Gerhart Hauptmann
Die goldene Harfe
Gerhart Hauptmann

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Fünfzehnte Szene

Flur und Treppenhaus im Schloß. Aus einer Zimmertür kommen in Morgengewändern Komteß Juliane und Jutta.
Vor Tagesanbruch.

Jutta. Die Postkutsche steht am Tor.

Komtess Juliane. Still, lassen wir uns nicht blicken, Jutta, er hat Papa und Mama gebeten: niemand möge aufstehen, niemand möge ihm das Geleit geben.

Jutta. Ich denke doch, Graf Günther wird am Wagen sein.

Komtess Juliane. Dein Idol möchtest du wiedersehen! ich durchschaue dich, Jutta.

Jutta. Ihr Idol, Komteß Juliane.

Komtess Juliane. Deines, deines vor allem, Kind. Aber du wirst vergeblich ausschauen, die Brüder haben gestern abend beim Souper kein Wort miteinander gesprochen. Nach Tische hat der Diener des Grafen Alexis dem armen Günther einen Brief gebracht: Alexis müßte es als eine für beide Teile entehrende Farce ansehen, wenn Günther ihn an den Wagenschlag begleitete. Günther hat ihm, wenn auch beinah unter Tränen, zugestimmt und im gleichen Sinne geantwortet. Er bringe, schrieb er, die Nacht überhaupt nicht im Schlosse zu, sondern wieder im Forst in seiner Jagdhütte. Dorthin hat er sich auch sogleich auf den Weg gemacht.

Jutta. Also Graf Günther ist nicht im Hause?

Komtess Juliane. Nein – und so wirst du nach deinem Idol vergeblich ausschauen.

Jutta. Warum sprechen Sie immer von meinem, nicht von Ihrem Idol, da Sie die Hand des Grafen Alexis um seinetwillen doch ausschlagen?

Komtess Juliane. Vom Erker dort kann man das Tor übersehen: sage mir doch, ob der Wagen wirklich schon wartet.

Jutta. Nein, nicht mehr. – Ist er am Ende schon abgefahren?

Komtess Juliane. Unmöglich! das hätten wir doch gehört, Jutta.

Jutta. Er ist doch da. Sie kommen mit Windlichtern. Gepäck! sie laden die Koffer auf.

Komtess Juliane. Du weißt und weißt es auch nicht, was gestern zwischen den Brüdern und mir vorgefallen ist. Das ist wie der Dieb in der Nacht über mich gekommen. Noch bebt mein ganzes Wesen von dieser Erschütterung. Darum ließ ich dich bitten, zu mir zu kommen. Ich bat dich, im selben Zimmer mit mir zu schlafen die Nacht, da ich mich vor mir selber fürchtete. Ich danke dir, daß du offenen Auges als mein guter Geist bei mir ausgehalten hast.

Jutta. Kann es jemanden geben, der sich nicht glücklich schätzte, Ihnen zu dienen?

Komtess Juliane. Jutta, nie kann ich wieder froh werden! – oder lastet auf meinem Gewissen kein Mord? Hätte ich es für möglich gehalten, ich könne eines Tages mit einem Morde belastet sein? Was steckt nicht alles verborgen im Menschen! Wie haben mich diese Medeen und andre Blutweiber angewidert! Und nun habe ich gestern selber eine ihrer würdige Tat getan. Niemals kann ich sie wieder gutmachen!

Jutta. Aber Sie haben doch, liebe Komteß, nur die einfache Wahrheit ausgesprochen.

Komtess Juliane. Was nennst du die einfache Wahrheit, Kind? Ich habe sinnlos und grausam gehandelt.

Jutta. Schließlich aber hat doch Friedrich-Alexis selber die Entscheidung herbeigeführt, ja, er hat die Entscheidung erzwungen.

Komtess Juliane. Als ob ich nicht wüßte, um wessentwillen er so gehandelt hat: um meinet- und seines Bruders willen. Er hat das Feld schon einmal geräumt – und ist das nicht Edelmut? Es ist eine Tat, zu der nur höchster menschlicher Adel befähigt.

Jutta. Aber wenn Ihre Liebe nun einmal auf Günther gefallen ist?

Komtess Juliane. Ist es denn so? Ich weiß es nicht . . . Willst du mir glauben, ich kann mir kaum vorstellen, daß ich jemals etwas für Günther gefühlt habe: in diesem schrecklichen Augenblick.

Jutta. Und für Friedrich-Alexis ebensowenig?

