. Das heißt, Pardon, wollte nichts gegen das Stück sagen. Literarisch genommen mag es ja ungeheuer wertvoll sein. Aber von meinem Outsider-Standpunkt aus, so … so vom gesunden Menschenverstand aus gesehen, ist dieser … dieser … wie heißt der Kerl? … Fridolin … das ist doch ein jämmerlicher Schmachtlappen. Das soll ein Germane sein? Nee, meine Gnädigste, da habe ich von unsern Urahnen denn doch eine etwas bessere Meinung. Das waren keine solchen Schlappiers. Die hätten die Marcia ganz anders klein gekriegt.«

»Was hätten die nach Ihrer Meinung denn gemacht?«

»Was man mit einer störrischen Bestie eben macht: 'n gehöriger Ruck in die Fresse, Schenkel an den Bauch, und 'n paar ordentliche Sporen – da läuft sie von allein Galopp!«

Lydia lachte. »So macht man's mit 'nem Gaul! Aber Sie vergessen, wenn es sich um Mann und Weib handelt, dann ist es nicht immer der Mann, der … der den Zügel in der Hand hält.«

»Haha, Zügel in der Hand hält, ist famos ausgedrückt! Dachte, es würde ganz was anderes kommen. Ja, ja, aber Sie haben recht, so was kommt vor. Habe das selbst xmal erlebt, daß die Männer sich unterkriegen ließen von den Weibern. Waren aber lauter Schlappschwänze.«

»Ihnen könnte das nicht passieren?«

»Nee, weiß Gott! Ist mir noch nie passiert! Wäre neugierig auf die Frau, die das fertig brächte. – Möchte es beinah mal probieren. Wäre wirklich ungeheuer neugierig, das zu erleben.«

»Darf man fragen, Herr Rittmeister, was das für ein Erlebnis ist, auf das Sie so neugierig sind?« mischte Alexander sich plötzlich ins Gespräch.

»Wir sprachen von Pferden,« erwiderte Lydia kurz.

»Ach so –« sagte Alexander und nahm eine hochmütig gelangweilte Miene an.

»Nicht wahr, Herr von Gysberg, darum handelte es sich doch?«

»Ja, ganz recht, meine Gnädigste,« pflichtete der Rittmeister bei. »Ein ganz kavalleristisches Thema, was den Herrn Hofrat sicher nicht interessiert. Übrigens, meine Gnädigste, Sie sind doch sicher eine brillante Reiterin?«

»Wenigstens eine leidenschaftliche Reiterin.«

»Ach, Verzeihung, Lydia –« sagte Alexander. »Anna möchte dir gern –«

»Was möchte Anna gern?« fragte Lydia, die ihm gefolgt war, nachdem der Rittmeister sich mit einer Verbeugung verabschiedet hatte.

»Nichts … nur … ihr unterhieltet euch ja außerordentlich animiert.«

»Das taten wir.«

»Es war geradezu auffallend.«

»So? Hör mal, du bist doch nicht etwa gekommen, um uns auseinanderzubringen?«

»Doch! Ich kann's nicht mit ansehen, daß du dich mit diesem Gesellen kompromittierst. Du bist die einzige Dame hier, alle andern haben sich schon in den Salon zurückgezogen.«

Lydia blickte sich um. Der Rittmeister stand jetzt in einem Kreis anderer Herren und zündete sich eben eine dicke Zigarre an. Er warf ihr einen Blick spitzbübischen Einverständnisses zu.

»Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit,« wandte Lydia sich freundlich an Alexander. »Aber der einzige Herr, der mich kompromittieren kann, bist doch wohl du – namentlich wenn du so ein Gesicht schneidest.« Dabei ging sie an ihm vorbei in den Salon auf die verlassen dasitzende Frau von Gysberg zu, mit der sie eine englische Unterhaltung begann.

Es dauerte nicht lange, so gesellte Herr von Gysberg sich den beiden zu. Indem er das Gespräch da, wo es unterbrochen war, wieder anknüpfte, fragte er Lydia, ob er nicht gelegentlich mit ihr ausreiten dürfe.

