Carl Hauptmann
Schicksale
Carl Hauptmann

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Der Evangelist Johannes

Die breiten Stufen zum Portal einer badischen Landesirrenanstalt schritten ein Gendarm und ein Strolch aufwärts. Und das Verhör, das der junge, braunbärtige Arzt im Empfangszimmer mit dem Strolche vornahm, ergab, daß man es mit einem im Lande aller Deutungslosigkeiten angelangten Fremdling zu tun hatte. Daß des zerlumpten, abgemagerten, verschmutzten Strolches behaarte Ohren nur noch ganz taub der Sprache der Verständigkeit lauschten, ohne zu begreifen. Daß seine braunen Augen Arzt und Krankenschwester und Gendarm und den Pfleger im weißen Leinwandkostüm anstaunten mit unbegreiflich wähnendem Erwägen, als wenn in seinem Wolkenkreise unbekannte Heilige mit ihm gingen. Nichts von irdischem Erfragen und Auskunftgeben über ein Vagabundenleben. Nur als wenn jetzt längst die Zeit gekommen wäre, wo die Seelen der staubigen Wanderer einander kindlich zulächelten und voreinander Lieder sängen.

Der Strolch begann auch mit dem Ausdruck der Achtlosigkeit mitten hinein in alles Reden ein Lied zu singen:

»Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt' Gott, ich wär' in dir!
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat,
Und ist nicht mehr in mir.«

Bis man es ihm freundlich verwies. Der Fremdling sah wunderlich verwahrlost aus. Ein weicher, wolliger Bart war ihm lang und wirr und ein wenig dünn gewachsen. Sein Haupthaar hing wie das eines heiligen Mannes, lang und lockig braun, beinah bis auf die Schultern. Sein Auge war brennender Güte voll, fast weinselig könnte man sagen. Aber nicht vom Weine, sondern von seiner Erleuchtung im letzten, verzehrenden Fieber. Seine Gesichtszüge hatten eine unverkennbare Größe. Und es ist kein Zweifel, daß Arzt, und vorher schon der Gendarm, als der ihn in einem jungen Eichenwalde rauchend und stöhnend im Moose liegend gefunden, eine Anwandlung von Scheu und Ehrfurcht nicht hatten unterdrücken können.

Der Kopf des Mannes war mächtig gegenüber der gänzlich abgemagerten, dürftigen Gestalt, die in einem schmierigen, verblichenen Jackett steckte, und deren Hosen an den Füßen wie zerfranst waren. Des Bettlers Füße waren erdig und nackt und bluteten. Hut und Stock hatte er nicht mehr, der ausdrucksvolle Strolch. Und keine Frage der Umstehenden hallte aus ihm wieder. Das scheue, ruhlose Lächeln suchte verständnislos an den irdischen Gewalten herum, die ihn umgaben. Schon durch das Irrenhausportal und an der Portiermütze vorüber war er mit einer drolligen Demutsgebärde vorübergeschwebt. Und betastete jetzt den Ring am Finger des Arztes und den schweren Säbel des Gendarmen. Und er langte auch nach der eiligen Feder des Schreibers, der am Bureautische saß und vergeblich immer warten mußte, bis aus dem Munde des Arztes einige Vermerke über diesen jämmerlichen Landstreicher kamen.

Der Fremdling redete fortwährend vor sich hin. Er nannte auch ein paarmal den Evangelisten Johannes.

»Meinetwegen!« sagte der junge Arzt, der ein sanfter, aber scharfer Beobachter war. »Lassen wir ihn dabei ... nennen wir ihn einfach den Evangelisten Johannes ... aus sieht er noch eher wie der Täufer ... ih Gott ... ganz egal, was der Mensch jetzt noch für einen Namen trägt ... Johannes in der Wüste ... oder meinetwegen auch Evangelist Johannes ... schreiben Sie also ... der Evangelist Johannes!«

Übrigens war der Strolch trotz seiner Wetterbräune furchtbar bleich und abgezehrt im Gesicht. Der braune Bart umrahmte ganz eingefallene Züge. Und wie ihn der Arzt auch nur flüchtig untersuchte, bemerkte er gleich, daß er zwei große Brüche am Leibe hatte, und gab sofort Befehl, daß man ihn in ein Krankenzimmer und ins Bett schaffte.

