Carl Hauptmann
Schicksale
Carl Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Baron Bercken

Baron Bercken war zuerst in Generalsuniform in das Dorf und den Badeort gekommen. Ein Mann von straffer, jugendlicher Haltung, ohne allen Zwang, und mit einem warmen, sicheren Blick. Noch kränkelnd.

Es war kurz nach dem siebziger Kriege.

Er war gekommen, um eine Beinwunde auszuheilen und an dem perlenden Gesundbrunnen des Ortes seine alte Kraft wieder zu gewinnen.

Wenn Baron Bercken damals am Brunnenrondel stand, wo die reinlich geschürzten Brunnenschöpfer die kühlbelaufenen Becher reichten, sah man, daß seine Hand schlank und vornehm war, fast zu zart, wenn man bedachte, daß er im kaum verflossenen Feldzuge mit seinem kühnen Säbelschwunge wiederholt seine Brigade erfolgreich gegen überlegenen Feind zur Attacke geführt. Und man sah auch, daß er an der rechten Hand, die er beim Ergreifen des Trinkglases von dem weißen Handschuh entblößte, einen großen, roten Stein trug. Mit der linken, behandschuhten Hand stützte er sich auf einen Stock, weil er von seiner Beinwunde noch immer eine Schwäche hatte und trotz seiner vortrefflichen Haltung leicht hinkte.

Baron Bercken war etwas über mittelgroß. Seine Bewegungen hatten eine gewisse Hoheit, und eine Sicherheit, wie die eines gnädigen Kenners.

Die einfacheren Gäste am Brunnenrondel traten sogleich zurück, wenn er herankam.

In seiner Alt lag die Verbindlichkeit der Macht.

Die vornehmeren Gäste, besonders die vornehmen Damen in ihren losen, blumigen Promenadenroben, die ihn alle persönlich kannten, und ihn nicht nur wegen seines Kriegsruhmes und seiner beiden Eisernen Kreuze, noch mehr wegen seiner immer geistreichen, und immer gütigen Laune verehrten, nahmen stets ein gleichmäßiges Lächeln an, auch wenn sie nur stumm dabeistanden und zusahen, wie der braunäugige, nur leicht ergraute Herr den kühlen Brunnenbecher Schluck um Schluck eintrank.

Baron Bercken hatte immer Späße im Sinn.

Wenn er sich mit der Gräfin Sonderhausen unterhielt, die eine leidenschaftliche Reitdame war, und noch im Reitkostüm nach ihrem Morgenritt am Brunnen erschien, kam er gleich auf seine Pferdeerfahrungen aus dem Kriege. Und er verstand es, auf prachtvolle Weise Pferdecharaktere zu schildern.

Stattlich forthinkend an seinem kräftigen Stabe, der einen goldenen Griff hatte und ein persönliches Geschenk des Kronprinzen Friedrich Wilhelm war, redete er mit einem sehr sanften, tiefklingenden Tone und mit kurzem Gelächter.

»Auch Pferde kann man erst in Schicksalszeiten wirklich erkennen,« sagte er einmal. »Und zum Beispiel Menschen oder selbst ganze Völkerstämme, deren Pferde ihnen Kameraden in den Mühsalen und Gefahren des Krieges werden, gewinnen eine ganz andere Beziehung zu der Seele dieser Tiere, wie z.B. ein Brauerkutscher!«

Und dann schilderte der General, welche tiefen Unterschiede sich in den Pferdeleibern unter ihm in den Zeiten der Schlacht und beim Überreiten der Schlachtfelder, wenn selbst Gemetzel und Tumult längst geschwiegen, fühlbar gemacht hätten.

