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Fünftes Kapitel.

Mit der kunstvoll erfundenen Fabel, durch welche Nott seiner Tochter das plötzliche Verschwinden de Ferrières' erklärte, hatte er mehr Glück als sonst, denn sie paßte zufällig zu allem, was Rosi von dem Franzosen wußte.

»Sagte, sein Doktor hätte 'm geraten, die Stadt sogleich zu verlassen, von wegen 'nem Fieberanfalle, und er wollte zu 'nem Freunde oben im Gebirge gehen,« berichtete Abner, der zwischen dem Wunsche schwankte, seine Zuhörerin zu beobachten und ihren Blick zu vermeiden.

»War's schlimmer mit ihm geworden – das heißt ich meine, sah er sehr krank aus?« fragte Rosi nachdenklich.

»Schätze, nicht gar zu sehr – aber 's würde jedenfalls schlimmer mit 'm geworden sein, wenn er nicht gleich gegangen wäre.«

»Hast du mit ihm – in – in seiner Koje gesprochen?« fragte Rosi eifrig.

Von der Antwort auf diese einfache Frage hing es ab, ob das Vertrauen zwischen Vater und Tochter in Zukunft wieder ein unbeschränktes sein durfte. Hatte er selbst die Entdeckung gemacht, wovon sein Abmieter lebte, so war Rosi der Verpflichtung des Schweigens enthoben; aber Notts Entgegnung ließ diese Hoffnung als eine vergebliche erscheinen, denn er paßte dieselbe, nach seiner gewöhnlichen Art, mehr der Frage an, welche sie, wie er sich einbildete, eigentlich zu stellen wünschte; das heißt der, ob er ihr Rendezvous von gestern abend entdeckt habe. Es widerstand aber seinem besonderen Zartgefühl, davon etwas zu wissen, und so bestätigte seine Antwort nur, daß ihm das einzige vorhandene elende Geheimnis, welches er so leicht hätte durchschauen können, unbekannt geblieben war.

»Ich habe etwa 'ner Stunde oder so 'was mit 'm gesprochen,« sagte er. »Wir unterhielten uns von Geschäften. Schätze wohl, er hat 'ne recht gute Spikulatschon mit denen Roßhaaren gemacht, denn er hat 'ne Kissenfabrik angelegt gehabt. Ich habe ihnen alle im vordersten Verschlage aufgestapelt, bis daß er danach schicken thut, alldieweil Mr. Rensham die Koje gemietet hat.«

Aber obgleich Mr. Rensham den Verschlag in der That gemietet hatte, schien er doch keine große Eile zu haben, ihn in Besitz zu nehmen. Er brachte einen Teil des Vormittags damit zu, bald mit ärgerlicher Miene in seinem Verschlage auf und ab zu schreiten, bald hinaus auf die Straße zu laufen, von wo er indessen immer bald wieder, wie es schien ohne einen rechten Zweck, zurückkam, wenn es nicht etwa der war, Rosi, welche mit einer Handarbeit beschäftigt vor der Thüre der Kambüse saß, flüchtig aus der Ferne anzusehen. Letzteres Beginnen war nicht unbemerkt geblieben und der ihn beobachtende scharfsichtige Nott, welcher sich überzeugt hielt, daß der junge Mann eine geheime und heftige Leidenschaft für Rosi gefaßt habe, fing bereits an, zu überlegen, ob es nicht seine Pflicht sei, ihn von ihrer Liebe zu dem Franzosen zu unterrichten, als Mr. Renshaws schließliches Verschwinden ihn zwang, diese Vertrauliche Mitteilung auf morgen zu verschieben.

Diesmal verließ Renshaw das Schiff offenbar mit einem feststehenden Entschlusse. Der junge Mann eilte schnell vorwärts, bis er das Geschäftslokal Mr. Sleights erreichte, wo man ihn sofort anmeldete und in ein kleines Privatgemach wies. Mr. Sleight, ein kurz angebundener, aber von keiner Leidenschaft bewegter Mann, trat gleich nach ihm ein.

»Nun, was Neues?« fragte Sleight, nachdem er die Thüre sorgfältig hinter sich zugezogen hatte.

»Nein,« entgegnete Renshaw kurz. »Ich komme nur, um Ihnen zu sagen, daß ich mit der Geschichte nichts weiter zu thun haben will.«

»Soll das heißen, weil Sie noch nichts gefunden haben?« fragte Sleight sarkastisch.