Komtess Juliane. Wenn ich ihm nur sagen könnte: verzeih mir, Alexis!, dann, glaube ich, könnte ich ruhig sein. Ich verehre, ich bewundere dich, würde ich dann noch hinzufügen, wie ich nie einen Menschen verehrt und bewundert habe. Aber er stößt mich mit den Füßen von sich, wenn ich das versuche, glaube ich. Er hat Grund dazu, mich so von sich zu stoßen.

Jutta. Wollen Sie mit dem Grafen noch eine kurze Aussprache vor der Abreise? Befehlen Sie, noch ist es Zeit.

Komtess Juliane. Wenn er sie aber verweigern sollte –?

Jutta. Er wird Ihnen niemals etwas verweigern.

Komtess Juliane. Ich glaube, ich habe nur ihn geliebt. Ich fürchte fast, jetzt hasse ich Günther, weil er dies ungeheure Opfer kalten Blutes hinzunehmen imstande ist. – Wenn ich nun mit Alexis in die Postkutsche stiege und er uns niemals wiedersähe – was dann?!

Jutta. Dann wäre es nicht das erstemal, daß dergleichen geschehen ist.

Komtess Juliane. Und was würde aus Günther? Daß er einen solchen Schlag lebend überdauern könnte, glaube ich nicht. Und wenn er lebte, ich würde in seinen Augen zur Giftotter.

Jutta. Graf Alexis ist aus dem Zimmer getreten. Sein Bett, wie der Diener mir sagte, ist unberührt. Er hat schon abends die Kleider gewechselt. Befehlen Sie, und in einer Minute, Komteß, ist er hier.

Komtess Juliane. Warum erzählst du mir, was ich weiß . . . Hörte ich nicht seinen Tritt ruhelos, die ganze Nacht, über mir, auf und ab, auf und ab, bis zum grauenden Morgen? Habe ich nicht jeden seiner Tritte, als trüge er eiserne Sohlen, unmittelbar auf dem Herzen gespürt? Tritt um Tritt auf dem bloßen Herzen!

Jutta. Komteß, bevor es zu spät wird, entscheiden Sie sich.

Komtess Juliane. Was hindert mich, zu ihm hinaufzugehen, seine Knie inbrünstig zu umklammern und zu betteln: Alexis, tu mir die Gnade an, töte mich und mach meinen Qualen ein Ende! Geh, sage ihm, was du immer willst, Jutta! Sage ihm, daß er seine Hand einen Augenblick auf mich legen und mich entsühnen soll! Sage ihm meinethalb, ich sei wahnsinnig! Sage ihm, ich fürchtete mich vor mir selbst, wenn er nicht käme und mich vor mir schützte! Sage ihm, ich gehöre ihm, ich hätte nur ihn geliebt und nie einen anderen! Nein, Jutta, um Gottes willen nein! Sage einfach, ich hätte den Wunsch, ihm zum Lebewohl noch einmal die Hand zu drücken, ihm eine glückliche Reise zu wünschen meinethalb.

Jutta huscht fort. Komteß Juliane eilt zum Mansardenfenster und späht nach dem Torweg hinunter. Nach einer Weile tritt in Reisekleidung, von ihr ungesehen, Graf Friedrich-Alexis ein. Er schreitet leise vor, bis er dicht hinter ihr steht und sie seine Wärme spürt. Da wendet sie sich blitzschnell um, er fängt sie auf und umschlingt sie. Sie antwortet mit der gleichen Glut. Zuletzt hebt er sie auf und trägt sie in ihr Zimmer. Das Posthorn klingt. Nach einiger Zeit erscheinen Gherardini und Jutta.

Jutta. Du bist schon so früh auf, Papa?

Gherardini, erregt. Ich komme sogar schon von einer Bergtour, Jutta. Ist Graf Alexis schon fort?

Jutta. Ich glaube nicht. Die Postkutsche steht noch vorm Portal.

Gherardini. Er darf jetzt nicht reisen, der Graf muß hierbleiben. – Die alten Herrschaften sind doch wohl noch nicht wach, Jutta?

Jutta. Ich denke, doch. Erlaucht der Herr Graf jedenfalls, wie der Diener sagt. Er läßt sich's nicht nehmen, wie es heißt, persönlich Friedrich-Alexis Lebewohl zu sagen.

Gherardini. Und was ist mit Juliane?

Jutta. Was soll mit ihr sein, Vater?

Gherardini. Schläft sie? hat sie geschlafen die Nacht?

Jutta. So wenig wie Graf Alexis, Vater. Sie hat Harfe gespielt bis nach Mitternacht. Es war ein Duett, wie ich dergleichen noch keines gehört habe.

Gherardini. Was heißt das, Jutta: wieso ein Duett?