»Was gibt es nicht für herrliche Pferde!« rief er. »Da habe ich einmal einen Ritt von beinahe dreißig Stunden gemacht ... ich hatte eine Depesche des Prinzen Friedrich Karl an den Kronprinzen zu bringen ... mit ungeheueren Umgehungen ... es war ein höchster Vertrauensauftrag ... von einer Hauptarmee zur anderen ... sechsundsechszig ... ich war damals noch Major bei den Zietenhusaren ... potz Blitz ... was das für ein Pferd war ... das war wie ein Fluß, auf dem ich schwamm ... eine sanfte Welle, auf der ich mich vorwärtsschob mit Windeseile ... je weiter ich kam, desto windeseiliger, geräuschloser und sicherer flogen wir geradeaus ... nur mußte ich in den Dörfern scharf achtgeben ... denn allein der Blutgeruch, das war etwas, vor dem die gute Stute, die braune Clotilde, sofort stachlige Haltung annahm, die Ohren warf und die Nüstern prustend blähte ... jeder Fleischerladen brachte sie richtig auf!«

Und weil die Gräfin Sonderhausen, die im Reitkleide neben ihm ging, sehr heiter lachte, sagte der hohe Herr mit den zwei Eisernen Kreuzen manches weiter. Daß es Pferde gäbe, die hätten Seelen wie grobe Klötzer. Die schritten über Leichen, wie über Steine oder Holzstangen. Und wieder andere, die wären davon derart bis ins Innerste aufgewühlt, daß es sich dem Reiter geradezu peinigend mitteilte.

»Wissen Sie, gnädigste Gräfin!« sagte der General, immer sehr vertieft, achtlos den kurzgestutzten, noch ganz braunen Vollbart streichend, »Die braune Stute Ilse, womit ich den berühmten Ordonnanzritt machte, war so aufgebracht, als ich nachträglich über das Königsgrätzer Schlachtfeld ritt, daß sie starr wurde wie eine Hypnotisierte ... und daß nur mein beständiges, rücksichtsloses Spornen das schlanke, edle Tier überhaupt zum Vorwärtsschreiten nötigen konnte ... und es lief, nur aufs Äußerste alle Muskeln angespannt ... den Leib blähend ... und die Nüstern blähend ... und fortwährend mit einem tiefen, aufdringlichen, unheimlichen Gestöhn!«

Baron Bercken hatte mehrere Kriege mitgemacht. Und man fühlte es Blick und Hoheit und Mildigkeit an, daß auch er in den Stunden der Schlachtenschauer heimlich erbebend auf dem Rücken bebender Tiere über die Jammer der blutigen Menschensaat hinweggeschritten, doch streng aufrecht gehalten und wie ein Mann ohne Wanken.

Baron Bercken war damals fünfzig Jahre alt. Trotz aller Haltung ein Invalide.

Verheiratet war er nie gewesen.

Als er zum ersten Male noch als Verwundeter in das Dorf gekommen war, hatte er nicht gewünscht, daß viel Wesens um ihn geschähe.

Sein Diener, der auch beide Feldzüge um ihn gewesen, und der ihn die ersten Wochen noch in einem Wagen vor sich her in das Badehaus gefahren, hatte gleich Befehl gehabt, ein Logis ganz in ländlicher Stille zu suchen, »im Grünen ... unter blühendem Flieder ...!« (denn es war Mai, als er zum ersten Male kam), »ohne Zwang ... ohne Rücksicht ... ohne Menschen ... nur in tiefster Ruhe ... und in großer Reinlichkeit ... und im Sommer dann vielleicht ... wenn die Kur sich doch länger ausdehnt ... unter einem vollen Jasminstrauch und in einem Gärtchen mit ein paar blühenden Rosen!«

Da war der Diener auf die kleine Seite im Orte gegangen, in ein schneeweißes ländliches Häuschen, in dessen Fenstern noch reichlich Winterblumen blühten, mit einem blumig hergerichteten Vorgärtchen, und mit einem reichlich mit Jasminbüschen und wohlbeschnittenen Rosenstämmchen und einer lauschigen Heckenlaube bestellten Garten hinterm Hause, gegen die Felder. Und dort im Schutze einer Waschfrau Zille, einer etwa sechsunddreißigjährigen, immer tätigen, immer auch launigen Frau, die eine einzige, kräftige Tochter von etwa dreizehn Jahren besaß, war es dem vornehmen, herrischen Sonderling sofort wohl geworden.

Wenn Baron Bercken zuerst noch in seinem Krankenwagen in dem kleinen Flieder- und Jasmin- und Rosengarten der Frau Zille saß, las er viel.

Er las schon damals hauptsächlich Schriften über Dante.

»Der Herr Baron lesen immer!« sagte Frau Zille zuerst noch sehr scheu, wenn sie einmal selber vor ihren noblen Gast hatte treten müssen.

