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Drittes Kapitel.

Wenn Mr. Renshaw seiner Neugier, das Innere des Pontiac kennen zu lernen, ferner frönte, so geschah es, ohne daß Rosi etwas davon bemerkte. Selbst von der Aufforderung ihres Vaters, sich ohne Scheu auf dem oberen Deck zu ergehen, machte er keinen Gebrauch, und dies fing an, das junge Mädchen für ihn einzunehmen. Zudem, wenn er auch der entgegenkommenden Freundlichkeit Notts, die dieser ihm bei jeder Gelegenheit zeigte, auszuweichen schien, that er dies doch ohne deshalb Rosi aus dem Wege zu gehen; im Gegenteil hatte es den Anschein, als hege er den Wunsch, die halbverächtliche Gleichgültigkeit, welche er für den Vater bekundete, durch ein um so achtungsvolleres Benehmen gegen die Tochter auszugleichen. Rosi ihrerseits wäre gar nicht abgeneigt gewesen, sich zuweilen etwas über Schiffe von ihm erzählen zu lassen, und ihn über diesen Gegenstand um allerlei Auskunft zu bitten, denn sie war überzeugt, seine Unterhaltung würde interessanter sein, als die des alten Kapitän Bower, der vor ihm in der Kabine gewohnt, und ihr einst gesagt hatte, ein Schiff sei »des Teufels Hühnerkorb«. Auch würde sie ihn gern darüber aufgeklärt haben, daß sie nicht daran gewohnt sei, purpurrote Hüte aufzusetzen – aber ihre Gedanken wurden bald durch einen Vorfall abgezogen, welcher die Gleichförmigkeit ihres jungen Lebens unterbrach.

Sie war, wie sie sich später erinnerte, eines Nachmittags in einer gewissen nervösen Unruhe gewesen, welche es ihr unmöglich gemacht hatte, die gewöhnlichen häuslichen Geschäfte zu verrichten, sie aber auch nicht dazu hatte kommen lassen, sich ihrer Lieblingserholung hinzugeben, welche im Lesen und im Erbauen von Luftschlössern bestand.

Nachdem sie eine Weile auf dem Schiffe hin und her gegangen war, stieg sie endlich, in ihrer Rastlosigkeit, nach dem unteren Deckraum hinab und begab sich nach dem vorderen Raume, wo sie vor einigen Tagen die offene Luke entdeckt hatte. Dieselbe war nicht wieder geöffnet worden, oder es war wenigstens keine Spur davon sichtbar geblieben.

Etwas beschämt – warum wußte sie selbst nicht recht – den Schauplatz der Zudringlichkeiten Mr. Renshaws wieder aufgesucht zu haben, war sie eben im Begriff umzukehren, als sie bemerkte, daß die Thür zu der Koje de Ferrières' ein wenig offen stand. Dies war etwas so Ungewöhnliches, daß sie verwundert stehen blieb. Im Inneren rührte sich nichts. Es war die Zeit, um welche der seltsame Kauz seinen Spaziergang zu machen pflegte, und er hatte entweder vergessen, die Thür zu schließen, oder sie war von anderer Hand geöffnet worden. Nach momentanem Besinnen stieß Rosi dieselbe weiter auf und trat ein.

Im Dämmerlichte der beiden kleinen Schiffsfenster bemerkte sie, daß der Fußboden mit dem Inhalt eines der Roßhaarballen bestreut war, von denen einige noch unberührt an der Wand lehnten. Mehrere noch unvollendete, halb gestopfte Sitz- und Rückenkissen, sowie ein Haufen zum Teil schon zu Ueberzügen zerschnittenen Saffianleders lagen in der Koje umher, welche dadurch das Ansehen einer ärmlichen Tapezierwerkstätte erhielt. Ein Instrument zum Aufkratzen der Roßhaare, Nadeln, Zwirn und Knöpfe lagen auf einer kleinen Bank und waren allem Anscheine nach erst vor kurzem gebraucht worden. Ein irdenes Waschbecken und ein ebensolcher Krug auf dem Fußboden, daneben ein Lager, welches aus einem geöffneten Roßhaarballen bestand, und über welches ein zerrissenes Betttuch, sowie eine verschlissene wollene Decke ausgebreitet waren, gaben Zeugnis, daß der einsame Arbeiter in demselben Raume auch wohnte und schlief.