Lydia erwiderte, daß sie kein Pferd habe.

»Das trifft sich ja brillant!« sagte der Rittmeister, indem er seine Frau mit einem Tierbändigerblick fixierte. »Florence darf vorläufig nicht ausreiten. Der Arzt hat's ihr verboten. Das sagtest du doch gestern, Liebling?«

»Yes. I don't feel quite well. You may have my horse, if you want it, Mrs. Meyn.«

»Also sehen Sie, meine Gnädigste, Sie tun meiner Frau direkt einen Gefallen. Wann darf ich Sie morgen abholen?«

»Paßt es Ihnen um elf?«

»Ausgezeichnet!«

»Aber ich komme doch wohl besser zu Ihnen.«

»Wie Sie befehlen.«

»Und hinterher machen Sie mir das Vergnügen, bei uns zu frühstücken,« sagte Frau von Gysberg in ihrem breiten Akzent.

»Schrecklich gern!« erwiderte Lydia. »Aber um halb zwei habe ich Probe. Da wird es schlecht gehen.«

»Oh, dann kommen Sie nach der Probe zum Tee.«

»Ich bin da leider schon versagt. Und abends muß ich spielen. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«

»Oh, wie schade.«

»Aber ein andermal mit dem größten Vergnügen!«

»Kommen Sie nur recht oft. Wann es Ihnen paßt. Ich freue mich immer, Sie zu sehen, Mrs. Meyn.«

Als die Gäste sich verabschiedeten, sagte Lydia zu Alexander: »Ach, höre, du wolltest mich doch morgen gegen elf besuchen. Es geht leider nicht. Ich habe mich mit Herrn von Gysberg zu einer Reitpartie verabredet. – Adieu, Ännchen. Tausend Dank! Es war reizend bei euch.«

Und ehe die Schwester sich's versah, küßte Lydia sie auf beide Wangen.

Bisher war das Schicksal gegen Lydia mit blinder Nachsicht verfahren. Aus allen Abenteuern war sie mit heiler Haut entschlüpft. Aber bisher hatte sich auch bei ihren Liebeleien Leichtsinn stets mit Leichtsinn gepaart. Nun jedoch war sie zum erstenmal eines Menschen Schicksal geworden. Hatte ihm sein vergangenes Leben flach und verfehlt erscheinen lassen und ihm goldene Zukunftsschlösser versprochen.

Ihren frühern Freunden hatte sie sich angepaßt, ohne doch ihr eigentliches Wesen aufzugeben, ohne sich besser zu machen als sie war. Aber Alexander gegenüber hatte sie – absichtslos zuerst, dann später mit Bewußtsein – geheuchelt. Es hatte ihr gefallen, dem Idealbild, das er sich auf dem Krankenlager von ihr gemacht hatte, zu entsprechen und von ihm in die verklärten Höhen jener Gestalten, die sie auf der Bühne verkörperte, erhoben zu werden.

Aber die Luft in diesen Höhen war auf die Dauer zu rein für ihre höchst irdische Natur. Längst hatte sie sich im geheimen nach Abwechslung gesehnt. Da tauchte gerade im rechten Augenblick der Rittmeister von Gysberg auf, in allem das Gegenteil von Alexander, ganz Sinnen- und Triebmensch, wie er war. Mit der Kraft der Wahlverwandtschaft flog ihr Wünschen ihm entgegen.

Von dem Tage an wurde ihr die Gegenwart Alexanders noch lästiger. Früher hatte er sie unbefriedigt gelassen, jetzt störte er sie geradezu in der Entfaltung ihres neuen Seins. Dieser Mahner an einen geistigen Zustand, den sie überwunden hatte, wirkte auf sie nicht viel anders als ein unmodernes Kleid, das man sie gezwungen hätte, anzuziehen. Der beharrliche Gläubige wurde zum quälendsten Gläubiger, indem er nicht aufhörte, sie an Versprechungen zu erinnern, von deren Unerfüllbarkeit sie längst überzeugt war.