»Es soll heißen, daß ich noch gar nicht gesucht habe, und daß ich's ohne das Vorwissen und die Einwilligung des verd– alten Narren, dem das Schiff gehört, auch gewiß nicht thun werde.«

»So haben Sie, seitdem Sie mir diesen Brief geschrieben, Ihre Ansicht geändert?« fragte Sleight kühl, indem er das unseren Lesern bekannte Schreiben aus einer Schieblade hervorzog.

Renshaw streckte mechanisch die Hand nach dem Papiere aus – aber Mr. Sleight legte es wieder in den Kasten zurück und verschloß denselben ruhig und sorgfältig. Diese einfache Handlung färbte Mr. Renshaws Wangen mit einem dunkleren Rot, aber dasselbe verschwand sofort wieder und mit ihm jede Spur der anfänglichen Verlegenheit. Er blickte Sleight mit der Unbefangenheit eines resoluten Mannes an, welcher sich nach reiflicher Ueberlegung zu einem unangenehmen Schritte entschlossen hatte und nun bereit war, die Konsequenzen auf sich zu nehmen.

»Ja, ich habe meine Ansicht geändert,« sagte er kühl. »Es ist mir klar geworden, daß es ein ander Ding ist, wenn ein in seinem Fache bewanderter Prospektor ausgeht, um eine Mine zu untersuchen, deren Wert von der Schätzung ihrer Ergiebigkeit abhängt, als hinzugehen und den Spion im Hause eines armen Teufels zu spielen, zu dem Zwecke, ihm eine Sache abzukaufen, ohne daß jener weiß, was er eigentlich verkauft, und die er, wenn er's müßte, jedenfalls nicht verkaufen würde.«

»Eine Sache, deren Wert der frühere Verkäufer ebensowenig kannte, und welche der gegenwärtige Besitzer weder zu kaufen beabsichtigte, noch entsprechend bezahlte,« höhnte Sleight.

»Deren Wert wir aber kennen und die wir gerade auf Grund dieser unserer Kenntnis zu kaufen beabsichtigen, das ist der Unterschied.«

»Sie wußten dies ja alles schon früher.«

»Es erschien mir früher nicht in diesem Lichte!« entgegnete Renshaw. »Das ist mir erst aufgegangen, seitdem ich mit dem alten Narren, dem ich den schlechten Streich spielen wollte, unter demselben Dache lebe, und ganz klar ist's mir erst diesen Morgen geworden, nachdem er einen seiner Abmieter hinausgesetzt, um mir die Koje zu geben, die ich brauchte, um die Sache in aller Bequemlichkeit zu verfolgen. Als er das gethan hatte, faßte ich den Entschluß, die Geschichte fallen zu lassen, und bin gekommen, um Ihnen das zu sagen.«

»Um andere mit den versprochenen Prozenten anlaufen zu lassen, nicht wahr?« fuhr Sleight fort. »Ohne Zweifel haben Sie es doch auch für Ihre Pflicht gehalten, Nott zu warnen?«

»Sie wagen nur, mir das zu sagen, Sleight, weil Sie in jenem Schubfache einen Beweis meiner Thorheit und meines Vertrauens besitzen,« entgegnete der junge Mann ruhig. »Aber wenn Sie klug sind, werden Sie der einen wie dem anderen keine allzu starken Zumutungen stellen. Lassen Sie uns nochmals sehen, wie die Dinge eigentlich liegen. Durch die Erzählungen eines betrunkenen Kapitäns und eines meuterischen Matrosen kommen Sie zu der Ueberzeugung, daß in einem unbekannten Schiffe, welches hier in dem Hafen eingelaufen, ein herrenloser Schatz verborgen liege. Mit meiner Hülfe würden sich einige Thatsachen feststellen und vielleicht die Sicherheit gewinnen lassen, ob der Pontiac wirklich das fragliche Schiff ist, und so bieten Sie mir an, dies auf eigene Rechnung und Gefahr zu unternehmen. Ich gehe ohne Ueberlegung darauf ein – hätte ich die Sache in Ueberlegung gezogen, so würde ich abgelehnt haben, denn ich glaubte nicht, daß daraus für einen anderen, als etwa für mich selbst, Nachteile oder Verluste erwachsen könnten. Was aber Ihre Verdächtigung betrifft, so brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, daß mein jetziges Hiersein dieselbe von vornherein widerlegt. Ich würde schwerlich Ihrer Erlaubnis bedürfen, um mit einem gutmütigen Narren wie Nott einen vorteilhafteren Handel abzuschließen, als mit Ihnen, oder, wenn ich das Geschäft zum Scheitern hätte bringen wollen, würde es sicherlich nur einer Mitteilung an das Mädchen bedurft haben –«

»An das Mädchen – welches Mädchen?«

Renshaw biß sich auf die Lippen, antwortete aber keck: »Die Tochter des alten Nott – ein armes Ding, das man um das Ihrige bringen würde, wenn man den Vater beraubte.«

Sleight sah seinen Verbündeten scharf und aufmerksam an.