»Potz Blitz!« sagte dann der noch kränkliche General lustig. »Wenn man von Kindesbeinen an nur immer in der Uniform gesteckt hat, betrachtet man die Welt doch auf eine zu besondere Art ... ich muß jetzt endlich einmal untersuchen, was es auf dieser Erde noch für Ideen gibt, außer den Exerzierreglements ... und der ganzen militärischen Zucht, die nur darauf gerichtet ist, daß sich die Völkermassen kunstgerecht über den Haufen rennen, wenn es einmal drauf ankommt ... hören Sie einmal an, meine liebe Frau Wirtin ... da bin ich in der Tat noch rechtzeitig auf einen Mann gestoßen, der mir wirklich reichlich zu denken gibt ... Sie können gar nicht glauben, wie glücklich ich mich fühle, wenn ich jetzt so in tiefster Ruhe in Ihrem Garten sitzen kann und lesen ... haben Sie den Namen Dante schon einmal gehört? ... nein ... Sie haben ihn sicherlich noch nie gehört ... ich hatte ihn zwar da und dort im Leben doch schon gehört ... aber was er eigentlich bedeutete, davon hatte ich so wenig eine Ahnung wie Sie ... Potz Blitz ... dieser Name bedeutet eine ganze Zauberwelt ... wenn man sich wirklich die Mühe gibt, diese ganze Welt vor den eigenen Augen aufzubauen ... wissen Sie ... so im Geiste ... daß man sie sieht wie einen Weltplan ... daß man durch wandern kann ... so wie man in einem ganz hellen Traume wandert... und nur sieht und staunt ... ich bin schon vollkommen drin ... leidenschaftlich drin ... ich habe alles andere schon fast vergessen ... nun gar die Strapazen des Krieges ... davon weiß ich wirklich gar nichts mehr ... ich bin nur noch in Dantes Himmel und Hölle«, sagte er mit einer geradezu kindlichen Erregtheit, und offenbar froh, daß er eine Seele gefunden hatte, die kein Wort dazu sagen konnte, nur auch lachen und mitstaunen.

In dieser Zeit war auch die blonde Julie, die dreizehnjährige Tochter der Frau Zille, ein für ein Dorfmädchen ungewöhnliches Kind, oft dem sanften Sprechtone des vornehmen Mannes nahegeschlichen. War hinter die Büsche im Garten geschlüpft, wenn die Mutter mit dem General sprach. Und hatte oft noch lange zwischen Büschen und Hauswand zusammengedrückt gestanden, um den alten Herrn, der mit Generalstreifen vor der Laube saß, in seiner Vertiefung in die dicken Bücher ja nicht zu stören. Aber wenn sie der General dann und wann doch entdeckt hatte, hatte er sie herangewinkt, hatte ihr auch wohl ein Täfelchen Schokolade einmal hingereicht und hatte mit ihr schließlich ein paarmal in der Abendsonne Mühle gespielt.

Julie war ein kräftiges Mädchen. Ein auffällig weibliches Kind. Mit sehr großen, und sehr tiefen, blauen Augen. Und mit ganz weizenblondem und sehr reichem Haar. So daß sie zwei dicke Zöpfe um ihren sehr kräftigen Kopf legen konnte. Ihr Gesicht hatte eine sanfte, gleichmäßige Rosenröte. War voll. Auch mit ungewöhnlich vollem Kinn und kräftigen, preiselbeerroten, leicht aufgeworfenen, sehr beweglichen Lippen. Sonderlich verkniffen in den Mundwinkeln, so daß sie auf eine sehr persönliche Weise drollig lachte. Noch dazu ganz ohne Ton. Wobei sie zwei tiefe Grübchen neben die Mundwinkel bekam. Die kleine Säule von Hals war milchweiß. Nur etwas dem linken Ohre zu hatte sie eine flache, ziemlich große, rehbraune Warze, die sie übrigens mit ihrer Mutter gemeinsam besaß. Aber auch ihre Gestalt hatte etwas Auffälliges. Nicht nur wegen der sommerlichen Helligkeit und Wärme, die über ihr ausgebreitet lag: Gestalt und Bewegung waren bei aller Jugend und Kraft voller Ruhe. Etwas ganz Bodenständiges und Zuverlässiges lag in dem Ebenmaß ihres ziemlich großen Wuchses und der jugendlichen Rundungen.