Zuerst verfiel sie auf das allereinfachste Mittel, um ihn loszuwerden. Sie suchte ihn durch Unausstehlichkeit zu verjagen. Sie, eine Meisterin in der Kunst zu gefallen, übte jetzt die entgegengesetzte mit nicht geringem Genie. Sie ließ ihn stundenlang warten, und wenn sie endlich erschien, so peinigte sie ihn mit Kopfschmerzen, Erkältungen, allen erdenklichen Leiden. Oft genug empfing sie ihn auch mit ungekämmten Haaren, in vernachlässigter Toilette, in einem Aufzug, wie sie sich sonst nur vor Maruschka zeigte. Wenn er ihr vorlas, gähnte sie, schwieg oder gab Antworten, die ihr völliges Unverständnis verrieten. Wenn er sich mit ihr unterhielt, griff sie irgendein harmloses Wort auf, verdrehte es und machte daraus den Anlaß zu hysterischen Szenen.

Aber alle diese Mittel verfingen bei ihm nicht. Es war, als wäre er mit Blindheit geschlagen, und obwohl die kurzen Stunden ihres Beisammenseins geradezu eine Hölle für ihn waren, selbst in dieser Hölle blieben seine Liebe und sein Glaube unversehrt. Längst hatte Alexander das siegverblendete, überhebliche Wesen abgelegt. Ohne sich etwas zu vergeben, ohne Lydias Unarten gegenüber ganz zu schweigen, war er zu ihr doch von der grenzenlosen Nachsicht und Güte des wahrhaft Liebenden.

Diese stille Überlegenheit, die Beleidigungen nicht hört, Heftigkeit mit Ruhe erwidert und allem die Spitze abzubrechen sucht, war es, die Lydia immer wieder reizte, sie aber auch wieder rührte und vor dem Äußersten zurückschrecken ließ.

Alexander trug sein Martyrium so heldenhaft, weil er fühlte, daß seine Liebe den Ankergrund seines Daseins ausmachte. Wenn er Lydia verlor, was blieb ihm dann noch? Hatte sie ihm nicht den Weg in ein leuchtenderes, blühenderes Leben gezeigt? Hatte sie ihm nicht den Glauben an seine Künstlerkraft geschenkt und gestärkt? Alles, was unter der Sonne dieser Liebe gewachsen und im Keim war, mußte verdorren, wenn das Gestirn seinen Glanz verlor. Darum kämpfte er für diese Liebe mit dem verzweifelten Optimismus eines Kaufmanns, den der Gedanke an den Fortbestand seines Hauses gegen alles andere blind macht, und der sich durch unmögliche Wechselmanipulationen noch zu halten sucht, während die Börse schon seinen bevorstehenden Bankrott bespricht.

Den wahren Sinn von Lydias Benehmen wollte Alexander einfach nicht verstehen. Er redete sich ein, es handle sich um nervöse Krisen und Verstimmungen, wie sie bei einer Schauspielerin unvermeidlich sind. Wenn nur er nicht die Geduld verlor, wenn nur er sich nicht zu einer heftigen Entgegnung hinreißen ließ, so würde diese krankhafte Reizbarkeit schon vorübergehen, und das schöne Verhältnis von einst würde wiederkehren. Und ein gutes Wort, ein freundliches Lächeln, zu dem Lydia sich beim Abschied zwang, genügten, damit er hoffnungsvoll ihr Haus verließ, in dem er stundenlange Qualen ausgestanden hatte.

Eines Morgens aber wies Maruschka ihn wieder ab, weil die gnädige Frau an Migräne litt. Traurig ging er in sein Museum. Aber es litt ihn nicht in dem überheizten, von Terpentingeruch erfüllten Raum. Er mußte ins Freie.

Draußen schwammen am blauen Frühlingshimmel leichte Wölkchen wie weiße Blütenbüschel, die in die Ferne verweht waren. Noch standen die Bäume des Parks in winterlicher Kahlheit. Aber ein Flimmern in den braunen Knospen verriet das sich regende Leben. Und da und dort prangte ein Busch schon im ersten Grün. Ein kosender leichter Wind umspielte Alexander und lockerte ein wenig den schweren Block von Traurigkeit in seiner Brust.

