Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Als Anna bei ihrer Schwester anlangte, war diese gerade von der Probe gekommen. Erschöpft lag sie auf dem Sofa und rauchte eine Zigarette. Ohne Umschweife fragte Anna:

»Ist das wahr? Die Leute behaupten, du wärst gar nicht verheiratet gewesen?«

Da richtete Lydia sich auf und sagte mit dem harmlosesten Lächeln:

»Aber Kindchen, wußtest du das nicht längst?«

Das war selbst für die sanftmütige Anna zu viel. Sie ging mit geballten Händen auf die Schwester los.

»Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, daß du nicht hierher kämst. Aber du hast uns alle einfach belogen.«

»Willst du mir etwa Moral pauken?«

»Wenn ich nur hoffen könnte, daß es etwas nützt, so würde ich auch das versuchen. Denn du tust mir wirklich leid, Lydia. Du weißt ja nicht, wie du dich herunterbringst. Äußerlich, da pflegst du dich, duldest kein Fleckchen an dir, und innerlich … Aber lassen wir die Moral aus dem Spiel. Nur – warum bist du denn so inkonsequent? Wenn man den Geboten der guten Gesellschaft ins Gesicht schlägt, dann darf man da auch nicht verkehren wollen.«

»Ach Gott, wie ich diese Gesellschaft hasse! Wie ich sie verachte!« tobte Lydia, die aufgesprungen war. »Was ist denn diese Gesellschaft? Ein Haufen von Schlafmützen und Heuchlern! Und vor denen soll ich mich ducken? Nach deren verschimmeltem Moralkodex soll ich mich richten? Worin besteht denn mein Verbrechen? Hätte ich mich trauen und dann scheiden lassen – dann wäre alles gut. Wegen eines Blatts Papier ein solcher Aufruhr! Es ist ja eine Affenkomödie, deine ganze gute Gesellschaft.«

»Und das sagst du, die es sich nie vergeben würde, wenn sie auf einer Soiree, wo man im Dekolleté erscheint, ein hochgeschlossenes Kleid angezogen hätte. – Phrasen, Lydia! Alberne Phrasen, von Leuten erfunden, die die gute Gesellschaft aus irgendeinem Grunde entfernt hat. – Aber schließlich, auch darum handelt es sich nicht. Es handelt sich jetzt nur um Papa. Er hat deine Geschichte aus anderer Leute Mund erfahren und – will nun fort von hier – für immer fortziehn.«

»Was? Papa will fort?« schrie Lydia händeringend, in jähem Stimmungsumschlag. »Das leide ich einfach nicht! Ich muß hin zu ihm! Ich muß auf den Knien um Verzeihung bitten.«

»Jetzt nicht, das macht alles nur schlimmer.«

»Aber was wird nun?«

»Ich weiß nicht. – Ach, Lydia, wärst du nur immer du selbst! Aber das ist es ja eben« – fuhr Anna wie im Selbstgespräch fort – »du hast kein Selbst. Es ist deine Aufgabe in deiner Kunst – und deine Tragik im Leben, stets eine andere sein zu müssen.«

›Deine Tragik,‹ dachte sie bitter, ›nein, die unsere. Denn woran sollen wir uns halten?‹

»Ehe Papa von hier fortgeht, räume ich lieber das Feld. Ich werde den Intendanten sofort um meine Entlassung bitten.«

»Überleg doch, ob es auch das Richtige ist.«

Aber schon hatte Lydia die Schreibmappe aufgeklappt, mit einer energischen Handbewegung einen Haufen hervorquellender Briefe beiseite gestoßen und begann, ohne sich weiter zu besinnen, in ihrer steilen, großen Handschrift zu schreiben.

Während Anna diesem Ungestüm zusah, fiel ihr Blick auf einen der zerstreuten Umschläge, und sie erblaßte. Ihr Herzschlag setzte aus. Mit einer Stimme, der man anhörte, daß sie von eiskalten Lippen kam, fragte sie: »Was ist das für ein Brief?«

»Welcher? Ach, gleichgültiges Zeug!«

Ein Schimmer von Rot glitt mit einem verlegenen Lächeln über Lydias Gesicht. Mit einem raschen Stoß schob sie die Papiere zusammen. Aber im selben Augenblick war Anna aufgesprungen und hatte den Brief erfaßt.