»Das hätten Sie gleich und ohne so große Worte sagen können,« entgegnete er dann, »Sie haben den Alten und seine Tochter also an demselben Haken gefangen, und Ihre Karten, wie ich zugebe, für die kurze Zeit Ihres Dortseins verflucht gescheit gemischt – aber ich glaube doch, Ihr Spiel zu durchschauen, Dick Renshaw, und so sagen Sie nur gerade 'raus, um wieviel sich's handelt. Auf welche Summe haben Sie und das Mädchen sich geeinigt?«

Für einen Augenblick befanden sich Mr. Sleights gesunde Glieder in Gefahr, aber ehe er noch aufhörte zu sprechen, hatte Renshaws scharfer Sinn für das Lächerliche seine anfängliche Empörung so weit überwunden, daß er die vollständige Unempfänglichkeit seines Partners für moralische Bedenken sogar zu bewundern vermochte, und als er aufstand, um sich zu entfernen, war er fast erstaunt, daß er die Sache überhaupt hatte ernst behandeln können.

»Ich spiele kein verdecktes Spiel, sondern habe meine Karten offen auf den Tisch gelegt, Mann,« sagte er lächelnd. »Betrachten Sie mich als von Ihrem Unternehmen ausgeschieden und schicken Sie 'nen anderen an meiner Stelle hin, um den Pontiac zu durchstöbern. Ich gehe noch heute nach Sacramento. Adios.«

Nachdem sich die Thüre hinter ihm geschlossen, klingelte Sleight nach seinem Schreiber.

»Ist die Petition um die Planierung der Pontiacstraße fertig?« fragte er.

»Ich habe die Besitzer der größten Terrains und Häuser gesprochen, Sir, und dieselben warten nur darauf, daß Sie zuerst unterzeichnen.«

Mr. Sleight überlegte noch einen Augenblick, dann schrieb er seinen Namen unter die Petition, welche der Schreiber ihm vorlegte.

»Lassen Sie auch die übrigen Beteiligten unterzeichnen und sorgen Sie dafür, daß die Eingabe sogleich abgeschickt wird.«

»Und wenn Mr. Nott sich weigert, zu unterschreiben, Sir?«

»Thut nichts – wir werden ihn überstimmen.« Dabei griff Mr. Sleight nach seinem Hute.

»Der malayische Matrose, welcher schon neulich hier war, ist wieder da und wünscht Sie zu sprechen. Ich sagte ihm, daß Sie beschäftigt wären,« meldete der Schreiber.

»Schicken Sie ihn herein,« erwiderte Mr. Sleight, indem er seinen Hut wieder hinlegte. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und schien vollständig in seine Bücher vertieft, als der Erwartete eintrat. Derselbe war von dunkler Hautfarbe und trug in Haltung und Kleidung die Nachlässigkeit des Seemanns zur Schau; nur die ungezwungene Offenheit, welche diesen Stand zu kennzeichnen pflegt, fehlte ihm.

»Nun?« fragte Sleight, ohne aufzublicken.

»Ich wollte nur fragen, ob Sie 'was Neues erfahren hätten, Boß,« Von dem holländischen Baas – Herr, Meister. Anm. d. Uebers. sagte der Mann.

»Neues?« wiederholte Sleight, wie zerstreut. »Neues – worüber?«

»Ueber die Geschichte mit dem Pontiac, Boß, über die wir sprachen,« gab der Matrose mit einer unangenehmen Untertänigkeit in dem Weißen seiner Augen und den blitzenden Zähnen zur Antwort.

»Ach, damit ist's nichts,« entgegnete Sleight. »Das war 'ne Ente, 'ne regelrechte Schiffergeschichte.«

Das Gesicht des Malayen wurde finster.

»Der Mann, welcher der Sache nachforschen sollte, hat den ganzen Spaß aufgegeben. Ich sage Euch – 's ist kein wahres Wort dran,« setzte Sleight hinzu, ohne aufzublicken.