Offenbar ging ein Schüttelfrost durch den hageren Leib, obwohl die brennenden Augen ohne Acht innerlich hastig beschäftigt waren. Und neue Fieberideen ihn schon wieder zu beleben begannen. Als man ihn aus dem Empfangszimmer hinausführte, begann er im Korridore von neuem feierlich zu singen:

»Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt' Gott, ich wär' in dir!
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat,
Und ist nicht mehr in mir.«

Er erfüllte mit einem wunderbaren, frommen, schwermütigen Tiefton die steinernen, langen Korridore, in denen Wärterinnen und Wärter hinhuschten. Und ein Irrer, den man vorbeiführte, begann aus seiner stolzen Gebärde in ein narrenhaftes Gelächter überzugehen. Und ließ sich nicht abhalten, dem Gesange des Strolches nachzuwiehern, bis der Evangelist Johannes um die Ecke verschwunden war. Der Strolch schritt mit den Rhythmen des Liedes in frommer Einigkeit verbunden.

Der Arzt hatte es sofort richtig erkannt.

Nur noch die Seele dieses verwahrlosten Menschen lebte und schwärmte. Sie wähnte sich offenbar eines heiligen Berufes voll.

Wie man den Strolch ins Bett brachte, redete er mit weiten Augen, daß er jetzt unschuldig wäre und ganz reingewaschen durch Jesu Blut. Aber er versicherte pfiffig blinzelnd, daß er früher einmal ein Sünder gewesen. »Wer weiß? ... vielleicht sogar ein Mörder ... aber jedenfalls ein Dieb!«

Der Gendarm hatte zuerst an einen guten Fang gedacht. Es war in der Gegend ein Mord passiert. Ein junges Fabrikmädchen war einem verkommenen Lüstling zum Opfer gefallen. Und weil anfangs in dem Eichwalde die geflüsterten Worte des heiligen Vagabunden wie Geständnisse klangen, wie scheues Ausplaudern halber Wahrheiten, so hatte der Gendarm dem untersuchenden Arzt gleich eine solche Erwägung nahegebracht.

Aber der junge Arzt war ein Kenner. Die Phantasien des Evangelisten waren zu feierlich. Seine Bekenntnisse zu geistig. Die Idee von der Reinwaschung schien ihn wie das wirkliche Handwaschen des Pilatus leibhaftig auszufüllen. Aber mit irdischen Wahrheiten hatte seine Fieberseele sonst nichts mehr zu schaffen.

Als der Strolch entkleidet im Bette lag, sah man, daß er ein ganz verhungerter Mann war. Er hatte offenbar schon tagelang keinen Bissen mehr zu sich genommen. Und der Enthaltsamkeits- und Sterbensrausch warf Kiefer und Gliedmaßen.

Essen stieß er von sich.

Wie man ihm zu trinken reichte, trank er wie ein ausgetrockneter Schwamm. Sog er sich schweigend voll. Verstummten lange seine leidenschaftlichen Selbstgespräche. Und eine unbegreiflich lange Zeit sog er richtig, wie Pferde saugen. Und warf sich dann zum ersten Male in die Kissen zurück und schloß die Augen. Er war offenbar zum Tode reif.

Die Brüche waren entsetzlich. Schwarzblau, wie exotische Gewächse. Zum Operieren war keine Zeit mehr. Und das heiße Auge des Mannes verlangte auch nichts mehr von irdischer Hilfe.

Aber sein Gesicht sah in den reinlichen Kissen noch wunderbarer aus. Ein leidender Christus. Ein Mensch mit der harten Stachelkrone des Schicksals. Und vielleicht auch schon mit einer heimlichen Glorie. So daß der junge Arzt das Bett des Kranken noch immer nicht verlassen wollte.

Der Arzt sah es jetzt genau, daß der Strolch ein Jude war. Es war das apollonisch jüdische Gesicht aus Galiläa. Voll Inbrunst.

Ein Sektierer im Flüstergespräche mit Gott konnte nicht heißer in sich hineinbeten. In seinen Händen und dem ganzen Leibe des Fremdlings zitterte ein Gebet wie eine jähe Naturkraft. Der Strolch lag in den Kissen, die langen Haarwülste ums hohlwangige Fleisch, mit unterlaufener Röte in den süchtigen Augen. Neu aufgescheucht. Gleichsam, als wenn er jetzt damit ränge, den Weg zu finden, der aus dieser Welt hinausführte.