»Das ist Alex' Handschrift! Was hat er dir zu schreiben?«

Es war vor ihren Augen ein Funkensprühn, aus dem sich ein blutigroter Schleier wob. Die durcheinanderhetzenden Gedanken nahmen körperliche Gestalten an. Sie sah die Schwester in ihres Mannes Armen. Zugleich schossen eine Menge Kleinigkeiten zusammen, um den blitzhaften Argwohn zu begründen, unmerkbare Züge, die ihr aber in den festgefügten Gewohnheiten ihres Daseins dennoch aufgefallen waren.

»Was hat er dir zu schreiben?« wiederholte sie.

»Frag ihn doch selbst.«

»Kann ich den Brief lesen?«

»Das mußt du selbst wissen. Ich würde mich ja nicht mit anderer Leute Korrespondenz befassen. Übrigens ist er wirklich ganz harmlos.«

»Du – und harmlos! Du bist ja das verlogenste und verworfenste Geschöpf von der Welt. Bist du nicht mit einem Unglück zufrieden, das du über ihn gebracht hast? Willst du ihn zum zweitenmal unglücklich machen?«

»Lalalala!« trällerte Lydia, ergriff einen Zerstäuber und verbreitete eine Wolke von Peau-d'Espagne-Duft um sich.

»Kleinstadtgestank! Pfui! Pfui! Selbst du bist davon infiziert und bist doch sonst ein halbwegs vernünftiger Mensch. Armer Alex, der in der Stickluft vegetieren muß.«

»Ja, und er wird darin weiterleben. Darauf verlaß dich. Und du wirst unsere Lust mit deinem Halbweltparfüm vertauschen.«

»Diese Absicht habe ich ja bereits geäußert.«

Halb von Sinnen, in diesem Aufruhr von Eifersucht einem lichterloh brennenden Menschen nicht unähnlich, stürzte Anna aus dem Zimmer. Aber während sie an einer verschlossenen Tür, die sie für die Flurtür hielt, rüttelte, kam Lydia ihr nach.

»Du hast deinen Schirm vergessen, Herzchen. Und dieses Buch gehört dir auch.«

Während Anna nach Hause eilte, begann ihr Verstand das trübe Brodeln ihres Innern zu durchleuchten. Sie schämte sich ihrer haltlosen Heftigkeit und der häßlichen Worte, die sie gebraucht hatte. Aber zugleich wurde ihr immer klarer, daß ihr Argwohn richtig gesehen hatte. Wie war sonst die seltsame Änderung zu erklären, die seit Lydias Ankunft mit ihrem Manne vorgegangen war? Der sonst so Ernste funkelte von guter Laune. Verschwunden waren die Anfälle von Trübsinn, statt dessen schäumte er manchmal über von Enthusiasmus wie ein Jüngling.

Während man früher in seiner Gegenwart kaum Lydias Namen hatte aussprechen dürfen, gab es jetzt keinen glühenderen Verehrer ihrer Kunst als ihn. Und was hatte dieses heimliche Wesen seit einiger Zeit zu bedeuten? Warum schloß er sich stundenlang in seinem Studierzimmer ein, aus dem er mit heißem Kopf und blitzenden Augen wieder zum Vorschein kam? Dort mochte er sich in seine Leidenschaft einspinnen und mochte Pläne schmieden, um sich mit Lydia zu treffen. Anna glaubte alles zu durchschauen und grollte ihrem Mann nicht einmal. Die langgehegte Vorstellung, die sie von Lydias Zauber und ihrer eigenen Reizlosigkeit besaß, ließ ihr sein Handeln völlig erklärlich erscheinen.

Nachdem sie abgelegt hatte, ließ sie sich, aufgeregt und erschöpft wie sie war, auf dem Ruhebett in ihrem Schlafzimmer nieder, um sich zu sammeln. Die unwürdige Heftigkeit ihrer Schwester gegenüber sollte sich nicht wiederholen. Ganz ruhig wollte sie mit Alexander sprechen.

Sie klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers.

»Wer ist da?« fragte von drinnen die Stimme des Hofrats.

»Ich bin's, Anna! Ich muß dich sprechen.«

Er öffnete und fragte mit hochgezogener Stirn:

»Nun? Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert?«

»Doch, etwas sehr Schlimmes, was uns alle betrifft,« erwiderte Anna und erzählte ihm in gefaßtem Ton von dem Gerücht und wie es ihrem Vater hinterbracht worden war.