»'s ist aber die reine Wahrheit – jedes Wort ist wahr,« versicherte der Matrose in schmeichelndem, eindringlichem und zugleich einen wilden Eifer verratendem Tone. »Sie können darauf schwören, Boß; ich würde mir nicht 'rausnehmen, einen Herrn wie Sie zu belügen. Ihr Mann hat entweder nicht richtig gesucht, oder – es müßte sein, daß–«

»Daß Eure Freunde schon dagewesen wären,« sagte Sleight langsam. »Wer kann das wissen? Bei Leuten Eurer Art –«

»Aber ehe ich's Ihnen sagte, hat außer mir kein Mensch 'was davon gewußt, das schwöre ich Ihnen bei Gott. Ich lüge nicht, Boß, und bin auch nicht betrunken. Geben Sie die Sache nicht auf, Boß. Ihr Mann glaubt nicht dran, weil er nichts davon weiß, und deshalb findet er auch nichts. Ich – ich würd's schon finden.«

Mr. Sleight schwieg und schien tief in seine Bücher und Papiere versunken; nach einigen Sekunden blickte er auf, sah den Malayen an, schrieb dann einige flüchtige Zeilen auf ein Papier, faltete dasselbe, versah es mit Adresse und lehnte sich, das Briefchen zwischen zwei Fingern haltend, in seinen Stuhl zurück.

»Wenn Ihr diese Zeilen meinem Manne bringen wollt, nimmt er die Sache vielleicht nochmals auf,« sagte er kühl. »Aber merkt wohl – ich sage nicht, daß er's bestimmt thun wird. Er will heute abend noch nach Sacramento; indessen wenn Ihr gleich hingeht, könnt Ihr ihn noch treffen. Ich glaube, er hat sich auf dem Schiffe eingemietet. Wenn Ihr etwa warten müßt, könnt Ihr inzwischen Eure eigenen Augen brauchen – versteht Ihr?«

»Gewiß, Boß, gewiß,« entgegnete der Matrose, indem er sich bemühte, einen Blick seines Auftraggebers zu erhaschen. Aber es war vergeblich. Mr. Sleight sah starr vor sich hin und der Malaye schritt der Thüre zu.

»Das Boot nach Sacramento geht um neun Uhr ab,« bemerkte Sleight ruhig.

Diesmal begegneten sich ihre Augen und in denen des braunen Mannes blitzte ein Strahl des Verständnisses auf. Im nächsten Moment war er fort und Mr. Sleight vertiefte sich wieder in seine Papiere.

Währenddem verfolgte Renshaw seinen Weg nach dem Pontiac mit jenem leichtherzigen Optimismus, welcher schon in der Abschiedsscene mit Sleight zu Tage getreten war. Gerade diese Eigenschaft seiner Natur, vielleicht genährt durch die bequemen Verhältnisse des Landes, in dem er lebte, hatte ihn mit Sleight in Verbindung gebracht, aber sie hatte in diesem Verkehre gelitten und mancherlei Trübung erfahren, und erst jetzt, nachdem die Verbindung gelöst war, kehrte sie ihm voll wieder. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er sich in der selbstsüchtigsten Weise aus der Verlegenheit geholfen hatte – im Gegenteil schien es ihm vollkommen hinreichend, sich von einer Sache, die ihm unehrenhaft erschien, zurückzuziehen, und es fiel ihm nicht ein, zu Nutz und Frommen anderer seine bisherigen Partner zu verraten. Er war entschlossen gewesen, Verluste zu erleiden und sich sogar einem schmählichen Verdachte auszusetzen, um nicht in seiner eigenen Achtung zu sinken – aber mehr konnte er nicht thun, wenn er nicht ebendiesen Verdacht rechtfertigen wollte. Der Gesichtspunkt, von welchem aus Sleight die Sache betrachtete, war – dagegen ließ sich nichts sagen – ohne Zweifel der der meisten Geschäftsleute; sogar der so wenig geschäftskundige Nott hätte ihn wahrscheinlich zu dem seinigen gemacht, und wer weiß, ob nicht selbst das Mädchen in Versuchung gekommen wäre, sich damit einverstanden zu erklären. Gewiß, es blieb ihm nichts übrig, als den Pontiac und seinen Eigentümer – den zu warnen ihm seine Ehre nicht gestattete – ihrem Schicksale zu überlassen. Zudem war dies Schicksal überhaupt noch sehr fraglich. Es war noch gar nicht ausgemacht, daß sich der Schatz noch in dem Schiffe befand, und ebensowenig wußte man, ob Nott geneigt sein würde, das Fahrzeug zu verkaufen. So wollte er sich denn bei Nott mit einigen Worten entschuldigen – er lächelte bei dem Gedanken, daß sein Name die lange Liste der ausgetretenen Abmieter Notts um eine Nummer verlängern werde – wollte von Rosi Abschied nehmen und dann mit dem Abendschiffe nach Sacramento gehen. In diesen festen Entschlüssen stieg er jetzt die nach dem Mittelgange führende Treppe leichteren Herzens hinauf als das erste Mal, da er das Schiff betreten.

