Gerhart Hauptmann
Die goldene Harfe
Gerhart Hauptmann

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Neunte Szene

Komteß Juliane und Graf Friedrich-Günther auf einer primitiven Gartenbank vor der Einsiedelei im Park. Sommerabend.

Graf Friedrich-Günther liest aus seinem Notizbuch vor.
    Ein wehes Antlitz steht vor mir,
    es verweht und vergeht und ist wieder hier,
    's ist ein bittres Naß, darin es verschwimmt,
    ein bittreres, drin es aber entglimmt.
    Wer bist du, Gesicht,
    du fremdes Gebild,
    im Dulden so groß,
    im Fordern so mild?
    im Schenken so reich,
    im Nehmen so arm,
    erbebend vor Frost
    und im Herzen so warm?
    Sprich, Frau, nun zu mir!
    Und sie hebt ihren Arm . . .

Komtess Juliane, betroffen. Haben Sie diese Gestalt mit Augen gesehn, von der Sie so poetisch berichten?

Graf Friedrich-Günther. Ich habe sie mit Augen gesehn.

Komtess Juliane. Wo? und wie ging das zu, Graf Günther?

Graf Friedrich-Günther. Als ich eines Nachts erwachte, habe ich sie mit Augen gesehen, als Geistergestalt, in wachem Traume.

Komtess Juliane. Wirklich?! Es gibt doch ganz unbegreifliche Dinge . . . Jedenfalls: das Gedicht ist schön.

Graf Friedrich-Günther. Ich verdanke es Ihnen, Adelaide.

Komtess Juliane. Ich schrecke immer ein wenig zusammen, wenn man mich Adelaide nennt, weil ich Tote zu hören glaube.

Graf Friedrich-Günther. Soll ich sagen, Sie hören recht . . .?

Komtess Juliane. Kommen wir auf Ihr Gedicht zurück.

Graf Friedrich-Günther. Ich sagte schon, ich verdanke es Ihnen.

Komtess Juliane. Sie können doch wohl nicht glauben, daß ich Ihre Geistererscheinung gewesen bin. Und was bedeutete wohl der erhobene Arm?

Graf Friedrich-Günther. Ein Rätsel, das ich noch nicht gelöst habe . . . Sehnen Sie sich sehr nach Musik, Komteß?

Komtess Juliane. Wieso nach Musik, da Sie mir doch erst jüngst einen hohen musikalischen Genuß bereitet haben, als ich Ihren herrlichen Vortrag der »Adelaide« auf der Harfe begleiten durfte? Wäre die Wirkung nicht so überwältigend gewesen für mich, ich würde Sie längst gebeten haben, das von heiligem Feuer lodernde Lied zu wiederholen.

Graf Friedrich-Günther. Was ich in jener Nacht erlebt habe, war mehr als Musik. Die Macht des Gesanges schien sich in mir zu offenbaren als eine Art Auferstehungsruf. Ich hätte mich nicht gewundert, wäre Heinz-Herbert lebendig zwischen den Säulen seines Tempels hervorgetreten. Freilich, was ich von den Toten erwecken wollte, war nicht er . . . es war etwas anderes, etwas in Ihnen, Komteß Adelaide – vergeben Sie mir! –, und mir schien, es wurde wach, denn Sie legten den Arm um meinen Nacken . . . Werden Sie das verleugnen, Komteß?

Komtess Juliane. Nein – aber ich habe mit dieser Bewegung nicht Sie allein, sondern in Ihnen drei junge Todgeweihte gemeint.

Graf Friedrich-Günther. So fiel ein Dritteil der Liebe auf mich. Nun, diese Dreieinigkeit, die Sie berühren, ist mein Gram und mein Glück. Oder besser: es hat sich das Glück in Gram verwandelt.

Komtess Juliane. Und wie ein Teil der Liebe auf Sie, fällt ein Teil des Grames auf mich.