Der durch die Abgeschlossenheit und das viele einsame Lesen geschärfte und angeregte Geist des jungen Mädchens erfaßte schnell die Sachlage. Die nackten, kahlen Wände, die vorhandenen stummen Beweise heimlichen, mit Entbehrungen aller Art verknüpften Fleißes, die Benutzung eines Zufalls, welcher de Ferrières der Beschämung enthoben hatte, sich öffentlich durch die Arbeit seiner Hände ernähren zu müssen, enthüllten vor ihren klaren Augen die ganze Wahrheit. Sie wußte jetzt, warum er das Anerbieten ihres Vaters, die Roßhaare zurückzukaufen, verlegen abgelehnt; sie wußte jetzt, wie mühsam die Mittel erworben wurden, aus welchen er seine Miete bezahlte und seine lächerliche, kindische Eitelkeit befriedigte. An einem Nagel in der Ecke hingen – in schreiendem Kontrast zu der Aermlichkeit der Umgebung – die ihr bekannten Stücke des Maskenanzuges, unter welchem er seine Armut verbarg: die perlgrauen Beinkleider, der schwarze Rock und der hohe, glänzende Cylinderhut. Aber wenn diese Kleider hier waren, wo befand sich denn ihr Eigentümer? In welcher neuen Verkleidung war er von dem Schauplatze seiner Armut entwichen? Ein unbestimmtes Mißbehagen veranlasse Rosi, sich der offenen Thüre wieder zuzuwenden, und fast hatte sie dieselbe erreicht, als ihr Auge noch einmal das von dem eindringenden Lichte nur halb beleuchtete Lager streifte. Das dort liegende Bündel schien ihr verdächtig, und sie trat näher. Das, was sie für eine alte Wolldecke gehalten, war ein Schlafrock, und eine weiße, magere, zusammengekrampfte Hand wurde in seinen Falten sichtbar.

Auf die im Auswandererkarren verbrachten Kindheitsjahre Rosi Notts war mehr als einmal der Schatten von Skalpmessern gefallen und sie war an den Anblick des Todes gewöhnt. Furchtlos trat sie deshalb an das Lager. In den Schlafrock eingewickelt lag der leblose Körper des alten Franzosen, und ohne zurückzuschrecken oder Hilfe herbeizurufen, nahm sie sofort eine genaue Untersuchung desselben vor. De Ferrières war bewußtlos, aber sein Puls schlug noch. Er hatte, als der Anfall eintrat, offenbar noch Besinnung und Kraft genug gehabt, um – Luft oder Beistand suchend – die Thüre zu öffnen, war dann aber ohnmächtig auf sein Lager gesunken. Nun sprang Rosi fort, zuerst nach dem Vorratsschranke ihres Vaters, dann nach der Küche. In kürzester Zeit kehrte sie zurück, schloß hinter sich die Thür und hatte bei der geschickten und klugen Anwendung von heißem Wasser und Whiskey bald die Genugthuung, einen Schimmer von Farbe auf die geisterbleichen Wangen des alten Mannes zurückkehren zu sehen. Noch war sie damit beschäftigt, seine kalten Hände in den ihrigen zu wärmen, als er langsam die Augen aufschlug. Erschrocken in die Höhe fahrend, machte er einen Versuch, sie von sich zu stoßen und sich aufzurichten. Aber das junge Mädchen hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.

»Was ist geschehen?« fragte er stammelnd, während er mit sichtlicher Anstrengung bemüht war, sein Gesicht von Rosi ab und nach der Wand zu kehren.

»Sie sind krank gewesen,« entgegnete sie besänftigend. »Da trinken Sie.«

Das Gesicht noch immer abgewendet, brachte er die Tasse an seine bebenden Lippen. Nachdem er getrunken, ließ er einen erschrockenen Blick durch das Zimmer und nach der Thür schweifen.