Als der junge Arzt unwillkürlich die Kleider des Mannes noch einmal genauer durchfühlt hatte, waren irgendwo aus dem Rockfutter zwei Bücher zum Vorschein gekommen. Ein ganz vergriffenes Neues Testament und ein ebenso verschmutztes, aber selbstgeschriebenes Buch. Zwischen dessen Blättern der junge Arzt einen längeren Brief fand, der offenbar von einer feinen Frauenhand geschrieben war. Und der ihn sofort lebhaft interessierte.

Er las:

»Lieber Johannes! Auch Saulus wurde ein Paulus. Auch Sie waren einmal auf schlechten Wegen. Denken Sie nicht, ich meinte, daß Sie sich eines besonderen Verbrechens schuldig gemacht. Wir alle ohne Unterschied tragen an der großen Schuld der Welt. Wir alle ohne Unterschied sind Mörder des Geschaffenen. Wir alle ohne Unterschied sind auch noch immer die Diebe der Ehre und Liebe und des Ansehens des Nächsten auf allen Wegen. Darum ist diese Ihre Schuld an sich nur die allgemeine Schuld dieser Welt. Auch daß Sie ehemals ein jähzorniger, politischer Mensch waren, und in Ihrem heiligen Rußland als Jüngling unheilige Verschwörungen mitmachten, haben Sie längst in der Peter-Paulsfestung in Ketten und Demut büßen müssen. Auch das Teil wird Ihnen der Himmel gegen das Konto Ihrer Feinde aufrechnen. Oh ... dieser rätselhafte, göttliche Widersinn, in den wir alle verstrickt sind! Für Ihre Gewalttat für die Menschlichkeit wurden Sie dort natürlich ans Kreuz geschlagen. Aber Sie wollen jetzt mehr als ein gewöhnlicher, sündiger Mensch sein. Sie wollen jetzt ein Heiliger sein. Lieber Johannes, jetzt werden Sie Ihr Herz noch ganz anders mit Überfülle Demut speisen müssen. Mit der Demut, die jeder Gewalttat und jeder Schuld sich selber gewissermaßen kühn in die Räder wirft. Sie aufhält mit dem allerentsagungsvollsten Mannes- und Wahrheitsmut. Jetzt werden Sie sich hinwerfen müssen wie ein gemeiner Stein. Mit der großen Tapferkeit der Selbstverachtung und Selbstvernichtung im Blute. Jetzt werden Sie die gemeinen Übel, die das Menschenblut von Grund aus vergiften, in Ihrem Fleische und Ihrer Seele ganz erdrosseln. Werden ein Wahrheitssklave und Selbstverwerfer sein, der die Lüge und den Tod in sich endlich bezwang. Sie Mensch aus Galiläa haben das Christenkreuz auf sich genommen ...«

An dieser Stelle riß der Brief ab. Die weiteren Seiten fehlten.

Der Arzt nahm den Brief an sich und betrachtete noch einmal den wunderlichen Heiligen, der jetzt eine Weile erschöpft und mit geschlossenen Augen dalag. Aber das Gesicht in Königswürde, als wenn ein Überwinder sich der Welt verschlösse. Während seine Pulse hoffnungslos hintrieben.

»Zu helfen ist nicht viel!« sagte der junge Arzt zum Pfleger, der in der weißen Leinwandkostümierung dabei stand.

»Fieber einundvierzig!« sagte der Pfleger.

»Sehen Sie ... er beginnt sein jähes Wortgeflüster mit dem trockenen, blutleeren Munde schon wieder!«

»Man kann nichts verstehen!« sagte der Pfleger.

Man hätte gar nichts verstanden, wenn nicht der Strolch plötzlich einen Frauennamen laut und mit erhobener Stimme ein paarmal herausgeschrien.

Der junge Arzt hatte den Brief noch einmal in die Hand genommen. Hatte auch das selbstgeschriebene Buch flüchtig aufgeklappt. Las auch eine Seite in dem Neuen Testamente. Und war dann wieder in das bleiche Christusgesicht vertieft, dessen Worte jetzt neu bei geschlossenen Augen hinrasten.