Graf Friedrich-Günther. Juliane, Sie waren damals noch ganz ein Kind, als Sie bereits mein Schicksal geworden waren. Weder mein Zwillingsbruder noch Ihr Bruder Heinz-Herbert hat davon gewußt. Ihr Bruder mag Sie vielleicht geliebt haben – aber nicht so wie ich. Auch Alexis liebt Sie, doch konnte er fortreisen – für mich ein Ding der Unmöglichkeit! Ich habe das Geheimnis meiner Liebe auch vor ihm all die Jahre verborgen gehalten – bis dann Ihre Nähe es verriet. Alle meine Jünglingsträume und Mannestaten haben Ihnen, nur Ihnen gegolten! Ich habe auf unseren Reisen Kleinodien, Pelze, Perlen, Damaste, Teppiche zum Staunen meines Zwillingsbruders eingekauft. Für wen ist dies alles? war seine Frage. Ich schwieg wie das Grab, doch ich wußte es. Als ich den Schuß durch den Arm erhielt, hat es in mir gejubelt: Für Adelaide!

Ein Posthorn ertönt in der Ferne.

Komtess Juliane. Verzeihen Sie, Graf, ich war ein wenig zerstreut im Augenblick, abgelenkt durch die Lerchen über den Kornfeldern.

Graf Friedrich-Günther. Ich stehe mitten in Gottes brennendem Busch, Adelaide, mitten im höchsten und letzten Mysterium: es kann mich so oder so zurücklassen, als Asche oder als Phönix, zu Höchstem beschwingt. Denn Liebe und Tod stehen eng beieinander. Wie es sich endlich klären soll, weiß ich nicht. Sie werden erschrecken vor dem, was bei mir Wahrheit geworden ist: Alexis und ich, wir waren zwei Herzen und ein Schlag – heut wäre ich lieber nicht geboren, als von Zwillingen einer zu sein!

Ich habe Verrat an Alexis geübt, entschlossenen Verrat, als ich ihn hinwegschickte. Seinen Edelmut, den ich kannte, hab' ich mißbraucht. Obgleich ich mich einst zu freuen Grund hatte, als er deine Locke, Adelaide, von sich warf, habe ich seit der Zeit ein böses Gefühl gegen ihn heimlich im Herzen genährt und ihm überall nachgetragen. Ich wünschte, ehe ich erdulden müßte, was nicht zu ertragen wäre, überhaupt nicht zu sein . . . und fast noch mehr: der andre, der Bruder, der Feind, wäre nicht vorhanden.

Komtess Juliane. Armer Günther! Armer, armer, geliebter Freund! Sie streicht mit der Hand über seinen Scheitel und blickt gerührt und versonnen in die Ferne.

Graf Friedrich-Günther. Aber wo blicken Sie hin, Adelaide?

Komtess Juliane. In das Dunkel . . . die Leere . . .! Ich weiß es nicht . . .

Ein Posthorn klingt.

Graf Friedrich-Günther. So will ich es Ihnen eröffnen, Geliebte: Sie lieben die Stelle hier vor der Einsiedelei, von wo man die Landstraße meilenweit übersieht, und Ihr Blick wird gespannt, wenn irgendwo in der Ferne Staub wirbelt. Und wenn der Schall eines Posthorns hörbar wird, so erbleichen Sie jedesmal, und Ihr schönes Antlitz erleidet eine tiefe Veränderung.

Komtess Juliane. Ich glaube nicht, Günther, daß Sie recht haben. Aber wäre es edel und gut, so scharf, so gnadenlos zu beobachten?

Graf Friedrich-Günther. Was ist edel und gut, wo allmächtige Mächte im Spiele sind?! – – Alexis hat mir Noten gesendet: er hat das kleine Gedicht komponiert.

Komtess Juliane. Welches?

Graf Friedrich-Günther. Sie haben es eben gehört, Adelaide: gehen wir gleich in Ihr Musiksälchen, und ich singe es Ihnen vor.

Komtess Juliane. Ich weiß wirklich nicht, wo der Schlüssel ist . . .

Graf Friedrich-Günther. Ist das reine Wahrheit, Komteß?

Komtess Juliane. Wenn ich mich selbst nicht schuldig fühlte, würde ich sagen: Sie martern mich. – Wann hätten Sie wohl die Noten erhalten?

Graf Friedrich-Günther. Zur gleichen Zeit wie Sie Ihren Brief.