Nott war, wie es schien, nicht daheim, und nach einem flüchtigen Blicke durch die halboffene Kajütenthüre begab sich Renshaw nach der Kambüse. Aber er fand auch Miß Rosi nicht an ihrem gewöhnlichen Platze und mit einem Gefühl der Enttäuschung, das in keinem Verhältnisse zu einer so geringfügigen Ursache stand, ging er nach seiner Koje. Eben wollte er die Thüre hinter sich zuziehen, als das Rauschen eines schleppenden Frauengewandes im Mittelgange seine Aufmerksamkeit erregte. Dies Geräusch war so verschieden von dem, welches Rosis Kleider sonst hervorbrachten, daß er mit der Hand auf dem Thürschlosse stehen blieb. Das Rauschen kam näher und im nächsten Augenblicke schwebte eine weißverschleierte Gestalt in langem, schleppendem Gewande an dem jungen Manne vorüber. Sein Blut stockte einen Moment in halb abergläubischem Schrecken. Während die Gestalt weiterschritt und in der Kajüte verschwand, vermochte er nur so viel deutlich zu erkennen, daß es die einer schönen, anmutigen Frau war – sonst nichts. Bestürzt und neugierig zugleich, vergaß er sich so weit, ihr zu folgen und in die Kabine einzutreten. Die Gestalt drehte sich um, stieß einen leisen Schrei aus, schlug den Schleier zurück und zeigte ihm Rosis halb erschrockenes, halb verlegenes Gesicht.

»Ich bitte um Entschuldigung – ich wußte nicht, daß Sie es waren,« stammelte Renshaw.

»Ich probierte nur einige von diesen Sachen,« sagte Rosi, ihre Fassung wieder gewinnend, indem sie auf einen offenen Koffer deutete, welcher augenscheinlich Theatergarderobe enthielt. »Vater schenkte mir die Kleider schon vor langer Zeit, und ich wollte sehen, ob sich irgend etwas davon brauchen ließe. Ich dachte, ich wäre allein im Schiffe, glaubte dann aber ein Geräusch zu hören und ging hinaus, um zu sehen, was es wäre. Wahrscheinlich sind Sie es gewesen.«

Dabei erhob sie ihre klaren Augen mit einem leisen Anfluge weiblicher Zurückhaltung, der aber so fern von jeder gewöhnlichen Eitelkeit oder Koketterie war, daß Renshaw nur noch verlegener wurde. Dazu schien ihr das keiner der jetzigen Moden angehörende, aber reiche und dabei einfache Kostüm eine gewisse vornehme Haltung und einen Anstand zu geben, welche er bis jetzt nicht an ihr wahrgenommen hatte. Er erblickte plötzlich etwas in ihr, was ihr gegenseitiges Verhältnis vollständig veränderte und ihn stumm, verwirrt und befangen vor dem Mädchen stehen ließ, welches in dieser Kabine häuslich waltete und in der Kambüse kochte. Der Streich, den er ihrem Vater hatte spielen wollen und den er in seiner Gedankenlosigkeit bis dahin für einen der gewöhnlichen im Geschäftsverkehr erlaubten Kniffe gehalten hatte, nahm in seiner erregten Phantasie jetzt die Gestalt eines an ihr begangenen Raubes an.

»Sie haben jetzt Ihre Revanche für den Schrecken, welchen ich Ihnen vor einiger Zeit bereitete, denn ich habe mich, als Sie vorüberhuschten, beinahe gefürchtet,« sagte er noch immer verlegen. »Ich fing schon an, zu glauben, es spuke auf dem Pontiac, und hielt Sie für einen Geist. – Freilich wüßte ich nicht recht, warum solch ein Geist jemand erschrecken sollte,« fügte er mit einem verzweifelten Versuche, seine Stellung durch Galanterie wieder zu gewinnen, hinzu. »Aber nun lassen Sie uns einmal sehen – ist das nicht das Kostüm der Doña Elvira?«

»Ich glaube nicht, daß die arme Dame so hieß,« entgegnete Rosi. »Sie starb, glaube ich, in New Orleans als eine Signora so und so am gelben Fieber.«

Ihre Unwissenheit schien Mr. Renshaw so rührend, daß er zögerte, ihr zu erklären, Doña Elvira sei eine Opernfigur.