»'sist niemand hier, als ich,« sagte Rosi, seine Gedanken schnell erratend. »Ich sah zufällig im Vorübergehen die Thür offen, und hielt es nicht für notwendig, sonst jemand herbeizurufen.«

Der forschende Blick, mit dem er sie bis jetzt angesehen, nahm einen beruhigten Ausdruck an, und fast gleichzeitig blitzte, zu ihrem nicht geringen Mißbehagen, ein Strahl seiner altmodischen Galanterie darin auf. Mit der Miene eines vornehmen Mannes zog er den Schlafrock fester um sich zusammen.

»Ah, Mademoiselle,« rief er, »eine Göttin hat meine arme Hütte ihres Besuches gewürdigt. Eine Göttin ist in die Zelle herabgestiegen, in – der ich mich – auf so sonderbare Weise unterhalte. Sieht es hier nicht – höchst – höchst seltsam aus? Ich kam nämlich hierher – um – um ein Experiment zu machen; wollte nur wissen, wie – wie es Leuten zu Mute ist, welche mit den Händen arbeiten, und da – war es die plebejische Beschäftigung oder die Hitze und Finsternis hier? – genug ich bekam einen Schwindelanfall, stolperte vorwärts, wurde schwach, stieß einen Schrei aus und sank zusammen. Aber der gute Gott hörte meinen Hilferuf und schickte mir einen seiner Engel. Voilà!«

Dabei versuchte er eine graziöse Bewegung, verlor aber das Gleichgewicht und fiel, nach Atem ringend, auf sein Lager zurück. Dennoch war mit seiner lächerlichen Affektation so viel echtes Gefühl, ein so schmerzliches Bewußtsein der Erfolglosigkeit seiner Lüge gemischt, daß Rosi, die ihr Gesicht abgewandt hatte, sich wieder zu ihm neigte und ihre Hand beschwichtigend auf seinen Arm legte.

»Sie müssen still liegen bleiben und zu schlafen versuchen,« sagte sie sanft. »Vielleicht komme ich nochmal, um nach Ihnen zu sehen. Haben Sie keine Bekannten hier, nach denen ich schicken könnte?«

Er schüttelte heftig den Kopf. Dann setzte er in dem früheren galanten Tone hinzu: »Außer Mademoiselle habe ich niemand, den ich zu sehen wünschte.«

»Verstehen Sie mich recht –« sagte sie zögernd, »ich meine, ob Sie nicht nähere Freunde besitzen –?«

»Freunde? Ja gewiß, Freunde genug,« gab er, die Achseln zuckend, zur Antwort. »Freunde genug – aber Mademoiselle wird begreifen –«

»Sie befinden sich jetzt auch schon besser, und wenn Sie es nicht wünschen, braucht niemand etwas von Ihrem Unfalle zu erfahren,« sagte Rosi schnell. »Versuchen Sie zu schlafen. Die Thüre brauchen Sie, wenn ich fort bin, nicht zu verschließen; ich werde acht geben, daß niemand Sie stört.«

Er errötete ein wenig und schlug die Augen nieder, dann sagte er: »Ist das alles nicht sehr spaßhaft, Mademoiselle? Finden Sie nicht?«

»Ja, wirklich,« entgegnete Rosi, indem sie sich in dem elenden Raume umsah.

»Und Mademoiselle ist ein Engel.«

Damit drückte er ihre Hand dankbar an seine Lippen – war die erste ungekünstelte Bewegung, die er machte. Rosi schlüpfte hinaus und zog die Thüre leise hinter sich zu.