Komtess Juliane. Hätte ich einen Brief von Alexis erhalten?

Graf Friedrich-Günther. So ist es. Und nun werden Sie unruhig, weil er die Noten gesandt hat, wo er doch sein Kommen in Aussicht stellte. Keine Sorge, mein Bruder kommt . . . und so wird auch der Schlüssel sich wiederfinden!

Komtess Juliane. Günther, das ist nicht ritterlich.

Graf Friedrich-Günther. Ich bin meiner nicht mehr Herr, Juliane! Weshalb verschlossen Sie Ihr Musiksälchen? Warum nahmen Sie selbst Gherardini den Schlüssel ab?

Komtess Juliane. Wer wollte antworten, wo kein Wort eine Antwort ist! Aber noch gehöre ich doch wohl mir selbst, und wem außer mir bin ich Rechenschaft schuldig?!

Ein Posthorn klingt in der Ferne.

Graf Friedrich-Günther, lauernd. Haben Sie das Posthorn gehört?

Komtess Juliane. Ja, ich habe das Posthorn gehört!

Graf Friedrich-Günther. Sein Klang durchdringt Sie wie Engelsruf. Mich macht er wild, mich bringt er von Sinnen! Es lebt kein Mensch in der weiten Welt, der das Recht und die Kraft hätte, das, was mein ist, mir streitig zu machen.

Komtess Juliane. Noch hat niemand ein Recht auf mich – es wäre denn einer unter der Erde.

Graf Friedrich-Günther. Auch Alexis nicht?

Komtess Juliane. Nein, auch er nicht, Günther.

Graf Friedrich-Günther. Dann öffnen Sie mir das Musiksälchen.

Komtess Juliane. Was braucht's des Schlüssels? Brechen Sie ein, Günther! Da Günther erschüttert und verdüstert schweigt. Halten Sie mich doch nur nicht für grausam, armer Freund! Wir sind ja einander so innig nahe . . . es ist ja das gleiche ungeklärte Schicksal, das uns bewegt. Nur kann ich mir selbst nicht untreu werden und auch, für sein Teil, dem andern, dem Dritten unter der Erde, nicht. Jedem bewahr' ich, was ihm gehört, und so Ihnen das Ihre, Günther. Es ist nun einmal so, daß ich vorerst Günther ohne Alexis nicht denken kann.

Graf Friedrich-Günther. Und auch nicht Alexis ohne Günther?

Komtess Juliane. Alexis ist eine Gestalt, die man nie und nirgend vergessen wird. Er denkt groß und frei über Welt und Menschen. Er ist umwittert vom höchsten Adel der Menschlichkeit – und immer anders wie alle andern. – Und wer könnte Ihnen den Bruder ersetzen? Ich weiß, daß auch das unmöglich ist.

Graf Friedrich-Günther. Adelaide könnte den Bruder ersetzen.

Komtess Juliane. Armer Günther, Sie täuschen sich.

Graf Friedrich-Günther. Adelaide könnte den Bruder ersetzen! Einstens glaubte auch ich, niemand könne das. Aber dort, wo die Bruderliebe in meiner Brust gesessen hat, brütet jetzt ein ganz anderes Gefühl: wo die Liebe wohnte, regt sich der Haß, und wer wüßte nicht, daß Bruderhaß das fürchterlichste Erbe der Menschheit ist. Ich habe Alexis ein Wort gegeben – ich breche mein Wort und jage mir doch keine Kugel durch den Kopf. Früher hätt' ich gedacht, daß das ehrlos sein würde – heute lache ich den Narren, die es behaupten, ins Gesicht! – Alexis mag mir in allem überlegen sein, in allem, was unter der Erde, auf der Erde und über der Erde ist – und doch halte ich Sie am Gelenk erfaßt, ich! ich! kein Bruder! kein Freund! kein Feind! kein andrer! Ich habe den Vorteil in diesem Augenblick! du bist mein – und bräche der Himmel zusammen!

Graf Friedrich-Günther drückt Komteß Juliane wild an sich. Sie ist überrascht und läßt es geschehen, macht sich dann frei und eilt davon.

Das Posthorn klingt.

 


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