»Beobachten Sie ihn gut ...« sagte der Arzt sanft. Dann ging er, den Finger zwischen das Neue Testament gelegt, hinaus, setzte sich in sein Arbeitszimmer, sah Briefe auf seinem Schreibtisch liegen, legte das vergriffene Evangelienbuch des Strolches eine Weile aus den Händen. Griff es doch wieder und las.

»Er hatte keine Gestalt noch Schöne, da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte ... Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit ... Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg ... fürwahr, er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere Schmerzen ...«

Der Arzt begann dann auch in dem selbstgeschriebenen Buche zu blättern und zu lesen. Es waren Bekenntnisse. Hastig mit Bleistift geschrieben. Die Schrift ganz ungleichmäßig. Und einzelne Buchstaben oft sehr groß.

Da stand geschrieben; auf der ersten Seite allein:

»Namen habe ich nicht mehr.«

Auf der zweiten Seite:

»Ursprünglich war ich ein Revolutionär.«

Auf einer folgenden Seite:

»Wißt ihr, was ein Revolutionär ist? ... eine ganz reine, unschuldige Seele, die plötzlich entdeckt, daß die Menschheit ein grün bewachsener Pfuhl aller Laster ist. Und daß auch sie in diesem Sumpfe versinken soll ... Verflucht voraus die hohe Meinung, womit der Geist sich selbst umfängt ... oh du ewige Lebenslüge!«

Auf einer folgenden Seite stand:

»Wißt ihr, was ein Revolutionär noch ist?... eine ganz selige Person, von der Wahrheit besessen, daß die Liebe die alles heilende Wahrheit ist ... oh Jammer ... oh Geißel ... und die einen Dolch nimmt, um hinzugehen und die Lüge zu töten ... mit dem Dolche wolltest du die Lüge töten? ... mit dem Dolche wolltest du die Wahrheit bringen? ... oh du dreimal Verfluchter!«

Auf einer ferneren Seite:

»Die Henker schlugen mich ... daß mir Blut vor Schmerz aus dem Munde und vor Scham aus den Augen sprang ... und sie wollten meinen Kopf abschlagen ... da bin ich auf Verbrecherflügeln entflohen ... oh das war wirklich ein Balancierkunststück ... aus der Peter-Paulsfestung heraus und über die Grenze zu kommen ... und der bettelarme Student balancierte bis Wien ... und saß dann in Wien ... und mußte leben ... also seinen Kameraden Überzieher und goldene Uhren stehlen ...«

Hier waren plötzlich allerlei kleine Blattkonturen und Käfer gezeichnet. Und auf dem nächsten Blatte war eine Libelle mit großer Geschicklichkeit sehr naturgetreu abgebildet. Dann stand weiter:

»Pah ... ich stahl? ... was? ... ich wußte ja damals gar nicht, was Stehlen ist? ... ich wußte ja damals gar nicht, daß Stehlen heißt, das eigene Blut mit der tiefsten Selbstverachtung sättigen, daß dann jeder Blutstropfen Gift ist ... hahahaha ... aber wie ich zu dir, gütigste aller Mütter kam ... da wußte ich es ... mit diesem Geheimnis beladen kam ich ja zu dir, gütigste aller Mütter ... und spann fröhlich mein Schicksal weiter ... oh du gütigste aller Mütter!«

An dieser Stelle hatte ein ausführlicher Name gestanden, der wie eine Adresse mehrfach untereinander geschrieben war. Aber alles war ausradiert. Auf dem nächsten Blatte hatte der Schreiber offenbar mit diesem Wiederholen der Adresse fortgefahren. Man erkannte zweimal die Worte: »An Frau Professor ...« Aber auch hier war sonst alles wegradiert. Und der Name und Ort war durch keine Lupe mehr in seinen Resten zu entziffern.