Baron Bercken begann in dieser Zeit, wenn er aus Dante aufsah, auch die Erde neu und scharf zum ersten Male anzusehen. So hatte er an einem Nachmittag lange meditierend nicht nur eine Reihe Blüten des Jasmin unter der Lupe genau und eindringlich untersucht. Er hatte sich auch in das Bild dieses halbwüchsigen Dorfmädchens wie ein Sinnierer vertieft. In seinen langen Selbstgesprächen, wie er sie jetzt in seiner Einsamkeit oft laut vor sich hinredete, sagte er einmal: »Nein ... so weiter wäre es nicht gegangen ... man darf Menschen und Dinge mit den eigenen Blicken nicht bloß so flüchtig abstreifen, wie die Zofe den Fauteuil mit dem Flederwisch ... Augen sind Tore ... man muß Menschen und Dinge tiefer hereinspazieren lassen in seine Seele!«

*

Das war etwa im ersten und zweiten Sommer so gewesen.

Denn auch den zweiten Sommer war Baron Bercken wegen seiner noch immer angegriffenen Gesundheit wieder bei Mutter Zille eingezogen.

Aber dann war der General, nicht mehr in Uniform, Jahr um Jahr wiedergekommen. Immer Dante lesend. Jetzt freilich schon mit einem ganz anders sachlichen Enthusiasmus. Weil es in seiner jähen Natur lag, nichts halb zu tun. Weil er Dantes Himmel und Hölle jetzt schon wie ein entschlossener Eroberer ganz begriff.

Damals hingen seine Zimmer voll großer Grundrisse. Das ganze, sonderbare Weltsystem dieses mittelalterlichen Sehers konnte Baron Bercken wie Michelangelo den Grundriß von Sankt Peter hinmalen. Er wurde immer mehr ein überlegener Kenner. Er übersetzte. Und kommentierte. Er kannte peinlich genau jede Fassung anderer Übersetzungskünstler. Und wenn jetzt Frau Zille manchmal als staunende und gläubige Seele in den Garten oder in die Laube vor seinen reichbelegten Arbeitstisch trat, die heranwachsende, blonde Julie oft ein wenig scheu dahinter, konnte sich die Alte wahrhaft über die Lebensfrische und Fülle des immer mehr genesenden Mannes heimlich entzücken. Er erzählte ihr dann allerhand. Er zeigte ihr Bilder, wie Dante und Virgil in den Schauern der Hölle stehen. Er erzählte ihr auch von seinen Mitarbeitern. Er vergaß nie vor König Johann eine tiefe Reverenz zu machen, ganz wie ein vornehmer Soldat immer von einem echten König redet.

»Das war ein König!« sagte Baron Bercken, »der bei allen Königswürden und allen Machtgeschäften nicht nur die Sehnsucht nach einer großen Geistwelt trug ... der sich auch die harte Mühe nicht verdrießen ließ, eine solche Welt eines ganz Großen leibhaftig in sich aufzubauen ... und sehen Sie, liebe Frau Zille, das muß jeder, der eine Geistwelt in sich besitzen will ... ich war bisher ein General ... ein Kriegsmann ... und habe mit Leib und Leben meinen Soldatenberuf ausgefüllt ... jetzt baue ich nur noch meine Seele auf!«

Und die Waschfrau Zille staunte ihn dann noch mehr an. Und die großäugige, tief blauäugige Julie mit den dicken, blonden Zöpfen um das liebliche, kräftige, helle Gesicht stand mit ihrem vollen Kinn und den lächelnden Grübchen schamhaft hinter der Mutter. Denn sie begann eine Jungfrau zu werden. Sie erbebte heimlich von der frischen, mannhaften Laune und Schwärmerei des Generals. Und wenn sie dann allein mit der Mutter in der kleinen Küche stand, behauptete sie sogar, daß Baron Bercken, wenn er so fröhlich spräche und kurz lachte, wie ein frommes Mädchen aussehen könnte.