Als sie das obere Deck erreichte, bemerkte sie zu ihrer nicht geringen Erleichterung, daß ihr Vater noch nicht zurückgekehrt und ihre Abwesenheit unbemerkt geblieben war. Sie hatte sich in dem Augenblicke, als sie de Ferrières' Geheimnis durch Zufall entdeckt, auch fest vorgenommen, dasselbe zu bewahren, und um dies zu können und gleichzeitig den Kranken zu überwachen, ohne daß ihr Vater etwas bemerkte, mußte sie vorsichtig zu Werke gehen. Die seltsame Abneigung Notts gegen den unglücklichen Mann war ihr bekannt, wenn sie auch die Ursache nicht ahnte. Aber sie hatte sich gewohnt, die Grillen und Schrullen ihres Vaters mehr mit liebevoller Nachsicht, als mit Achtung vor seinem Urteile zu behandeln, und sah nichts Unrechtes darin, wenn sie ihm hier, wo sie durch das Gegenteil einen Vertrauensbruch an einem anderen begangen hätte, ihr Vertrauen vorenthielt. »Es würde Vater gar nichts nutzen, wenn er's erführe,« sagte sie zu sich selbst, »und wenn's ihm auch was nutzte, sagen dürfte ich's ihm doch nicht,« fügte sie dann mit triumphierender weiblicher Logik hinzu.

Der Eindruck, den sie soeben da unten empfangen, war stärker als andere Rücksichten. Die Entdeckung der Armut de Ferrières' erschien ihr wie ein Kapitel aus einem von ihr selbst erfundenen und ausgesponnenen Romane. Der unglückliche Held desselben stand in der Tiefe seines Elendes rein von Thorheit und Selbstsucht vor ihr und über dem dramatischen Effekt der ihn umgebenden Scene vergaß sie seine lächerlichen Schwächen. Die Sache befriedigte zum Teil ein längst von ihr empfundenes Bedürfnis. Sie hatte da nicht gerade die Geschichte des Schiffes vor sich, wie sie dieselbe geträumt und sich ausgemalt, aber immerhin eine selbsterlebte Episode, welche die Einförmigkeit des Lebens auf demselben unterbrach. Außerdem zweifelte sie keinen Augenblick, in nächster Zeit von de Ferrières' eigenen Lippen den wahren Grund einer so seltsamen Existenz zu hören, hinter welcher fraglos mehr verborgen lag, als sie bis dahin ahnen konnte.

Nach Verlauf einer Stunde klopfte Rosi nochmals leise an die Thüre de Ferrières', um ihm eine kleine für ihn bereitete Erfrischung zu bringen. Er schlief, aber sie bemerkte zu ihrem Erstaunen, daß er die Zwischenzeit benutzt hatte, um sich in sein altmodisches Staatsgewand zu werfen. Der Umstand versetzte ihren Illusionen einen starken Stoß, aber sie vergaß alles bald wieder über dem Kontrast zwischen seinem bleichen, eingefallenen Gesichte und seinem gefärbten und pomadisierten Haar und Bart – zwischen der Sorgfalt, mit der er sich angekleidet, und seiner gebrochenen, zusammengesunkenen Gestalt. Nachdem sie die Ueberzeugung gewonnen, daß er wirklich schlief, machte sie sich leise daran, dem elenden Raume ein etwas besseres Aussehen zu geben. Mit wenigen gewandten, nur den Frauen eigenen Handgriffen beseitigte sie die das Elend gewöhnlich begleitende Unordnung, indem sie die losen Roßhaare, sowie das sonstige umherliegende Material und das verräterische Handwerkszeug zusammenschob und einpackte. Als de Ferrières dann noch immer schlief, stellte sie, ohne seinen Schlummer – das beste natürliche Stärkungsmittel – zu stören, die mitgebrachten Erfrischungen neben seinem Lager nieder und verließ geräuschlos das Gemach. Während sie durch den dunkeln Gang nach der Kajütentreppe eilte, glaubte sie ein- oder zweimal Fußtritte zu hören, und blieb lauschend stehen; da ihr aber niemand begegnete und sie keinen weiteren Laut vernahm, glaubte sie sich geirrt zu haben, und erklärte sich die Sinnestäuschung mit dem Bewußtsein, auf heimlichen Wegen zu gehen. Dennoch hielt sie es für angemessen, sich zuerst nach der Kambüse zu begeben, wo sie einige Minuten verweilte, ehe sie nach der Kabine zurückkehrte. Als sie hier eintrat, bemerkte sie nicht ohne Schrecken die Gestalt eines Mannes, der vor dem Pulte ihres Vaters saß – aber ihre Furcht verschwand sofort, als sie in dem Gaste Mr. Renshaw erkannte.