Da gewahrte er auf der Kastanienallee, die den Park durchschnitt, einen Herrn und eine Dame zu Pferde, denen ein Reitknecht folgte. Der Reiter in blauer Dragoneruniform auf einem Rappen war offenbar Herr von Gysberg. Die Dame aber – es konnte doch nur seine Frau sein! Er wollte nicht glauben, daß –. Er täuschte sich! Mit hastigen Schritten eilte er näher und ließ, hinter einem Gebüsch versteckt, die beiden an sich vorüber.

Es war Lydia. Sie ritt einen Vollblutfuchs mit vorstehenden feurigen Augen, der erregt mit seinem langen Fasanenschweif schlug und unter ihr tänzelte, als wollte er jeden Augenblick ausbrechen. Aber sie hielt ihn sicher in der Hand. Das schwarze, sonnbeglänzte Reitkleid umschloß sie prall. Aus ihrem leicht geröteten Gesicht schimmerten jetzt, als sie lachte, ihre weißen Zähne, und ihre Augen blitzten voll Lebenslust. Ein Strom von Gesundheit und Wohlgefühl durchspielte ihren Körper und verriet sich in dem Beben ihrer straff vorspringenden Büste und in den elastischen Bewegungen ihres Rückens.

Als die Reiter sich entfernt hatten, ging auch Alexander weiter. Taumelnd, mit todblassem Gesicht schritt er wie im Leeren, bis der zurückgeebbte Strom seines Bluts wieder kreiste und seine Wellen ihm gegen das Gehirn preßte, daß er alles rot sah.

Endlich, nachdem er lange umhergehastet war, ließ er sich auf einer Bank nieder, und dort gelang es ihm, sich langsam zu beruhigen. Was war denn Schlimmes geschehen? Lydia hatte Kopfschmerzen gehabt, die nun vergangen waren. Oder sie hatte trotz ihrer Schmerzen die Verabredung einhalten wollen. Wie kam er dazu, eifersüchtig zu sein? Der Reitknecht folgte den beiden ja. Sie waren nicht einen Augenblick unbeobachtet. Ritten nicht auch andere Damen der Gesellschaft ohne ihre Männer in Begleitung befreundeter Kavaliere aus, ohne daß jemand sich daran stieß? Warum sollte dasselbe nicht Lydia erlaubt sein?

Aber am Abend, und es war just ein Abend, an dem Lydia nicht auftrat, kamen die bösartigen Schlangen von neuem herangezüngelt und zerfleischten sein Herz. Da begab er sich nach ihrer Wohnung und starrte von der gegenüberliegenden Straßenseite aus hinauf. Nur die beiden Fenster des Musikzimmers waren erleuchtet. Auch glaubte er Lydias Spiel zu vernehmen. Aber huschten nicht Schatten hinter den dichten Vorhängen …? Stahl sich nicht die Gestalt eines Mannes in die Tür …? Jedesmal merkte er, daß er sich getäuscht hatte, und begab sich endlich nach Hause.

Noch oft führte die Versuchung ihn auf diesen Weg, aber er gab ihr nicht nach. Denn das wußte er, wenn er das tat, so versank er in schlammige, bodenlose Tiefen, so wurde sein Inneres von Eifersucht, Furcht und Argwohn überwuchert. Für ihn gab es nur noch eins: durch ein neues Werk, durch neuen Ruhm Lydias Liebe wiederzugewinnen.

Da der Aufenthalt in seinem Prunkgemach von Arbeitszimmer ihm unerträglich geworden war, hatte er sich ein kleines Zimmer im ersten Stock eingerichtet. In dem Wahn, durch künstliche Mittel seine Phantasie aufstacheln zu können, arbeitete er vorzugsweise nachts. Gleich nach dem Abendessen zog er sich zurück, so daß seine Frau ihn nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht bekam, denn tagsüber war er im Museum. Oft vernahm er durch die nächtliche Stille das Schlagen der Uhren: der silbernen, hurtigen Salonuhr unter ihm und draußen der dumpfdröhnenden Kirchturmsuhr. Und wenn die eine mit schweren Schlägen ihn mahnte, daß ein neuer Bruchteil seiner Lebensfrist unwiederbringlich dahin sei, die andere schien den Einsamen höhnisch zu verlachen: der wachte, wachte, wachte und nicht schaffte.