Jutta. Bei uns stand die Tür des Musiksaals auf und oben das Fenster von Friedrich-Alexis. So haben sie miteinander, er auf der Flöte und sie auf der Harfe, musiziert: ihr Abschiedsgesang und sein Schwanenlied klangen so süß und schmerzlich, Vater, wie ich es nie gehört habe, ineinander.

Gherardini. Sie irrten sich, das Schwanenlied sang ein andrer . . . Verstehst du mich, Jutta?

Jutta. Nein, Vater, nein!

Gherardini. Ein andrer, ein andrer als Friedrich-Alexis sang heute Nacht sein Schwanenlied. Es ist so. Ich halte die Noten hier in der Brusttasche.

Jutta. Was heißt das? Bei Gott, ich verstehe dich nicht.

Gherardini. Wo komm' ich wohl her? Aus Graf Günthers Jagdhütte. Aber das Kurze und Lange ist, ich muß zunächst wohl die alte Erlaucht sprechen. Kind, es hat sich etwas ereignet, was man nicht anders als schrecklich nennen kann, und doch ist es Musik vom reinsten Klange: eine Musik, die, wie ich glaube, eine überirdische ist und die das Duett Juliane-Alexis, Alexis-Juliane weit hinter sich zurücklassen wird. – Wir müssen unsren erlauchten Herrn finden, komm mit, Jutta!

Beide gehen ab.
Die Tür, hinter der Komteß Juliane und Graf Friedrich-Alexis verschwunden sind, öffnet sich leise. Juliane blickt heraus und tritt heraus, als sie sich überzeugt hat, daß niemand zugegen ist. Ihr folgt Graf Friedrich-Alexis, und beide umschlingen einander, gleichsam mit glühenden Abschiedsküssen.

Graf Friedrich-Alexis. Was wird nun aus uns beiden, Juliane?

Komtess Juliane. Nichts andres, Alexis, als wir nun sind! Ich gehöre dir und nur dir, Alexis.

Graf Friedrich-Alexis. Und Günther?

Komtess Juliane. Ich gehöre dir, etwas anderes weiß ich nicht.

Das Posthorn erklingt.

Graf Friedrich-Alexis. Ade! Er mahnt, der Schwager wird ungeduldig. Leb wohl, Juliane! Soll ich dich rauben? Kommst du mit?

Komtess Juliane. Ich bin willenlos, kenne nur deinen Willen . . .

Graf Friedrich-Alexis. Nur eine letzte Schonung des armen Günther hält mich von diesem Ausweg zurück.

Komtess Juliane. Und doch, Alexis, ich kann nicht hierbleiben. Eine Stunde später fliehe auch ich und reise dir irgendwohin entgegen. Es bricht alles zusammen hinter mir. Kein Schloß ist mehr da, nicht Vater und Mutter, kein Park – nur Wüsteneien und Trümmer.

Graf Friedrich-Alexis. Man kommt – ich glaube, dein Vater, Juliane. In einigen Stunden schon hörst du von mir.

Komtess Juliane. Bleib! Sie steigen die Treppen hinunter zur Postkutsche. Übrigens höre ich Gherardinis Stimme.

Graf Friedrich-Alexis. Er wollte mir bis zur ersten Poststation das Geleit geben. Doch nun muß ich hinunter. Seh' ich dich noch?

Komtess Juliane. Ich komme. Ich will mir nur etwas umnehmen.

Graf Friedrich-Alexis eilt schnell ab zur Postkutsche, Komteß Juliane nach kurzem Winken in ihr Zimmer. Gleich darauf erscheinen der alte Reichsgraf Waldemar, Gherardini und Jutta.

Reichsgraf Waldemar. Plötzlich, plötzlich – wie das nur gekommen ist?! wie das überhaupt hat kommen können! –, steht das Haupt der Gorgo furchtbar mitten im Schloß! – Wo ist Graf Alexis? Er darf nicht abreisen. Juliane kommt aus ihrem Zimmer, um zur Postkutsche zu gehen. Wohin, Juliane?

Komtess Juliane. Dem Grafen Alexis Lebewohl sagen.

Reichsgraf Waldemar. An der Postkutsche ist er noch nicht. Juliane, du mußt dich auf etwas gefaßt machen . . .

Komtess Juliane, die Hände ringend. Vater, habe ich Unrecht getan? Ich mußte, ich mußte es tun, das, was ich getan habe.

Reichsgraf Waldemar. Wo ist Graf Alexis? Ihn geht es vor allen an. Freilich auch du . . . ihr beide werdet viel Kraft brauchen.

Komtess Juliane. Wir werden sie brauchen und haben sie!

Reichsgraf Waldemar. Wie bist du denn so verändert, Juliane?

Komtess Juliane. Ich bin verändert – wieso, weiß ich nicht.