»Ist es nicht schrecklich, die Kleider der armen Person anzuziehen?« fuhr Rosi fort.

Mr. Renshaws Augen drückten so deutlich die entgegengesetzte Meinung aus, daß das Mädchen sich mit etwas strengerer Miene nach der Thür ihres eigenen Zimmerchens zurückzog.

»Ich muß die Sachen ablegen, ehe jemand kommt,« sagte sie.

»Das heißt, ich soll gehen,« erwiderte der junge Mann. »Aber wollen Sie mir nicht vielleicht erlauben, draußen im Gange zu warten, bis Sie sich umgekleidet haben, Miß Nott? Ich reise noch diese Nacht ab und sehe Sie vielleicht nicht wieder.« Er hatte dies nicht sagen wollen, aber es schlüpfte ihm in der Verlegenheit über die Lippen. Sie blieb mit der Hand am Thürschlosse stehen.

»Sie wollen fort?«

»Ich glaube – ich muß noch heute fort. Ich habe wichtige Geschäfte in Sacramento.«

Sie erhob ihre klaren Augen, und der nicht zu verkennende Ausdruck des Bedauerns, der sich in ihrem Blicke aussprach, ließ sein Herz plötzlich höher aufschlagen und trieb ihm das Blut ins Gesicht.

»Das ist zu schade,« sagte Rosi, wie einer unwillkürlichen Regung folgend. »Kein Mensch scheint lange hier bleiben zu wollen. Kapitän Bower hatte versprochen, mir allerlei von dem Schiffe zu erzählen, und nach acht Tagen reiste er ab. Der Photograph ging, ehe er noch das Bild des Pontiac vollendet hatte, Monsieur de Ferrières hat uns soeben verlassen, und nun gehen Sie auch.«

»Vielleicht weil ich hier nichts mehr zu suchen habe,« entgegnete er mit einer Bitterkeit, die er schon im nächsten Augenblicke bereute. Aber Rosi schien nicht darauf zu achten.

»Ich werde nicht lange sein,« sagte sie mit einem leichten Seufzer, trat in ihr Kämmerchen und zog die Thür hinter sich zu.

Renshaw biß sich auf die Lippen und zog an seinem langen, seidenen Schnurrbarte, bis er schmerzte. Warum war er nicht gleich gegangen? Wozu war es nötig, daß er sagte, er würde sie vielleicht nicht wiedersehen – und – wenn er es nun einmal gesagt hatte – was wollte er nun noch weiter hier? Wozu erwartete er ihre Rückkehr? Vielleicht um ihr zu erklären, daß er nicht sei, wie Kapitän Bower, der Photograph oder der verrückte Franzose? Oder wollte er ihr etwa, nur um etwas zu sagen, erzählen, daß er vor einer Verschwörung davonlaufe, welche den Zweck hatte, ihren Vater zu beschwindeln? Konnte man sich etwas Thörichteres denken? Rosi blieb, wie sie versprochen hatte, nicht lange aus, dennoch hatte er bereits begonnen, ungeduldig in der engen Kabine auf und ab zu schreiten, als sich die Thür öffnete und sie erschien.

Sie hatte ihr gewöhnliches Kattunkleidchen wieder angelegt, aber der Eindruck, den sie vorhin auf Renshaw gemacht, war ein so tiefer, daß es ihm schien, als trage sie das ärmliche Gewand mit einer ganz neuen Anmut. Unter anderen Umständen hatte er vielleicht bemerkt, daß diese Veränderung auf Rechnung eines neuen Korsetts zu setzen war, welches Rosi – unsere strenge Wahrheitsliebe entreißt uns das Geständnis – an diesem Morgen zum erstenmal angelegt hatte. Wie dem aber auch sei – der leichte Anflug von Koketterie schien vorüber, denn sie schloß den Koffer mit ihrer gewöhnlichen zerstreuten Miene, setzte sich darauf, stemmte die Ellbogen auf die Knie und stützte ihr ovales Kinn in die Hände.

»Wollen Sie mir eine Gefälligkeit erzeigen?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Lassen Sie mich wissen womit, und es soll geschehen,« gab Renshaw eifrig zur Antwort.