Alexander hörte kopfschüttelnd zu, ohne jedoch weiter ein Zeichen des Staunens oder Erschreckens von sich zu geben.

»Das ist freilich schlimm, daß dein Vater davon gehört hat. So wie er ist, muß er die Sache tragisch nehmen.«

»Und du? Deine Anschauungen müssen sich ja merkwürdig gewandelt haben, daß du die Sache so leicht nimmst.«

»Anna, sag mal ehrlich: hast du geglaubt, daß Lydias Leben den Gesetzen der bürgerlichen Ehrbarkeit entspricht?«

»Jedenfalls habe ich geglaubt, daß sie verheiratet war. Und daß sie uns hierin belogen hat, das finde ich …«

»Es ließe sich da wohl manches zu ihrer Entschuldigung anführen. Sie war doch durch ihr Kind in einer Zwangslage. Aber es handelt sich ja nicht um Lydias Schuld. Es handelt sich um das Gerücht. Ich nehme an, daß es wahr ist.«

»Es ist wahr. Lydia hat es mir selbst gestanden.«

»Um so energischer muß man es dementieren. Wer kann ein Interesse daran haben, es auszustreuen? Irgendeine neidische Kollegin. Der muß man aufs Dach steigen. Das beste wäre, ich setzte mich mit dem Intendanten in Verbindung.«

»Nein!« erwiderte Anna hart. »Hier gibt's nur eine Möglichkeit. Papa versicherte mir, er würde von hier fortziehn, damit nicht jeder Gassenjunge ihm die Schande seiner Tochter ins Gesicht schreien kann. Soll das geschehen? Lydia selbst war der Ansicht, daß sie von hier fort muß.«

»Was sagst du da?«

»Ich sage, daß Lydia fort muß. Ich selbst habe ihr klar gemacht, daß sie von hier fort muß.«

»Oho! Das wäre noch schöner, wenn wir sie wegen einer verfluchten Klatschbase verlieren sollten.«

Mit zornrotem Gesicht war der Hofrat aufgesprungen.

»Wo willst du hin?«

Aber der sonst so höfliche und gemessene Mann antwortete nicht, sondern hastete in großen Sprüngen die Treppe hinunter, um im Telephonzimmer zu verschwinden. Anna nahm ihren alten Platz wieder ein. Wenn es gegangen war, wie sie vermutete, so hatte Lydia den vor wenigen Minuten abgegangenen Zug benutzt.

Nach einigen Augenblicken kehrte Alexander zurück.

»Du hattest recht. Sie ist fort.«

Er holte tief Atem und bedeckte seine Stirn mit der aufgestützten Rechten. Als er aufblickte, war die Hand naß, und das leichenblasse Gesicht war eingefallen wie das eines Schwerkranken.

Von schmerzlichem Mitgefühl durchwogt und durchzuckt zugleich von der stechenden Pein der Eifersucht, flüsterte Anna:

»Glaub mir, Alex, es ist so das beste – für uns alle.«

»Wieso?«

»Ja, was kann dir daran liegen, daß sie bleibt?«

»Warum mir daran liegt? – Gott, wegen einer Kleinigkeit.«

Wie geistesabwesend starrte er vor sich hin, während die Verzerrung eines Lächelns, das der krampfhaften Reaktion eines tödlichen Schmerzes glich, sich um seine Lippen schnitt und seine Zähne entblößte.

»Vielleicht ist es nur ein Phantom! Wahrscheinlich,« murmelte er. »Aber es ist doch, als wenn ich kein Glück haben sollte. Es kommt näher und näher – zum Greifen nah – und dann – tja!«

Er erhob sich, ging an den Schreibtisch und verschloß ein dort liegendes Manuskript in die Lade.

»Aus der Traum!«

»Alex, ich versteh dich nicht!«

»Kannst du auch nicht, Kind.«

»Hängt das Manuskript da mit Lydia zusammen?«

»Wie die Seele mit dem Leib. Ich wollte dich überraschen – euch alle – aber nun, wo's vorbei ist, kann ich's ja erzählen. Du lasest doch vor wenigen Wochen in der Zeitung, das Stück eines jungen unbekannten Menschen namens Vossen sei hier vom Theater angenommen. Dieses Stück ist meins. Lydia wollte die Hauptrolle darin spielen. Übermorgen sollten die Proben beginnen.«

»Alex,« erwiderte Anna mit eingeschnürter Stimme, »warum hast du das nicht gesagt?«