Reichsgraf Waldemar. Ist dir das Schreckliche denn schon bekannt geworden?

Graf Friedrich-Alexis kommt.

Graf Friedrich-Alexis. Sie wollen mich sprechen – hier bin ich, Erlaucht.

Reichsgraf Waldemar. Guten Morgen, Graf! wir wollen Platz nehmen.

Graf Friedrich-Alexis. Ich hoffe doch nicht, es solle etwas Hochnotpeinliches sozusagen hier verhandelt werden! Ich würde dafür kaum zu haben sein.

Reichsgraf Waldemar. Wir wollen Gherardini das Wort lassen.

Gherardini, fest, aber sehr bleich. Es betrifft Ihren Bruder Günther, Herr Graf.

Graf Friedrich-Alexis erbleicht bis an die Nasenwurzel. Günther? was soll das heißen, Meister?

Gherardini. Ich will die Umstände, wie sie einander folgten, darlegen. Wir wissen, daß wir alle unter ein und dasselbe Schicksal geboren sind und den Mächten des Himmels preisgegeben.

Graf Friedrich-Alexis. Günther ist doch nichts zugestoßen?

Gherardini. Sein Diener brachte um ein Uhr nachts diesen Brief. Wenn Sie gestatten, will ich ihn vorlesen: »Lieber Meister Gherardini«, so lautet er, »es ist heut oder eigentlich schon gestern eine Entscheidung gefallen, die meinem Bruder Alexis die Pflicht auferlegt abzureisen. Das soll, wie ich weiß, in der heutigen Morgenfrühe geschehn.

Nun habe ich diese Entscheidung durchdacht und dabei erkannt: ich kann und darf sie nicht hinnehmen. Ich würde, wenn ich es täte, mit dem Gefühl einer unaustilgbaren Sünde wider den Heiligen Geist mein weiteres Leben zu leben haben, wozu ich gänzlich unfähig bin. Eine solche Gewissenslast kann keine Daseinsbasis sein.
    Ein wehes Antlitz steht vor mir,
    es verweht und vergeht und ist wieder hier.
    's ist ein bittres Naß, darin es verschwimmt,
    ein bittreres, drin es aber entglimmt.
    Wer bist du, Gesicht,
    du fremdes Gebild,
    im Dulden so groß,
    im Fordern so mild?
    im Schenken so reich,
    im Nehmen so arm,
    erbebend vor Frost
    und im Herzen so warm?
    Sprich, Frau, nun zu mir!
    Und sie hebt ihren Arm . . .«
Das ist ein Gedicht. Und Graf Günther fährt fort:
»Und sie hebt ihren Arm! Sie hat, im Gefühl, sich dem Schwächeren opfern zu müssen, mich und nicht den Starken, den wahrhaft Geliebten, gewählt. Aber nun hebt sie den Arm, und das wird die Gebärde, die den Schwächeren zur Besinnung bringt. Ich darf den beiden Starken an Großmut nicht nachstehen: Adelaiden nicht und Alexis nicht. Ich weiß ebensogut wie sie zu lieben, weiß ebensogut wie sie zu entsagen und vermag zu beweisen, daß ich ihnen ebenbürtig bin.

Man hört unterdrücktes Schluchzen. Gherardini, erschüttert, muß sich gewaltsam sammeln, um weiterzulesen.

Ich bitte Sie um eins, Meister Gherardini: machen Sie sich gleich nach Empfang dieses Briefes auf und besuchen Sie mich. Sie sollen der Vollstrecker meines Letzten Willens sein, bevor ich ins Unbekannte abreise. Sie sollen sich selbst davon überzeugen, inwieweit meine Beschlüsse echt und unwiderruflich sind. Sagen Sie Adelaiden und meinem Bruder, sie hätten die Pflicht, ein langes Leben hindurch so glücklich zu sein, wie ich es bin, seit dem Augenblick, wo ich die Kraft, das Rechte zu tun, gefunden habe. Und auch das Tun, die Tat, ist Glück! Sagen Sie dem Paar, was zu meinem Glücke ausgeschlagen ist, muß – es muß! – auch zur Grundlage seines Glückes werden: anders fände ich meine Ruhe im Jenseits nicht.«

Graf Friedrich-Alexis. Nun, und wie fanden Sie meinen Bruder? wie fanden Sie ihn?

Gherardini. Auf seine Feldbettstelle ruhig ausgestreckt, mit friedlichem Ausdruck des Gesichts, ohne Pulsschlag und ohne Atem.

Komteß Juliane schluchzt auf, sinkt vor Graf Friedrich-Alexis nieder und weint mit dem Kopf in seinem Schoß.

 


 


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