»Wenn Sie Monsieur de Ferrières irgendwo begegnen oder von ihm hören sollten, so bitte ich Sie, es mir mitzuteilen. Er war recht krank und schwach, als er das Schiff verließ, und es würde mir lieb sein, zu hören, ob es ihm besser geht. Er hat nicht hinterlassen, wohin er ging, wenigstens hat er es Vater nicht gesagt; aber ich glaube, sie mochten sich nicht leiden.«

»Ich werde mich freuen, Sie wenigstens auf diese Weise an mich erinnern zu dürfen,« erwiderte Renshaw mit einem schwachen Versuch, zu lächeln, »Ich glaube übrigens, daß es keine Schwierigkeiten haben würde, über Ihren Freund Kunde zu erhalten, denn alle Leute scheinen ihn zu kennen.«

»Aber es kennt ihn niemand so gut wie ich,« sagte Rosi, wie in der Zerstreuung seufzend.

Mr. Renshaw blickte sie mit seinen braunen Augen scharf an. Hatte er sich geirrt? War dies seltsame Mädchen vielleicht nur eine kleine Kokette, welche Lust hatte, ihr Spiel mit ihm zu treiben?

»Sie sagten mir eben, Monsieur de Ferrières und Ihr Vater hätten sich nicht gemocht; soll das vielleicht heißen, daß Sie und der Franzose sich gerne mochten, und war Ihr Vater ihm deshalb abgeneigt?«

»Ich glaube nicht, daß Vater etwas davon wußte,« sagte Rosi einfach.

Mr. Renshaw stand auf. Hatte er gewartet, um das zu hören!

»Vielleicht,« sagte er bitter, »wünschen Sie auch Nachricht über Kapitän Bower und den Photographen zu haben, oder vertrug sich ihr Vater mit denen besser?«

»Nein,« entgegnete Rosi ruhig. Dann schwieg sie einen Moment und fuhr endlich, die Augen voll zu ihm aufschlagend, fort: »Vater schien Sie immer sehr gern zu haben, und darum –« sie stockte.

»Darum hatten Sie mich nicht gern?«

»Das habe ich nicht gesagt,« gab sie, mit einer ihrem heißen Erröten widersprechenden Kälte zur Antwort. »Ich wollte nur sagen, daß es mir deshalb um so mehr leid thut, wenn Sie gehen.«

Renshaw setzte sich, seinem eben gefaßten Entschlusse entgegen, wieder auf den Stuhl nieder. Verwirrt, erfreut und von dem Wunsche beseelt, mehr gesagt zu haben – oder auch weniger – sagte er gar nichts, und Rosi sah sich gezwungen, fortzufahren:

»'s ist ein seltsamer Zufall –« setzte sie hinzu, »aber Vater forderte mich diesen Morgen auf, einige Freunde auf unserem alten Viehhofe zu besuchen. Ich hatte es gar nicht verlangt, und wäre viel lieber hier geblieben.«

»Aber Sie können sich doch nicht für immer hier einkerkern, Miß Nott,« sagte Renshaw in einem Ausbruche aufrichtiger Begeisterung, »Früher oder später müssen Sie anderswohin gehen, wo man Sie nach Ihrem wahren Werte schätzen, wo man Sie bewundern und Ihnen huldigen wird – wo Ihre Wünsche Befehle sind. Glauben Sie mir – ich sage es, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen – Sie kennen Ihre eigene Macht nicht.«

»Sie scheint doch nicht stark genug, um auch nur die wenigen Menschen, die ich gern habe, hier festzuhalten,« entgegnete Rosi mit einem feuchten Schimmer im Auge. »Doch,« fuhr sie dann hastig fort, »Sie wissen gar nicht, was das alte liebe Schiff mir ist. Es ist die einzige Heimat, die ich je besaß.«

»Aber der Viehhof?« fragte Renshaw.

»Der war nicht viel besser als der alte Auswandererwagen – 's war wenig Unterschied,« gab Rosi mit einem kleinen Schauder zur Antwort. »Hier aber ist's so heimlich und huschelig und dabei doch so fremdartig und apart. Wissen Sie, ich glaube, ich habe erst recht angefangen, den Pontiac lieb zu haben, seit Sie mir so viele Seegeschichten und Reiseabenteuer erzählten. Bis dahin hatte ich alles nur aus Büchern gelernt, und ich denke, Bücher täuschen einen mehr als Menschen. Glauben Sie nicht auch?«

Allem Anschein nach bemerkte Rosi weder Renshaws Erröten, noch das plötzliche Niederschlagen seiner Augen, denn sie fuhr im Tone unbegrenzten Vertrauens fort: »Ich habe gestern viel an Sie gedacht. Ich saß vor der Küchenthür und erinnerte mich daran, wie ich erschrak, als Sie damals so unvermutet aus der Kabelgatsluke heraufkamen.«

»Ich wollte, Sie dächten daran nicht mehr,« sagte Rensham eifriger, als er eigentlich wollte.