Er erhob sich und legte das Buch aus der Hand, welches er in müßigem Warten ergriffen und aufgeschlagen hatte.

»Diesmal bin ich absichtlich hier eingedrungen, Miß Nott, und da ich niemand fand, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich ein bißchen in diesem kleinen Schmuckkästchen umzusehen,« sagte er.

Sein Lächeln dabei war so offen und harmlos, seine Stimme klang so angenehm, seine ganze Haltung zeigte nicht die geringste Beimischung der früheren steifen Gezwungenheit – und dennoch war sein Benehmen so achtungsvoll, er sah so jugendlich und doch männlich aus, daß es Rosi trotz ihrer Zerstreutheit auffiel. Ihre Augen leuchteten auf und senkten sich dann vor seinem bewundernden Blicke. Hätte sie geahnt, wie wunderbar die Aufregung der letzten Stunde ihr hübsches Gesichtchen verschönert, indem sie das schlummernde Leben der erst halb erschlossenen Blüte weckte, Rosi würde noch viel verwirrter gewesen sein. Wie die Dinge lagen, war sie nur froh, den jungen Mann so vorteilhaft verändert zu finden. Vielleicht erzählte er ihr nun Schiffsgeschichten; vielleicht, wenn sie ihn erst länger kannte, durfte sie ihn – natürlich mit de Ferrières' Erlaubnis – ins Vertrauen ziehen und seine Teilnahme und thätige Hilfe für denselben in Anspruch nehmen. Vorläufig mußte sie sich freilich damit begnügen, die schon im voraus empfundene Dankbarkeit auf ihrem Gesicht zu zeigen, als sie Renshaw mit mädchenhafter Schüchternheit bat, sich wieder zu setzen.

Aber Mr. Renshaw schien nur zu sprechen, um sie zum Sprechen zu bringen, und Rosi fand das sehr hübsch und unterhaltend. Es dauerte nicht lange, so kannte er ihre ganze einfache Lebensgeschichte, von dem Tage an, da sie noch als kleines Kind mit den Eltern nach Kalifornien ausgewandert war, bis zu der Zeit, da sie als heranwachsendes Mädchen in das alte Schiff verpflanzt wurde; ja, er hatte selbst von den Romanen gehört, welche sie in ihr Leben hier eingewebt. Und welche Pläne und Absichten er auch verfolgen mochte, er lauschte ihren kunstlosen Erzählungen so aufmerksam, als ob er daraus die eingehendsten Belehrungen schöpfe. Als sie einmal eine kurze Pause machte, sagte er ernst: »Ich muß Sie schon bitten, mich einmal in diesem wunderbaren Schiffe umherzuführen, Miß Nott, damit ich's mit Ihren Augen betrachten lerne.«

»Ich glaube, Sie kennen es bereits besser und wissen mehr davon als ich,« gab sie lächelnd zur Antwort.

Mr. Renshaw zog die Brauen ein wenig zusammen.

»Wieso?« fragte er mit einem Anfluge seines früheren steifen, unbehaglichen Wesens.

»Weil ich bemerkte,« sagte Rosi schüchtern, »daß Sie, als Sie neulich da oben umhergingen, alle Gegenstände in einer Weise berührten, als wären sie Ihnen ganz vertraut.«

Der junge Mann blickte auf und hielt seine Augen so lange auf Rosi geheftet, bis sein eigenes Gesicht wieder freundlicher geworden war.

»So hätte ich wohl auch, als ich Sie damals mit einem so wunderlichen Hute bekleidet fand, annehmen sollen, Sie trügen immer solche Hüte?« sagte er mutwillig.

