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Schoenebecks.

Allenstein, das Olsztyn der masurischen Polen, liegt an einem Nebenfluß des Pregel, der Alle, wo Marschall Soult 1807, vier Tage vor der Schlacht bei Eylau, den russo-preußischen Nachtrab schlug. Ungefähr dreißigtausend Einwohner. Kreisstadt im preußischen Regirungbezirk Königsberg; fünfzig Kilometer von der russischen Grenze. Hochmeisterschloß; restaurirte Katholikenkirche; nah beim Städtchen die Provinzialirrenanstalt Kortau. Schneidemühlen, Brauereien, Maschinenfabriken; Handel mit Holz, Leinwand, Hopfen. Dragoner, Feldartillerie, zwei Infanterieregimenter in Garnison. Dahin wurde im Dezember 1906 der fast siebenunddreißigjährige Hauptmann von Goeben als Batteriechef versetzt. Sohn aus der zweiten Ehe eines Gutsbesitzers, der als Sechzigjähriger an Leberkrebs starb. Die Mutter, in deren Familie Psychosen nachweisbar sein sollen und die als eine in hemmunglosen Ueberschwang neigende, dem Sohn in blinder Zärtlichkeit anhangende Frau geschildert wird, war fünfunddreißig Jahre alt, als das Kind ihrem Schoß entbunden wurde. Schwere Zangengeburt. Die rechte Seite des Knabenkörpers bleibt in der Entwickelung hinter der linken zurück. Arm und Bein sind rechts um einen Centimeter kürzer als links. Der Jüngling, der Mann schleift das rechte Bein schwerfällig nach und benutzt zum Schreiben und Schießen den linken Arm. Als Kind hat er an Masern, Scharlach, Keuchhusten, Skrofulose gelitten und sich einen Leistenbruch zugezogen. Als Neunjähriger den Vater verloren und seitdem den strengen Ernst eines Erziehers nie kennen gelernt. Ein leidlicher Schüler, der im Sprachenunterricht schlecht, in Mathematik und Geschichte besser vorwärts kommt, neben Durchschnittsverstand ungemeinen Hang ins Einbildnerische zeigt und oft auf der Neigung ertappt wird, Erträumtes für Erlebtes auszugeben. Er entschmeichelt der Mutter die Erlaubniß, Seekadett zu werden, scheidet aber bald wieder aus diesem Corps und besteht im zwanzigsten Lebensjahr die Abiturientenprüfung. Dann tritt er, der sich durch Leibesübung gekräftigt hat, ins Heer, wird 1891 Lieutenant in einem nordwestdeutschen Feldartillerieregiment, nimmt 1899, als Oberlieutenant, den Abschied und ficht in Südafrika im Burenheer gegen die Briten. Dort wird er viermal verwundet (an Armen und Händen, an der Hüfte und dem fünften Metakarpalknochen) und von seinem auf ihn stürzenden Pferd an Darm und Niere gequetscht. Erkrankt an Malaria und Schwarzwasserfieber und kehrt mit geschwächtem Körper nach Europa zurück. In einer Brochure, die von den Sachverständigen beachtet wird, schildert er die Burentaktik. Beantragt seine Reaktivirung, wird in den Großen Generalstab versetzt, geht 1903, im Aufstandsfrühling, nach Makedonien (wo er an heftigen Malariarückfällen leidet), arbeitet dann wieder im Generalstab und wird, nach einer langwierigen Furunkulose, im Advent 1906 als Batteriechef ins Masurische Feldartillerieregiment Nr. 73 versetzt. Kein Mustersoldat; doch einer, der seinen Beruf liebt. In der Moltkestraße genügt seine Leistung nicht und auf der Generalstabsreise fällt sein Unvermögen, seine Zerfahrenheit geradezu auf. Er ist unpünktlich, im Bureaudienst lässig, verträumt und macht sich durch hochfahrendes wie durch würdelos unterwürfiges Wesen manchem Vorgesetzten verhaßt. Den Kameraden ist er ein Sonderling, hinter dessen fest verschlossener Fassade vielleicht auch besondere Fähigkeit zu suchen ist. Einer, der schon Blut gerochen, Menschen getötet, Kerls gegen den Feind geführt hat: Das unterscheidet ihn von den Offizieren des Heeres, das seit fast sechsunddreißig Jahren im Frieden exerzirt. Dazu die Romantikerpose Eines, der sich in Martyrien sehnt; nur nach der Möglichkeit zu lechzen scheint, für den Nächsten, den Fernsten sein Leben zu opfern. »Ich würde mich ohne Zaudern töten, wenn ich mit diesem Opfer einem bedrängten Menschen helfen könnte; dann hätte mein Leben wenigstens einen Nutzen gehabt.« So spricht er; und findet Gläubige. Trotzdem Keiner ihn je ein Opfer bringen sah, traut mans ihm zu. Die Legende umspinnt die Gestalt des schlanken, mittelgroßen Mannes mit dem nach englischer Sitte gestutzten Schnurrbart in dem breiten, gelbbraunen Gesicht, über dem das Haar früh zu ergrauen beginnt. Wegen einer Frau soll er, in einem Duell ohne Zeugen, einen Kameraden getötet haben. Einen anderen wollte er, als Vertheidiger der Frauenehre, würgen. Interessant. In Berlin hat er, auf dem Victoria-Luise-Platz, einen häßlichen, grinsenden Mann beim Schnurrbart gepackt und ihm mit so wildem Blick in die über den Lippenrand ragenden Zähne gelacht, daß der Erschreckte einen Tollen vor sich zu sehen glaubte und hastig davonlief. Unheimlich. Nicht Einer, wie man ihn in jeder Garnison auf der Straße trifft. Er will auffallen: und erreichts. Die Männer achten auf ihn; den Preußenmädchen ist er ein lockendes Räthsel. Doch die Weiber, denen der melancholische Held des Burenkrieges leicht einen lächelnden Blick abstöhle, scheint der Herr Hauptmann nicht zu sehen.