Dann war im Schreiben wieder fortgefahren:

»Deine Söhne waren Christen ... wie ich ihnen vor deiner Haustür in Jena meine Geschichte, sehr wunderbar demütig zurechtgemacht erzählte ... nämlich ... bis nach Jena war ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis in Wien so fröhlich als Vagabund oder Handwerksbursche durchgedrungen ... da führten mich also deine Söhne gleich als unschuldig Verfolgten, als russischen Märtyrer in dein Haus ... gaben mir ihr Bett ... waren meine Brüder ... und deine Töchter meine Schwestern ... und du warst meine Mutter ... hahahaha ... da hatte ich gleich Brot ... da hatte ich eure Liebe ... da plauderte in mich euer Denken ... da streichelte mich euer Glaube ... hahahaha ... daß ich je aufhören kann zu lachen, um diesen Satz hinzuschreiben ... hahahahahahahaha ... meine Lüge behielt ich doch für mich . .. hahahahahahahaha ... ich hatte ja in Wien als ganz gemeiner Dieb Überzieher und goldene Uhren gestohlen ... und fünf Monate im Gefängnis gesessen ... und meine Lüge behielt ich doch für mich...«

Und die Schrift wurde hier immer inniger und edeler. Fast wie von einer Frauenhand schön.

»Und liebte euch, neue Brüder ... und liebte euch, neue Schwestern ... und liebte deine feinen Hände, Mutter ... daß ich sie mir hätte können das Leben lang heilend auf mein gejagtes Herz pressen ... und war selig in eurer Gnade ... und las mit euch die höchsten Philosophien ... den göttlichen Platon ... und las mit euch sogar das Evangelium ... und zerbrannte heimlich mein Herz ... und kroch heimlich wie ein Hund herum ... hahahahaha ... denn meine Lüge behielt ich doch für mich ...«

Hier begann die Schrift hart und sinnlos groß zu werden. Gewissermaßen von einer ungebärdigen Hand geschrieben.

»So wurde ich ganz in eurer Liebe heimisch ... manchmal richtig aufgescheucht in die Hoffnung, daß ich doch endlich die Kraft gewönne ... daß ich doch endlich noch vor euch hintreten würde, meine Sünde von Grund aus zu bekennen und zu sprechen: ›Ja ja ... ich war wirklich nur schon ein ganz gemeiner Dieb ... ich habe wirklich mit niedrigster Selbstsucht meine Mitstudenten schamlos bestohlen ... jetzt bekenne ich es ... auch wenn ihr eure Gnade von mir wendet ... jetzt bekenne ich es ... aber die Zeit kam nie ... die Kraft kam nie ... die Lüge saß eingefleischt in meinem Fleische ... ich war ja ein Sträfling ... ich war ja ein Dieb ... ihr hattet ja nur einen verwahrlosten Strolch in euer Haus aufgenommen ... hahahaha ... ich hatte euch ja nur die Hauptsache verschwiegen ... und eure Liebe bedeutete mir jetzt schon die Seligkeit ... ich wollte jetzt nicht mehr ein Verstoßener sein ... einer, den vielleicht noch Christus am Kreuze angesehen ... den die anderen einfach von ihrer Schwelle weisen ... hahahaha ... ich galt euch ja schon als ein Philosoph ...‹«

Hier war plötzlich ein kleines Kircheninneres gezeichnet. Vor dem Altar lag auf den Knien ein Mann, offenbar ein bärtiger Mann, vor einem bärtigen Geistlichen. Und eine kleine Gemeinde von Frauen und Männern stand neben dem Taufstein. Dann war auf einer anderen Seite fortgefahren.

»Ich galt euch ja schon als Philosoph ... mich umgab schon Ruhm ... die Ehre eines jungen Weisen ... sogar schon die Ehre eines sich religiös erneuernden Lebens ... ihr saßt ja dann in der kühlen Kirchenwölbung und sangt mich Juden gläubig mit euren heiligen Frauenstimmen ... und mit euren reinen Frauentränen wuscht ihr mich rein zum Evangelisten Johannes, der vor dem Altare kniete ... hahahaha ... so ein heiliges Bild für dreitausend Teufel, daß sie gleich in ein schreiendes Wiehern über euch harmlose Duselanten ausgebrochen wären ... denn meine Lüge behielt ich doch für mich ... das glühe Eisen der Lüge hatte ich quer durch mein Herz gespannt ... und war ausgestoßener wie ein Dämon ... wie ein dreimal verachteter Selbstverächter ... den es dann mit Jammergeschrei ruhelos durch alle Lande trieb ... fort ... fort ... durch Italien ... durch Frankreich ... ein Sträfling ... der allen Wahn weggeworfen ... weder Jude noch Christ ... die jämmerlichste, feigste Lüge ... die mit der Scheuheit des hitzigen Tieres in den Wäldern sich verkroch ... wo Gendarmen sie griffen ... immer die jagende Not als Weggenossen ... immer auf der Flucht ... vor euch allen ... auch vor dir, du gütigste aller Mütter ... damit du nicht noch einmal an dem räudigen Hunde zur Samariterin würdest ... oh du herrliche, betrogene Mutter!«

Der junge Arzt las mit Leidenschaft.