»Ich möchte 's lieber auch nicht,« erwiderte Rosi ernsthaft, »denn es erinnert mich an ein Bild, das ich 'mal, als ich noch jünger war, gesehen habe. Ich glaube es hieß ›Der Pirat‹ und es waren eine Menge greulich aussehender Seeleute darauf abgebildet, die auf dem Deck umherlagen, und aus der Kabelgatsluke stieg einer herauf, der sich mit den Händen am Rande anhielt und ein großes Messer im Munde hatte.«

»Ich danke Ihnen!« rief Renshaw.

»Sie dürfen mich nicht mißverstehen,« fuhr das Mädchen eifrig fort. »Der Pirat sah gräßlich aus und war Ihnen gar nicht ähnlich. Ich dachte auch nicht an das Bild, als Sie damals aus der Luke kamen; aber neulich 'mal, als ich da oben saß, mußte ich denken, wie gräßlich es gewesen wäre, wenn anstatt Ihrer ein solcher Mensch da heraufgestiegen wäre, und der Gedanke kommt mir nun manchmal, wenn ich ganz allein bin. Und ich glaube fast, Vater hat auch solche Gedanken, denn er steht in der Nacht oft heimlich auf und geht im Schiffe herum, als ob er Wache hielte.«

Renshaws Gesicht wurde zusehends finsterer. Hatte ihn Sleight etwa bemißtraut und ihn überwachen lassen – oder hatte er das Geschäft gleichzeitig mehreren übertragen?

»Vater denkt sich nämlich,« fuhr das Mädchen mit einem leichten Lächeln fort, »das Schiff würde von irgend jemand umschlichen, und spricht davon, Fuchseisen zu legen. – Ich hoffe, Sie haben's mir nicht übelgenommen, daß ich so thörichterweise sagte, Sie erinnerten mich an den Piraten,« fügte sie hinzu, als sie plötzlich bemerkte, wie sehr sich Mr. Renshaws Gesichtsausdruck verändert hatte. »Ich meinte wirklich nichts Schlimmes damit.«

»Ich glaube, Sie sind gar nicht fähig, etwas schlimm zu meinen und anders als gut von den Menschen zu denken, Miß Nott,« entgegnete Renshaw mit einem plötzlichen Gefühlsausbruch. »Vielleicht denken Sie auch von mir besser, als ich verdiene. Ich möchte Sie bitten, mir einen Gefallen zu thun, wie Sie mich ja eben auch um einen solchen baten (dabei hatte er ihre beiden Hände ergriffen, und diese Bewegung erschien nur als eine solche natürliche Verstärkung seiner eifrigen Worte, daß sie ihm dieselben ruhig überließ), Sie müssen mir etwas versprechen. Ihr Vater pflegt ja alle seine Geschäftsangelegenheiten mit Ihnen zu beraten – wenn man ihm ein Gebot auf das Schiff thun sollte, wollen Sie mir Nachricht davon geben, ehe ein Abschluß erfolgt?« Dabei schossen ihm Sleights Worte: »Auf welche Summe haben Sie und das Mädchen sich geeinigt?« durch den Kopf. Er krümmte sich innerlich darunter und bemerkte dabei kaum, daß Rosi ihre Hand kalt zurückgezogen hatte.

»Vielleicht wäre es besser gewesen, Sie hätten mit meinem Vater darüber gesprochen, denn das ist seine Sache,« bemerkte sie. »Außerdem bin ich vielleicht, wenn der Fall eintritt, gar nicht hier, sondern draußen auf dem Viehhofe.«

»Aber Sie sagten ja, Sie hätten keine Lust, dorthin zu gehen?«

»Ich habe mich anders besonnen,« entgegnete Rosi. »Ich werde noch heute abend hinausfahren.«

Dabei stand sie auf, wie um ihm anzudeuten, daß die Unterredung zu Ende sei. Mit dem überwältigenden Gefühle, daß sein ganzes künftiges Glück von den nächsten Augenblicken abhänge, trat Renshaw mit ausgestreckten Händen einen Schritt auf sie zu. Aber mit warnender Gebärde hob sie die Rechte.

»Ich höre Vater kommen, und Sie haben die beste Gelegenheit, Ihre Geschäftssachen selber mit ihm zu besprechen,« sagte sie, indem sie hinter der Thür ihres Kämmerchens verschwand.


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