Im ersten Rausche gegenseitigen Wohlgefallens finden junge Leute meist ein Lachen wie einen Seufzer hinreichend, ihre übereinstimmenden Sympathien auszudrücken, und so versetzte Renshaws Scherz die beiden in die größte Heiterkeit. Als sie noch mitten darin waren, trat Nott ein, aber die Befriedigung, mit der ihn das anscheinend vollständige Einvernehmen des Paares erfüllte, sollte bald eine Abschwächung erfahren, denn Rosi, der es plötzlich zum Bewußtsein kam, daß das unglückliche Geschenk ihres Vaters doch auch sie lächerlich gemacht hatte, wurde verlegen, und Mr. Renshaw nahm in Gegenwart des alten Mannes wieder die frühere abweisende Haltung an. Vergebens bemühte sich Abner Nott, anfänglich mit leichter Schelmerei sein eingehendes Verständnis für die zarte Bedeutung der Scene darzulegen, und später, als er damit nichts erreichte, und unruhig wurde, mit ebenso überzeugendem Ernste bemerklich zu machen, daß er in dem tête-à-tête nichts anderes erblicke, als ein Zusammentreffen zu rein geschäftlichen Zwecken.

»Ich hätte nich 'rein kommen sollen, Rosi, während du mit dem jungen Herrn über den Kontrakt sprachst,« sagte er. »Aber du brauchst gar nicht auf mich acht zu geben. Ich bin so wie so nur auf 'nen Augenblick gekommen, denn ich habe mit 'nem Manne da drüben um die Ecke noch 'was Notwendiges zu reden.«

Aber diese seine Kriegslist hinderte weder Renshaw, sich nach seiner Koje, noch Rosi, sich in die Kambüse zu begeben, Abner Nott blieb allein zurück und durchwühlte das Dickicht feines Bartes nach einer Erklärung. Endlich – während er auf seine ungeheuren, mit Schmutz bedeckten Stiefeln niederblickte, welche stark an seinen eigentlichen Beruf als Farmer erinnerten, und ihm das Ansehen gaben, als stehe er auf der breitesten Grundlage seines eigenen Ackers und Bodens – kam ihm ein leuchtender Gedanke.

»'s sind die Stiefeln,« sagte er leise zu sich selbst. »Die Trampel sind nich grade was Feines und passen gar nich hier in der Kabine – sie passen überhaupt nich, sondern aber fahren mir um die Füße 'rum, daß es beinahe aussieht, als ob sie ganz für sich allein ihr Spiel trieben, und die jungen Leute kriegen so 'was ja nun wohl gleich weg, und reißen aus.«

Dieser Erkenntnis mit seiner gewöhnlichen Raschheit des Entschlusses Rechnung tragend, begab er sich sofort zu dem nächsten Kleidertrödler, erstand ein Paar ungeheure, gestickte Morgenschuhe, welche einst einem gichtbrüchigen Schiffskapitän gehört hatten, und kehrte mit einer Befriedigung, als habe er die ganze Kabine neu auspolstern lassen, dorthin zurück. Nebenbei hatten die Schuhe noch eine andere magische Eigenschaft: sie machten Mr. Notts Fußtritte, welche sonst durch das ganze Schiff dröhnten und seine Gegenwart verrieten, leise und unhörbar.

Währenddem hatte Miß Rosi die Abwesenheit des Vaters dazu benutzt, ihren Kranken nochmals zu besuchen. Um jede Entdeckung zu vermeiden hatte sie kein Licht mitgenommen, sondern suchte tastend ihren Weg durch den finsteren Gang des unteren Deckes. Sie klopfte leise an de Ferrières' Thür und dieselbe wurde sogleich von ihm selbst geöffnet. Allem Anschein nach hatten die kleinen Veränderungen, welche sie in dem Raume vorgenommen, seinen Beifall gefunden, denn er hatte das Lager, von dem er aufgestanden war, zusammengeschoben und in zwei niedrige diwanähnliche Sitze verwandelt. Zwei Lichtstümpfchen erleuchteten die Koje, der Schlafrock war kunstvoll über den einzigen Stuhl drapiert und ein Haufen Kissen bildeten einen weiteren Sitz. Mit vollendeter Galanterie geleitete der alte Franzose Miß Rosi nach dem Stuhle. Er sah, obwohl der Anfall offenbar vorüber war, noch blaß und angegriffen aus, bestand aber darauf, vor ihr stehen zu bleiben. »Wer weiß ob mir nicht, wenn ich mich niedersetzte, nochmals das Malheur passierte, in Mademoiselles Gegenwart einzuschlafen, um sie dann, wenn ich wieder erwachte, nicht mehr zu finden,« sagte er.