»Warum? Kleinmut, Anna. Du selbst hattest doch mal gesagt, daß du von meinen poetischen Werken nicht viel hieltest.«

»Und Lydia sollte die Hauptrolle spielen?«

»Hätte sie spielen sollen. Sie war ihr auf den Leib geschrieben.«

»Oh, Alex, nun habe ich dir diesen schlimmen Streich gespielt!«

»Du wußtest ja nichts. – Schicksal!«

»Und das ist der einzige Grund, warum Lydia hierbleiben sollte?«

»Ist das nicht Grund genug? Was sollte noch sein?«

Er blickte auf, sein Auge traf sich mit dem ihren: erstaunt, nachdenkend, was sie eigentlich meinen könnte? Nicht ein Schimmer von Falsch trübte diesen offenen Blick.

»Ach, Alex, dann bin ich ja –. Laß mich! Laß mich!«

Tränenüberströmt eilte sie hinaus und verschloß sich in ihrem Schlafzimmer. Zusammenbrechend unter dem Gefühl, daß ihre jäh emporbrechende Eifersucht sie getäuscht, daß sie ihrem Mann und ihrer Schwester unrecht getan hätte, sank sie am Bettrand nieder. Neben ihr lagen noch die Sachen, die sie vorhin in aller Hast abgelegt hatte. Als sie jetzt mit verzweifelter Gebärde sich zurückbog, fiel das Buch zur Erde. Sie bückte sich danach, es blätterte auf, und das erste, was sie erblickte, war der Brief von ihres Mannes Hand. Ihr zum Hohn sicherlich mehr, als um sich zu rechtfertigen, hatte Lydia ihn in das Buch gelegt.

Einen Augenblick zögerte Anna, ihn zu öffnen, aber von der Harmlosigkeit seines Inhalts überzeugt und in dem Gefühl, dadurch für ihren schnöden Verdacht zu büßen, zog sie den Bogen hervor und las in ihres Mannes zierlicher Handschrift:

›Liebe Lydia, weißt Du, was mir heute der Intendant als brühwarme Neuigkeit erzählte? Daß er das Stück eines gewissen Peter Vossen angenommen hätte. Er war sehr davon angetan, lobte den großen Schwung, die Bühnenwirksamkeit und noch vieles mehr, was freilich nichts Besonderes zu bedeuten hat, denn aus seinen wichtig klugen Worten hörte ich nur Deine eigene Stimme. Dann fragte er mich, ob ich den Dichter kenne. Und ich war frech genug, es zu bejahen. Er sei ein junger Mann, der die schönen Künste studiere und mich einmal im Museum besucht habe. Jetzt reise er in der Welt umher. Ich schilderte sein Äußeres genau so, wie ich vor fünfzehn Jahren ausgesehen habe. Peter Vossen – du aufrechter, fröhlicher Doppelgänger, von dir kann ich glauben, daß du Erfolg hast. In dir lebt noch der ungebrochene Mut, der Glaube, der Glanz der Jugend. Darum möchte ich das Pseudonym selbst dann nicht lüften, wenn das Stück Erfolg haben sollte. Mögen sie Peter Vossen mit einem Steckbrief verfolgen: ich werde mir ins Fäustchen lachen! Nur Anna möchte ich in einer guten Stunde das Geheimnis verraten, um mich an ihrem Staunen zu weiden.

›Für die Leute aber werde ich der bleiben, der ich nun einmal bin. Und doch, Lydia, mit jedem Tag wird mir klarer, daß ich es nicht mehr bin, daß nur noch die äußere Hülle übrig ist von dem verdüsterten und sich selbst verzehrenden Menschen, den ein unseliger Wahn um seine beste Kraft gebracht hatte. Wie soll ich Dir nun danken, daß Du kamst und jene eisernen Ringe von meiner Brust löstest und mir das gabst, was der Mensch nötiger zum Leben braucht als die Luft: das Selbstvertrauen! Wenn ich mein Leben überschaue, so lag es da wie eine dürre, kahle Steppe. Bis auf die Wurzeln verbrannt war alles Lebendige, und über das zerrissene Erdreich wirbelte nur der tote Staub. Dann fiel der Regen, lind und weich und warm, der erlösende Regen! Und nun sprießt es, nun blüht es in tausend Farben und duftet von Wohlgerüchen, und das Erdreich hat kaum Platz für all die Herrlichkeiten. Ach, Lydia, ich kann wieder träumen. Ich lache wieder! Das danke ich Dir. Deinem gütigen Zuspruch. Und Deiner Kunst. Du liebe, hohe, heilige Künstlerin, deren herrlichste Verkündigung die ist, daß Schönheit und Größe in dieser armseligen Welt existieren.