Denn es wollte nicht vorwärts gehen mit seiner Arbeit. Seitdem Lydias Enthusiasmus ihn nicht mehr anfeuerte, lastete die alte Dumpfheit wieder auf ihm. Was ihm vorschwebte, glich einer Sonne in dicken Winternebeln. Nur der ohnmächtige Wunsch wühlte und hielt ihn wach. Aber wenn er etwas niederschrieb, so erfüllte es ihn mit Ekel und Verzweiflung.

In mancher Nacht hörte ihn seine Frau ruhelos auf- und abwandern und abgebrochene Sätze sagen. Dann setzte sie sich horchend aufrecht im Bett und machte sich ihre Gedanken. Kummervolle und bange Gedanken, denn sie las aus seinem unsteten, hoffnungslosen Ausdruck, wenn er sich beim Morgengrauen niederlegte, wie es um ihn stand.

Eines Nachts aber erschreckte er sie durch sein lautes Stöhnen so, daß sie es nicht mehr aushielt und in sein Zimmer schlich. Er hatte die Fäuste gegen die Augen gepreßt. Als er endlich den Kopf erhob, sah er einen Augenblick die vor ihm Stehende entgeistert an, sprang dann auf, ergriff Annas Hand und flüsterte: »Ich glaube, ich werde noch verrückt.«

Sie lehnte sich an ihn, ohne ein Wort, ganz dicht und fest, indem sie ihren freien Arm um seinen Rücken schlang, als wollte sie durch diese innige Berührung seiner wieder teilhaftig werden. Seit Wochen waren die beiden fremd nebeneinander hergegangen, festgeschmiedet an sein böses Gewissen er, sie an ihren Stolz. Nun aber war es, als ob ihre Herzen wieder in Einklang schlügen, als wenn ihre Seelen auf geheimnisvollen, unsichtbaren Wegen sich eine Verbindung schafften und ineinanderströmten mit neuer Liebe und neuem Vertrauen. Er fühlte, wie die furchtbaren Ringe um seine Brust sich lösten und die Angst von ihm abfiel.

Indem er sich ermannte, sagte er, auf sein Manuskript zeigend: »Ich sitze da an einer Stelle, wo ich nicht weiter kann. Es ist zum Wahnsinnigwerden. Dreimal habe ich die Szene schon geschrieben –«

»Lies doch mal vor.« – Sie nahm neben dem Schreibtisch Platz, während sie den schwarzen Seidenmantel, in den sie sich gehüllt hatte, fester um sich wickelte.

Es war die Szene, wie der von Brunhild mißhandelte Gunther den Siegfried um seine Hilfe bittet. Die leidenschaftliche Liebe des Königs, seine Ohnmacht, seine Verzweiflung hatten einen ergreifend wahren Ausdruck gefunden.

Nie zuvor war Alexander so nahe daran gewesen, Dichter zu sein und Erlebtes lebendig zu gestalten wie in dieser Szene. Nachdem er geendet hatte, rannen Anna große Tranen von den Backen. Sie drückte ihm die Hand, bedeckte sie mit Küssen, während sie Worte wirklicher Ergriffenheit stammelte.

Alexander fühlte sich von neuen Hoffnungsströmen durchronnen. Er schilderte Anna den weitern Verlauf des Stücks. Die größten Schwierigkeiten standen noch bevor. Aber nun hatte er wieder Mut gefaßt und glaubte sich fähig, sie zu meistern. Wenn nur diese Schwermut nicht auf ihn drückte, dieser dunkle Gram, der jeden starken Gedanken und jedes leuchtende Bild gleich wieder auslöschte!