Monsieur de Ferrières so wohl zu sehen, setzte Rosi mehr in Verlegenheit, als wenn er hilflos vor ihr gelegen hätte, und so erwiderte sie etwas befangen, sie freue sich, daß es ihm so viel besser gehe, und hoffe, daß die Kraftbrühe, die sie für ihn bereitet, nach seinem Geschmack gewesen sei.

»Das reine Manna, das reine himmlische Manna, Mademoiselle,« entgegnete er feurig, »Sehen Sie, ich habe sie bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken.«

Dabei zeigte er ihr die leere Schale. Wie ein Blitz schoß ihr die Ueberzeugung durch den Kopf, daß der Mangel an Nahrung ihm den Schwächezustand zugezogen hatte, und dieser Gedanke, welcher ihr die Thränen in die Augen trieb, gab ihr auf der anderen Seite die Fassung wieder.

»Ich wollte, Sie erlaubten mir, mit meinem Vater oder sonst jemand über Ihre Lage zu sprechen,« sagte sie, ihrem Herzen folgend, verstummte aber sogleich wieder, denn sie sah, wie ein halb wahnsinniger Schrecken in seinen tiefliegenden Augen aufblitzte.

»Wozu und weshalb, Mademoiselle?« fragte er, an allen Gliedern bebend. »Wegen meines Anfalls, der nichts – gar nichts zu bedeuten hat, denn wie Sie sehen, bin ich bereits wieder völlig wohl. Oder um einer Schrulle willen, welche Sie, wenn Sie wollen, eine Narrheit nennen können, und welche die Leute gar nicht verstehen würden? Nein, Mademoiselle ist gut und klug, sie wird sich selbst sagen, daß, wenn ihr Freund, Monsieur de Ferrières, ein Geheimnis hat, wenn es ihm nötig scheint, für den Augenblick die Rolle eines armen Arbeiters zu spielen, hier zu wohnen und sich einzuschließen, dies sein Geheimnis bleiben muß – und daß sie es, auch wenn sie sich vielleicht den Grund dazu denken könnte, doch nicht verraten dürfte.« Dabei hatte er Rosis Hand mit einer Gebärde ergriffen, welche galant sein sollte, in ihrer zitternden Eindringlichkeit aber mehr wie eine flehentlich bittende aussah.

»Ich habe niemand etwas gesagt und werde, wenn Sie es nicht wünschen, auch niemand etwas sagen,« entgegnete das junge Mädchen hastig. »Aber andere könnten doch auch die Entdeckung machen, wie Sie hier leben. Diese Arbeit ist für Sie nicht passend, denn Sie sind ein – ein Edelmann. Sie sollten lieber Advokat werden, oder Arzt, oder in ein Bankgeschäft eintreten,« fuhr sie schüchtern fort.

Er ließ ihre Hand fallen.