»Ach du ... nee, Unsinn!« sagte dann freilich Frau Zille dagegen, »das kann ich nicht finden ... der Herr General ... der ein so strenges Gesicht machen kann wie ein Polizist!«

Darüber konnte Julie richtig ungehalten sein. Sie hatte eine sanfte Zärtlichkeit im Wesen.

»Ach ... du verstehst mich nicht ... das meine ich ja gar nicht!« Dabei konnte ihr offenes, helles Gesicht wenigstens an der sonst klaren Stirn eine schmerzvolle Düsternis annehmen, die freilich schnell unter einem flüchtig klingenden Lachen schwand. »Ich meine doch bloß ... so das Kindliche ... das Andächtige ... das der Herr Baron in seinen Augen haben kann ... wenn er so von seinen Ideen erzählt ... übrigens, Mutter... wenn du seine Hände richtig ansiehst ... und seine Fußgelenke ... na ... weißt du ... da sind meine Hand- und Fußgelenke wie von einem gehörigen Bauerntrampel ... ich habe keine Rehgelenke!« sagte sie, fast ein wenig dabei wie von heimlichen Gedanken errötend. »Ob er alt oder jung ist, das vergesse ich auch immer ... wenn er mit mir Mühle spielt, Mutter, wird er manchmal wie ein Junge!«

»Sei nur vorsichtig, daß dir der Herr nicht zu nahe kommt!« sagte dann wohl die Mutter Zille aus ihrer resoluten Lebenserfahrung. »So ein vornehmer Herr ... wenn er auch noch so ein sanfter und feiner Mann ist ... und das ist unser General wirklich ... das Zeugnis muß man ihm geben ... ich sag dir's ganz offen, Mädel ... schließlich könnte ich es einem Weibe auch nicht verdenken, wenn die einem solchen Manne ... mit einer solchen reichen Erfahrung ... und so fein und nobel, wie der sein kann ... na ... ich werde gar nicht weiter reden!«

*

Da war wieder einmal Sommerleben ins Dorf gekommen. Die Erntewagen mit goldenen Bergen ratterten die Dorfstraße entlang und schwankten unter die Scheunenstände. Draußen im Felde ging der warme, leise Sommerwind mit verlorenen Ähren zwischen den schweißigen Schnittern spielen. Und volle Ähren hingen in den überblühten Wildrosenbüschen am Raine.

Da lief der alte Baron Bercken, denn jetzt war er schon fünfundfünfzig Jahre alt, und hatte weidlich manches Ding aus der Welt nicht nur mit seinen braunen Augen flüchtig gestreift, er hatte manches Ding und Wesen aus der Welt richtig durch die Tore seiner Augen in seine Seele hineinspazieren lassen. Da lief der alte Baron Bercken erfüllt von einer seltsamen, ihm ganz unbekannten Unruhe seiner Herzschläge durch das hintere Rosengatter des kleinen Gärtchens der Frau Zille hinaus in die Felder. Er trug eine leichte, feine, braune Lederjoppe. Und wieder einmal zur Abwechslung ein paar alte Generalshosen mit Streifen. Sein Gang war immer ein wenig hinkend. Aber sein ergrauter Kopf aufgereckt und frei im Winde.

Die braunseidene Mütze schwenkte er leicht in der Hand. Da stand der vornehme, stattliche, jetzt sehr versunkene Betrachter von Dantes Himmel und Hölle, aber auch der Welt, lange im freien Felde, griff Halme, die er Korn um Korn ausknapperte. Brach wilde Rosen und steckte sie in sein Knopfloch, nachdem er ewig wie ein Kenner ihre unscheinbare Schönheit bewundert. Denn neben Dantes Paradies mit der seligen Beatrice hatte sich schon längst ein kindlicheres Paradies, nur mit wilden Rosen an Wiesenrainen durchblüht, nur mit Lerchenliedern im Blauen, mit fröhlichem Erntetun, mit der sonnengeröteten, kräftigen Julie mitten unter Mähderinnen und Schnittern in sein Auge und Blut gestellt.

Baron Bercken lachte vor sich hin zwischen den Gesang der Bienen und Hummeln, die der Sommerwind brummend vorbeitrieb, wenn er auch nur einmal nicht an Julie dachte.