Die Selbstbekenntnisse waren mit großem Pathos verfaßt. In einer Hülse unter dem Umschlag des Buches fand sich auch noch ein Zeugnis vor. Offenbar ein Zeugnis aus einer Anstalt für Mission. Der Name »;Evangelist Johannes« stand unversehrt. Aber der bürgerliche Name war auch hier ausradiert. Und dabei stand sehr geordnet: »;Stellung als Evangelist einfach verlassen. Besser ins Namenlose untertauchen. Die Lüge hat meinen Namen erwürgt. Die Feigheit hat meinen Namen erwürgt!«

Auch das Datum war unversehrt und zeigte, daß sein Wandern vor anderthalb Jahren erst begonnen hatte.

Es waren auch allerhand Insekten, Käfer und Spinnen, und ein paar Schmetterlinge sehr peinlich und genau in ihren Flügelzierden in dem Buche am Schluß abgebildet. Und auf den letzten Seiten fanden sich mit sehr unleserlicher Schrift verwirrter immer dieselben Bekenntnisse. Noch einmal stand ganz klar:

»;Kein Außen ... kein Innen ... alles in einem Blute ... das Fieber, das wie ein Natterngeschwür das Leben zerfrißt, ist Blüte und Frucht der Lüge.«

In diesem Sinne drehten sich alle seine Bekenntnisse nur immer um die eine Pein, daß er seinen Heimatgebern sogar bei seiner Taufe die niedrigste Schmach seines Lebens verschwiegen hatte.

Als der Arzt die Lektüre beendigt hatte und sofort wieder in das Krankenzimmer zurückging, begann gerade der verzehrte Mensch im Bette Worte herauszuschreien.

»;Oh du gläubige Mutter... oh du gesegnete Mutter ... oh du herrliche, betrogene Mutter... du bist dort ... ich bin noch hier ... Mutter ... Mutter ... erscheine ... jetzt bekenne ich ... jetzt bekenne ich!« so schrie er. Und wie man versuchte, ihm ein Medikament nahezubringen, geriet er in Jähzorn. »;Fort ... fort ... ich will die Lüge nicht trinken ... ich will die Lüge nicht trinken ... jetzt entweiche ich ... du süßeste, hunderttausendmal betrogene Mutter ... dein Glaube wächst jetzt in mir ... erscheine ... ich bin Johannes ... erscheine ... erscheine ... jetzt bekenne ich ...« Und immer gewaltiger schrie er: »;Schwäre am Leibe ... Brüche ... und Lüge ... dreimal verflucht ... erscheine ... erscheine nun bin ich doch dein Sohn ... nun bin ich doch der Evangelist Johannes ... jetzt wird endlich Wahrheit ... !« so schrie jetzt der Kranke mit einer ganz monumentalen, unheimlichen Feierstimme.

Dabei hatte er versucht, sich im Bette vollends aufzulichten und begann nun laut in die Luft hineinzubeten. Aber bald vermochte er doch die Worte wieder nicht mehr in Grenzen zu halten. Und er schrie neu: »;Fort der Sträfling ... fort der Dieb ... fort der Feigling ... fort das Leben ... erscheine ... fort die Lüge ... er scheine ... ich bin jetzt die Wahrheit ... jetzt bekenne ich!«

Schließlich gab der Arzt Anordnung, daß man ihn mit einer Einspritzung ruhig machte.

Aber es war eine gewaltige Sterbensgeste.

Niemand konnte im Zweifel sein, daß man einen Befreiten, keinen demütigen, mit Lüge beladenen Mann mehr vor sich hatte. Einen, der mit triumphierender Gebärde das Staubgewand von sich warf.

Bis dann der Schrei an seine allergütigste, hundertmal betrogene Mutter, die er noch immer herzurief zu seinem Siege, noch ein paarmal lallend aus ihm ausging, wie das Betäubungsmittel endlich wirkte.

Dann war der verwahrloste Heilige tief in Schlaf gesunken, ohne noch einmal wieder zu erwachen.


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