›Noch eins! Der Intendant sagte, er wollte mir das Stück zum Lesen schicken, wenn es mich interessierte. Ich lachte ihm nicht ins Gesicht, sondern erwiderte ernsthaft, es interessierte mich so lebhaft, daß ich sogar den Proben beiwohnen möchte. Darüber schien er sehr erfreut.

›Wird das nicht eine lustige Komödie geben, wenn ich im Theater sitzen und mit herablassender Gönnermiene mein Stück loben werde: »Sehr hübsch! Sehr nett! Ein bißchen anfängerhaft noch, aber entschieden nicht ohne Talent.«

›Leb wohl, Schwägerin, ich freue mich auf Dein Kommen morgen. Ich küsse Deine gütige Hand. Dein Schwager und dankbarer Freund Alex.‹

›Das alles hast du ihm jetzt zerstört …‹ Es war Anna, als hörte sie diese Worte, die doch nicht von ihren Lippen kamen, laut in ihrem Ohr.

Draußen war die Dämmerung angebrochen, eine kalte, graue Schneedämmerung, die sich um das schwarze Geäst der kahlen Bäume noch dichter zu weben schien. Aus den Fenstern der Häuser drüben schimmerte da und dort Lichtschein, und auf dem fernen Bahngleis am Rand der Bergkette blinkte eine Reihe funkelnder Pünktchen. Aber Anna sah nicht das Licht, sah nur das tote, stumpfe Dunkel, das hereingraute durch die Fenster, und das sie aus ihrer Seele strömen fühlte. Ihre eiskalte Hand lag auf dem Brief, leer und hoffnungslos.

Eine tote, sonnverbrannte Steppe – das war ihres Mannes Urteil über sein Leben an ihrer Seite. – Mit aller ihrer Liebe, aller ihrer Zärtlichkeit und Fürsorge hatte sie ihm nichts weiter bieten können als dies. Und dann kam die Schwester, und ihr leichtsinniger Mund brauchte nur das eine Wort Künstler auszusprechen, und es war, als wenn ein Toter zu neuem Leben erwachte.

Gramvoller Neid klang anklägerisch durch das zerbrochene Gefäß ihres Innern. Welch eine grausame Lust des Schicksals an Lug und Trug! Aber zugleich schnürte Angst ihr das Herz zusammen, benahm ihr den Atem, und sie streckte mit wirrer, erschrockener Bewegung ihre Hände ins Dunkel, als müßte sie ihren Mann vor einem schwindligen Weg in Abgründe zurückhalten.

Er war kein Künstler! Wenn in ihm die Kraft des Schaffenden gelebt hätte, wie hätte sie dann ruhen können die langen, langen Jahre hindurch? Und seine Arbeiten waren ihr ja nicht unbekannt. Als Braut hatte sie seine Gedichte und Theaterstücke gelesen und stets vermieden, ihm ihre klare Ansicht darüber zu sagen, weil sie nichts darin fand, als die geschmackvolle Nachempfindung des Dilettanten.

Doch nun legte sich bleiern der Zweifel auf sie. Sie war sich ihrer zurückhaltenden und schwer zu erwärmenden Natur bewußt. Wie es wenig Menschen gab, die ihr gefielen, so gab es wenig Dinge in der Kunst, die sie gelten ließ, und dieser anspruchsvolle Stolz, der immer nur das Alles oder Nichts kannte – hatte der nicht einst sie selbst von der Laufbahn zurückgehalten, auf die dann ihre Schwester mit so viel Leichtsinn und so viel Glück losgestürmt war? Wußte sie, ob das, was ihr mißfiel, nicht vielleicht den Beifall der andern fand? Hätte sie blinder an ihren Mann geglaubt, sie hätte ihn glücklicher gemacht! Lydia hatte diesen Glauben! Viel mochte mitsprechen, daß sie ihm schmeichelte, um ihn zu versöhnen und um seine Gunst zu erwerben. Aber das war es nicht allein. Dafür kannte sie den leicht entflammten Enthusiasmus der Schwester zu gut. Und was auch immer der Beweggrund sein mochte, das Ende war, daß Lydia ihm das gegeben hatte, dessen er bedurfte: die Freude am eigenen Selbst. Ihr Verhängnis aber war es, ihm sein Glück – und war es auch nur ein eingebildetes Glück – zu zerstören.