»Fünf Jahre alt bin ich,« rief er den summenden Hummeln in den Sommerwind nach. »Fünf Jahre alt bin ich!« rief er richtig ausgelassen. »Denn seit fünf Jahren erst erkenne ich die Menschen und die Erde!« Und er sah mit sehnsüchtigem Blick über einige schon leere Stoppelfelder hinaus, bis hin wo Julie zur Aushilfe mit in der Ernte kräftige Arbeit tat.

»Fünf Jahre alt bin ich!« rief er von neuem voll einer ihm lange fremdgewesenen Lebenslust in die Lüfte und hinkte mit Haltung immer näher, verbarg sich hinter einem Wildrosenbusch, zog seinen Feldstecher heraus, und hatte jetzt den halbgetürmten Erntewagen als ein kristallklares Bild ganz wie nahe vor sich, sah Julie scharf und genau, sah, wie sie ihre jugendlich volle, kräftige Gestalt im braunen Rocke und losen Leinenhemd reckte, eine Getreidepuppe mit ihren sommerbraunen Armen neben dem Wagen hochstützend, während in der Spannung der Arbeit sich das volle Kinn noch mehr vorstreckte, und die Lippen zärtlich offen standen.

»Fünf Jahre alt bin ich!« so ging es Baron Bercken immerfort wie eine fröhliche Melodie im Blute um. Und er redete mit Lachen: »Ich habe die Welt nur immer in tausend Kleidern und tausend Würden gesehen ... jetzt sehe ich sie zum ersten Male in der richtigen Kostümierung und in der richtigen Sonne.« Und er vermochte nicht, seinen neuen Überschwang zurückzudrängen: »Oh Julie ... Potz Blitz ... wie sie heben kann ... wie ahnungslos ist sie ... wie schamhaft und sanft kann sie sein ... wie jung und gesund ... seht einmal an!« Denn er blickte fortwährend jetzt durch den Feldstecher in die Ferne hinüber. »Das gibt jetzt gar ein regelrechtes Fechten ... zwischen Julie und dem alten Bauersmann ... kühn ist sie ... immer drauflos ... mit den Heugabeln ... hahahaha ... sanft lacht sie immer... aber streng ist sie gleich, wie ein kleiner Stier!«

Baron Bercken war in dieser Zeit kindlich und scheu, wie nie im Leben. Er hatte im Leben eigentlich Frauen nur immer nebenher angesehen. Obwohl er im äußeren Verkehr der verbindlichste Mann war. Aber jetzt wagte er kaum zur Mutter Zille einmal ins Zimmer zu treten. Und wenn er gar Julie von weitem im Felde kommen sah, ein weißes Tüchel um die weizenen Haare, die darunter ein wenig hervorquollen, drehte er mit heftigen Herzschlägen um, und ging trällernd heimwärts, trällernd und gelassen, bloß um die heimlichen Erzitterungen des Blutes wieder ganz stille zu machen, die in diesem Sommer ihn nachgerade richtig peinigten.

Auch Julie, wenn sie jetzt den Baron Bercken auch nur von ferne sah, ging langsam.

Auch in ihr war manchmal in heimlicher Unruhe, die flüchtig kam und ging, etwas Unklares laut und lebendig. Blut hat mit dem Blute leise Sprache. Die nur Augenblicke deuten. Wenn sie den General so stattlich heimhinken sah, blieb auch sie oft stehen und sah bis ans Ende des Lichts.

Julie wagte ebensowenig jetzt, in den Garten, wo Baron Bercken noch immer arbeitete, frei hineinzutreten. Sie wagte nicht einmal vom Felde durch den Garten hineinzuhuschen. Und wenn er von Frau Zille etwas erbat, sträubte sie sich, den Dienst zu tun, und bat die Mutter inständigst, sie in Ruhe zu lassen.

*

Da hatte, wie der Herbst herankam, es war Ende August, Baron Bercken einen plötzlichen Entschluß gefaßt. Er war lange im Garten um das Rosenrondel gewandert, offenbar innerlich zernagt und beschäftigt, und lange nicht recht einen Ausweg sehend. Seine Haltung war strenger wie gewöhnlich. Und er hatte sich stundenlang auch gar nicht um seinen Diener gekümmert, der wiederholt schon am Gartentürchen gewartet hatte, weil sein Herr über dem tiefen Grübeln und Mitsichringen die Mittagsmahlzeit unbeachtet gelassen.