»Du bist überreizt, Alex, du solltest erst zur Ruhe kommen. Das beste wäre, du reistest eine Weile fort.«

»Ja, reisen! Aber es geht nicht.«

Und in dem Gefühl, daß in diesem Augenblick Wahrheit zwischen ihnen sein müsse, sah er sie an und sagte leise: »Du weißt ja, warum ich nicht kann.«

»Ja, ich weiß – wer dich hier festhält und die Ursache deines Kummers ist.«

»Du weißt es« – flüsterte er – »und machst mir keine Vorwürfe?«

Sie schüttelte nur den Kopf. »Du hast ja noch mehr gelitten als ich.«

Und wenn sie auch den Schmerz vieler Nächte zurückhalten wollte, ihre Lippen zuckten doch von dem angesammelten Weh. und von der Nase zum Mund und um dessen Winkel schnitten sich Falten und Furchen, tiefe, schartige Rinnen, wie sie der Schmerz nur in langer, mühseliger, stetig wiederholender Arbeit gräbt.

Alexander sah in diesem Augenblick zum ersten Male, was sie gelitten hatte, wie sie in den letzten Wochen gealtert war, wie die blühende Rundung ihrer Wangen abgezehrt und der Glanz ihrer Augen unter den Tränen erloschen war. Erschüttert von dem blitzschnellen ahnungsvollen Gefühl dieses Leids, das ihre Liebe nicht hatte töten können, das nicht einen bösen Gedanken hatte aufkommen lassen, kniete er vor ihr nieder, küßte ihre Hände und stammelte, wie tief, tief er unter ihr stehe, er, der in blindem Egoismus nur sich, seine Leidenschaft, sein Glück und seine Qual empfunden hatte. Aber sie beschwor ihn, nicht so zu reden, sie erhob seinen Kopf, drückte ihre Lippen auf seinen Mund und sah ihm lächelnd in die Augen: »Wenn du mir nur nah bist und mit mir fühlst! Wenn du nur nicht so neben mir hergehst in dieser stummen Feindseligkeit! Das war ja das Schlimmste, daß ich dich so ganz verloren hatte.«

»Nein, ich kann dich nicht verlieren. Nie, Anna! Etwas verbindet uns, das ist stärker als jedes andere Band.«

Blaß und verhärmt, wie sie war, in dieser halb grotesken Verfassung, in der sich ein Mensch befindet, der hastig aus dem Bett springt und sich das erste beste Kleidungsstück umwirft, strahlte doch so viel Güte, eine so hohe und reine Gesinnung von ihr aus, daß dagegen in Alexander selbst Lydias Bild für einen Augenblick verblaßte.

Es war, als wenn die zahllosen guten Stunden der frühern Jahre, die Stunden, in denen er dankbar empfunden hatte, wie ihre gütige Art ihm Trost und Hilfe gebracht, wie ihre mütterliche Fürsorge ihm zahllose kleine Freuden gespendet, wie ihre überlegene Klarheit ihn gefestigt und gefördert hatte, es war, als wenn all diese Stunden, vom Licht der Erinnerung entzündet, jetzt sein Herz durchglühten. Er fühlte, wie tief sie in ihm wurzelte und er in ihr. Nein, etwas von seinem Besten hing an ihr, war von ihr unzertrennlich, er liebte sie mit einer Liebe, die unvergleichbar mit der andern, nicht schwächer als diese war.

Während Anna ihn umschlungen hielt, träumte er noch einmal den Traum so vieler schwacher Männer, die das Unmögliche hoffen, daß Wasser und Feuer sich verbinden, die glauben, Freundschaft herstellen zu können zwischen der Gattin und der Geliebten. Er verlor sich in der Vorstellung, daß Anna sich mit Lydia versöhnte und daß diese unter dem Einfluß der Schwester ihr unstetes, launenhaftes Wesen aufgäbe.

Er gab dieser trügerischen Hoffnung nicht Ausdruck, aber sie beschäftigte ihn noch, als er mit seiner Frau schlafen gegangen war, und sie verschaffte ihm zum ersten Male nach langer Zeit wieder einen leichten, traumlosen Schlummer.

 


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