Endlich rief das Dienstmädchen sie zum Essen. Gleich darauf erschien auch ihr Mann, aber nachdem er schweigend einige Bissen zu sich genommen hatte, erhob er sich mit einem Wort der Entschuldigung und schloß sich in sein Zimmer ein.

Anna wartete bis Mitternacht, von grübelnden Gedanken hin und her bewegt. Immer unerträglicher wurde ihre Angst um Alex und ihre Verzweiflung, bis sie sich entschloß, zu ihm zu gehen und ihm zu sagen: ›Reise Lydia nach und hole sie zurück.‹ Aber als sie auf dem Weg zu seinem Zimmer am Spiegel vorbeikam und ihr vom Gram gealtertes und verhäßlichtes Gesicht erblickte und als wie eine erschreckende Vision die in Jugendglanz und verführerischem Leichtsinn blühende Erscheinung ihrer Schwester vor ihr auftauchte, ergriff sie mit solchem Aufruhr von neuem die Eifersucht, daß ihr dieses Zugeständnis wie ihr eigenes Todesurteil erschien.

Schüchtern klopfte sie an ihres Mannes Tür.

»Willst du nicht schlafen gehen? Ich habe so lange auf dich gewartet.«

»Ich bin nicht müde,« antwortete er gequält. »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gehst du voran.«

»Alex, ich habe ja nicht gewußt, daß du ein Stück geschrieben hattest, und daß Lydia darin die Hauptrolle spielen sollte. Ich habe das nicht gewußt.«

»Nein! Nein! Ich habe dir ja auch nicht den geringsten Vorwurf gemacht.«

»Aber innerlich, Alex. Wenn ich könnte, würde ich Lydia nachreisen und sie bitten, zurückzukehren. Aber es geht nicht. Es geht nicht – Vaters wegen.«

Er nickte nur stumm.

»Darum kann dein Stück aber doch aufgeführt werden. Der Intendant hat es angenommen. Er muß es spielen.«

»Sprechen wir doch nicht davon. Ja? Mich quält das.«

»Und wenn hier nicht die passende Schauspielerin vorhanden ist, so gibt es doch andere Theater.«

»Ach, Anna, du weißt doch selbst, was es heißt, ein Stück anzubringen. Das heißt herumgehen und antichambrieren und Demütigungen ertragen.«

»Aber wenn du an dein Werk glaubst, dann mußt du das auf dich nehmen.«

»Wahrscheinlich glaube ich dann nicht an mein Werk. Aber lassen wir das doch.«

»Dann bist du auch kein Künstler. Ein Künstler nimmt jedes Opfer auf sich,« erwiderte Anna heftig.

»Anna! Suchst du Streit? Habe ich ein hartes Wort gesagt wegen dessen, was du für nötig hieltest? So laß auch mich meinen Weg gehen.«

»Aber ich möchte dir doch helfen,« sagte sie mit aufsteigenden Tränen. »Ich möchte dir alles zuliebe tun.«

Er blickte düster vor sich hin.

»Kind, ich glaube nicht, daß wir Menschen uns gegenseitig viel helfen können. Was wissen wir denn einer von den Bedürfnissen des andern? Wir sind uns ja über uns selber im Dunkel. Wissen keinen Rat im Wirrwarr unserer Seele. Und da soll ein anderer von außen mehr sehen können? – Geh! Wenn du mich lieb hast, läßt du mich allein. Gute Nacht. Schlaf wohl!«

Aber als Alexander Horn sich später an der Seite seiner Gattin schlafen legte, war diese noch wach. Erst dann fiel sie in einen kurzen, gequälten Schlummer. Doch mit dem Morgengrauen fuhr sie auf. Da gewahrte sie ihren Mann aufrecht im Bett sitzen. Mit aufgestütztem Kopf starrte er ins Leere.

Nach einer Weile aber, nachdem er lange mit sich gekämpft zu haben schien, erhob er sich. Anna hörte ihn in sein Arbeitszimmer gehen. Als er nach einer Weile nicht wiederkam, schlich sie ihm nach und blickte durch einen Spalt der angelehnten Tür. Er saß vor seinem Schreibtisch und starrte versunken auf Lydias Bild in seiner Hand.

 


 << zurück weiter >>