Aber dann endlich lag über dem Baron Bercken eine richtige Freudigkeit.

»Mittag ist verpaßt ... ganz gleichgültig ... ich habe manches Mittag als Soldat verpaßt ... gib mir ein Stück Schokolade ... ich habe noch keine Zeit zu essen ... wenn ich nur heute nicht die Hauptsache verpasse!« sagte er zu seinem Diener. Er trug auch heute wieder die braune Lederjoppe, hatte die Generalshosen an, und den Goldknauf seines Stockes mit der brauen Seidenmütze in der Hand. Er ging in die Felder. Er wußte, daß Julie immer einsam an einem bestimmten Raine von der Grummeternte heimkam.

Da war Julie recht eigentlich in der Ferne schon richtig erschrocken. Sie hatte dem Schritte und der sonderbaren Entschlossenheit, die sich in dem Herannahen des vornehmen Herrn ausdrückten, sofort ein sehr deutliches Gefühl entnommen.

Julies Herz begann sogleich bis in Hals- und Stirnadern zu schlagen. Sie konnte einen Augenblick gar keinen Schritt weiter tun. War stehen geblieben. Obwohl der General noch mindestens hundert Schritte entfernt war. Sah schamhaft ins Gras nieder, und wurde noch einmal so rot, wie sie schon war, obwohl sie schon vorher wie eine Päonie glühte. Und dann wußte sie nicht, während ihr Blut in allen Adern feuerte und stach, ob sie nicht doch wegspringen sollte. Obwohl ihr Herzensgefühl sie zu dem aufrechten Manne nicht wie zu einem Vater, sondern wie zu einem richtigen Liebhaber leidenschaftlich, aber freilich auch befremdlich und ziemlich hoffnungslos hinzog.

Aber Baron Bercken hatte einen herrischen Blick in allen wichtigen Lagen des Lebens. Und es dünkte ihn jetzt auch, daß er selbst im Felde nie eine solche jagende Pulsation in seinem Körper durchgemacht. Er war aufgerichtet. Und furchtbar ernst. Und weil er fast fürchtete, daß das Mädchen ihm in dieser einzigen, wichtigsten Minute doch entlaufen könnte, wollte er ihr schon einen strengen Befehl zurufen. Denn so überkam ihn die Angst. Da hatte er es gesehen, daß Julie, ohne daß auch nur ein Laut seinen Lippen entfahren war, ganz sanft und demütig auf ihn zukam.

So standen die beiden nun mitten im Sommerfelde, umbrummt von Bienen und Käfern in Herbstsonne, ganz einsam voreinander. Und wie die Liebe so die Menschen verwandeln kann, war auch von dem grauhaarigen, alten Baron Bercken das Alter und die Würde völlig abgefallen.

Baron Bercken stand so schüchtern da wie ein Jüngling.

Schüchterner konnte auch die junge, hochgewachsene, überrote Julie nicht erscheinen, deren Blut jetzt fast ganz aus den vollen Zügen zu weichen schien.

Baron Bercken stand so überströmt von innerem Erleben, daß er nicht eines Wortes lange Zeit mächtig war. Auch nichts weiter wagte, als die junge Julie an der Hand zu fassen und allmählich mit der anderen Hand ihre Hand leidenschaftlich versunken zu streicheln.

In den Ohren gellte die Einsamkeit beiden. Und sie hätte vielleicht noch weiter gegellt, die Einsamkeit. Auch wie Baron Bercken seinen Blick innig warm in Julies Blick ansog. Und aus ihren blauen Augen in der tiefen Stummheit eine freie Antwort auf die Frage heraussaugen wollte, die ihn jetzt heimlich ganz ausfüllte und erdrückte.