»Ah, begreift Mademoiselle denn nicht, daß ich gerade, weil ich ein Edelmann bin, zu dieser Arbeit griff,« entgegnete er heftig. »Gerade die Doktoren, die Advokaten und die Banquiers haben mich, den Edelmann, dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Die Arbeit, die ich hier thue, ist wenigstens eine ehrliche und das ist mehr, als was man von der des Arztes, des Advokaten und des Banquiers sagen kann. Ah bah! was ist weiter darüber zu reden?« setzte er hinzu, während er aufgebracht in dem Raume auf und ab schritt; aber ein flüchtiger Blick auf das halb besorgt, halb erschrocken aussehende junge Mädchen ließ ihn plötzlich still stehen. Er zog einen kleinen Handkoffer hinter den Roßhaarballen hervor und öffnete ihn. »Sehen Sie da, Mademoiselle,« fuhr er fort, indem er eine Handvoll beschmutzter und zerknitterter Papiere heraus nahm, »Sehen Sie, das sind die Werkzeuge Ihrer Herren Banquiers, Advokaten und Doktoren. Damit bringt der Banquier Sie um Ihr Vermögen, damit beweist der Advokat, daß Sie ein Dieb sind, damit erklärt der Doktor Sie für verrückt. Welche Arbeit würden Sie nun eines Edelmanns würdiger erachten,« setzte er hinzu, indem er den Haufen Kissen herbeischob, »diese – oder – jene?«

Es war den aufmerksamen Augen des jungen Mädchens nicht entgangen, daß mehrere der Papiere wie gerichtliche Dokumente, andere wie Frachtbriefe und Lieferscheine aussahen, und die halb theatralische Art, in der sie vorgewiesen wurden, erinnerte sie an ein Theaterstück, das sie einst gesehen. Sie konnten ebensogut den Schlüssel zu der Geschichte des Mannes enthalten, wie wertlose Papiere sein, die nur in seiner wirren Phantasie Wichtigkeit besaßen. Mochte der Fall aber liegen wie er wollte, de Ferrières schien nicht geneigt sich weiter darüber auszulassen.

»Was belästige ich aber Mademoiselle mit solchen Dingen,« sagte er, in seine gewöhnliche hochtrabende Art zurückfallend. »Wie sollten solche Sachen Sie interessieren? Wir wollen lieber davon reden, daß Mademoiselle meine arme Hütte mit ihrer Gegenwart beglückt.«

»Aber sind jene Papiere nicht vielleicht wirklich wertvoll?« bemerkte Rosi.

»Vielleicht!« und nachdem er das junge Mädchen eine Weile scharf angesehen, setzte er fragend hinzu: »Hat Mademoiselle Grund, das zu glauben?«

»Wie sollte ich?« erwiderte Rosi. »Ich verstehe nichts davon.«

»Ah, wenn Mademoiselle der Meinung wäre – wenn sie mich der Ehre wert hielte –« hier stockte er, legte die Hand an die Stirn und murmelte dann: »so könnte es wohl so sein.«

»Ich muß jetzt fort,« sagte Rosi hastig, indem sie sich ängstlich erhob. »Vater wird sich wundern, wo ich bin.«

»Ich werde es ihm erklären; ich werde Sie begleiten.«

»Nein, nein,« entgegnete Rosi rasch, »er darf nicht wissen, daß ich hier gewesen bin.« Sie brach ab, wurde rot – und errötete dann noch einmal darüber, daß sie rot geworden war.

De Ferrières sah sie mit verzückten Blicken an. Dann richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf und sagte mit einer unbeschreiblichen Gebärde überschwenglichen Stolzes:

»Gehen Sie, mein Kind, gehen Sie, und sagen Sie Ihrem Vater, daß Sie allein und unbeschützt in der Höhle der Armut und des Leidens gewesen sind, daß aber Armand de Ferrières zu Ihrem Schutze da war.«

Dabei öffnete er mit einer tiefen Verbeugung die Thür und ließ das junge Mädchen hinaus, ohne ihr die Hand zu bieten. Rosi, gleichzeitig verlegen und ergriffen, verabschiedete sich mit einem »Gute Nacht«, das zwischen Lächeln und Thränen schwankte, und schlüpfte in den dunklen Gang hinaus.

Hoch aufgerichtet in ritterlicher Haltung blieb de Ferrières stehen, bis der Schall ihrer Fußtritte verklungen war; dann versuchte er, langsam die Thür zuzuziehen. Aber ein starker Arm hielt sie von außen fest und ein großer mit einem gestickten Morgenschuh bekleideter Fuß schob sich in die Spalte. Als die Thür nachgab, trat Abner Nott in das Gemach.


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