Da war Julies unschuldige Jugend plötzlich so kindlich liebend aus ihren Augen herausgesprungen, daß sie die seinen Hände des alten Generals, der wie jung leuchtete, zärtlich ergriffen, sie mit ihren vollen Küssen über und über in selbstvergessener Leidenschaft bedeckt hatte, und sie dabei nur immer vor sich hinflüsterte: »Ich will Ihr Weib sein ... ich will Ihr Weib sein!«

Da wußte der General endlich, daß er das Mädchen umarmen und in seine Arme einschließen konnte. Und daß das einzige Seufzen, was er je im Leben gekannt hatte, das heimliche Seufzen manchmal in der letzten Zeit nach Julie, wie diese einzige Leidenschaft in seinem Leben über ihn gekommen war, ganz abschütteln konnte. Und ganz nur nebenbei noch sagen brauchte, daß er freilich ein lahmes Bein hätte, und ein Krüppel wäre ... aber ein volles überflutetes Herz ...

So hat der alte Baron Bercken mit der strahlenden Sommersonne und mit ganz unmilitärischen Gefühlen und ganz unkostümiert, denn auch Julie war nur im losen Sommerrock und Sommerhemd, trug ein weißes Tüchel um die weizenen Haare, und wußte noch immer nicht recht, wie ihr geschah, sein Weib gegriffen, so zärtlich, als wenn es eine Prinzessin wäre. Und er selber hat dabei gewähnt, ein seliger Mann zu sein, mit den Feldblumen, die Julie im scheuen Überschwang der Gefühle in ihrer kräftigen Hand noch immer zerdrückte, und mit den Sonnenstrahlen im Bunde, die reichlich warm über das Mädchen und ihn herüberstrahlten.

*

Im neuen Jahr sah man an Stelle des kleinen Häuschens der Mutter Zille ein etwas geräumigeres, sehr geschmackvolles, vornehmes Landhaus auf der kleinen Seite drüben am Dorfbach.

Und man sah auch häufig den stattlichen, hinkenden Herrn mit der anmutigen, einfach, aber sehr vornehm gekleideten Julie am Arme.

Baron Bercken lebte ganz auf dem Lande. Er hatte sich mit Dante eine tiefe und reichliche Zeiterfüllung geschaffen. Und hatte sich auch in das innige Leben mit der Natur längst ganz eingelebt.

Als Danteforscher genoß er bereits einen beträchtlichen Ruf.

Wie Baron Bercken immer eine Eroberernatur war, so hatte er auch Dante völlig sich zu eigen gemacht. Seine Aufsätze hatten im Lager der Danteforscher ein paarmal schon wirkliche Aufwühlungen verursacht. Und er hatte über die Einrichtung der Danteschen Hölle und den Geist ihrer Symbolik eine sehr geistreiche Lehre gegen den König Johann verfochten und sie mit zwingendem Scharfsinn zu allgemeiner Anerkennung gebracht.

Auch Julie hatte er erobert.

Wenn er jetzt wieder sommers vor seiner Laube in der Arbeit saß, war er zärtlich umgeben von der lieblichen Frau, die wie eine reife Weizenähre so anmutig voll und so blond erschien. Und bald umspielten den alten Baron Bercken auch ein paar kräftige, blonde Jungen.

Jahrelang lebten Berckens ohne Unterbrechung in ihrem behaglichen Dorfhäuschen. Erst wie die Kinder größer geworden waren, gingen sie sommers gemeinsam in die Weichselniederungen, die der General aus seiner frühen Jugend kannte und sehr liebte. Und einmal machte Baron Bercken mit Julie allein eine große Italienreise, um alle Orte genau zu besehen, woran sich auch nur das leiseste Andenken an Dante knüpfte.

Und die Mutter Zille! Die besaß jetzt eine reizende Wohnung in einem Bauernhause über den Dorfbach hinüber, ihren Kindern quer gegenüber. Die ging jetzt immer auch sehr wohlanständig und gepflegt einher. Und wenn die einmal in ihrer Redseligkeit bei einer Tasse Kaffee bei ihren alten Bauerbekannten von ihren kleinen Baronskindern und ihrem Herrn Schwiegersohn redete, machte sie immer gewichtige, große Augen, und hielt sich vor Ehrfurcht die Hand vor den Mund. Und die Hauptereignisse der ganz zurückgezogen lebenden Baronsfamilie redete sie nur feierlich und verhalten höchstens direkt in die Ohren der alten Bäuerin oder des Großbauern hinein.


 << zurück weiter >>