Eine Weile auch nicht die eleganteste Dame der Kleinstadt: Antonie von Schoenebeck (die sich lieber Antoinette nennen läßt); die Frau eines Majors, der als Soldat bei Vorgesetzten und Untergebenen einen guten Ruf hat. Sonst? Die Frau hält er nicht so fest im Zaum wie seinen Gaul. Könnte von ihr wohl bessere Manieren und korrekteres Wesen fordern. Eine gut aussehende, aber schlecht disziplinirte Dame, deren Schrullen in allen Ecken beschwatzt werden. Daß sie einen ihr noch nicht vorgestellten Rittmeister unter freiem Himmel um eine Cigarette bittet und ihm, hinter dem Rauchwölkchen, dann ins Gesicht lacht, zeigt einen Mangel an schüchterner Zurückhaltung, der dem Kavalleristen das Blut in die Stirn treibt. Scheint aber harmlos, wenn mans Anderem vergleicht, was das Gerücht ausplaudert. Schlimme Erotika. Obs wahr ist? Die Tochter, die Frau eines Offiziers! Kaum glaublich. Und wer will sich die Finger verbrennen? Der Ehemann erfährts ja immer zuletzt. Dieser kümmert sich nur um das Bataillon (kaum um seine zwei Kinder) und um das Waidwerk. Fast jede dienstfreie Stunde verbringt er auf dem gepachteten Jagdgrund. Läßt die Frau thun, was ihr beliebt. Müßte aber natürlich losknallen, wenn ihm ein der Satisfaktion Fähiger die Frau verdächtigte. Solcher Gefahr will Keiner sich aussetzen. »Laßts laufen und seid froh, wenn nicht auch in unserer kleinen Grenzgarnison ein Riesenskandal zum Himmel stinkt.« Gustav von Schoenebeck, der selbst nur achtzigtausend Mark, also kaum mehr als dreitausend Mark Zinsen im Jahr außer dem Sold zu verzehren hat, kann mit dem Gelde der Frau behaglich leben und seine Gäste besser bewirthen als mancher Brigadier. Warum soll man sich den derben, aber bequemen Passagier verfeinden?

Hauptmann von Goeben hat gehört, daß über die Majorsfrau Uebles getuschelt wird; dem Gerede aber nicht nachgedacht. Im Februar 1907 sieht sie ihn auf einem Kostümball. Er ist in Matrosentracht, mit offenem Hals und Brustansatz; und mag, mit der dunkelgelben Haut und dem schleppenden Gang, recht in den Anzug passen. Frau von Schoenebeck hat beim Anblick des seltsam fremdartigen Ballgesellen durch ein jähes Zucken ihr Interesse verrathen, seinen Namen erfragt und ihn dann doch wie einen ihr Unbekannten angesprochen. »Wer bist Du?« Maskenfreiheit denkt sie, ist auch ohne Maske möglich (und führt schneller als konventionelle Damensitte ans Ziel). Goeben erschauert bei so unzarter Berührung und kriecht rasch in seine Schale zurück. Die, ward ihm gesagt, will jeden Neuen in ihr Arachnenetz ziehen. Er sträubt sich. Giebt ihren drängenden Fragen nur karge Antwort und entzieht sich der Einladung, auf dem nächsten Regimentsball ihr Kavalier und Haupttänzer zu sein, mit der Begründung, Familientrauer hindere ihn, sich unter die Tanzpaare zu mischen. Doch einen Besuch schuldet er der beängstigend freundlichen Dame. Er geht hin, folgt auch der Einladung zum Abendessen »in kleinem Kreis«, will aber weder in der Bahn mit Antonie reiten noch ihr seine Pferde leihen. Immerhin: er kommt nun manchmal ins Haus des Majors und gewöhnt sich in den Verkehr mit der Frau. Der in der gemäßigten Zone der Garnisongeselligkeit bleibt, bis die Erfahrene den Wildling so weit zu haben glaubt, daß sie, endlich, die stärkste ihrer Künste an ihm erproben kann. Als Mitleidigen, nach Martyrien Lüsternen stellt er sich zur Schau: an dieser Stelle ist der Stichfeste verwundbar. Sie schreibt ihm; bittet artig um seinen Besuch, seinen Rath, den die Schätzung seines Charakters ihr werthvoll mache. Er kommt. Findet sie zum ersten Mal allein. Und so jammervoll unglücklich! Die Arme ist verleumdet worden, grundlos, versteht sich, und hat, all in ihrer Unschuld, auf diesem weiten Rund der Erde nicht einen Menschen, der für sie eintritt. Ihren Mann? Als ob Der mehr von ihr wollte als ihren Leib, ihr seelisches Erleben auch nur ahnte! Der würde sie gar nicht verstehen; hat sie niemals verstanden. Ueber Den dürfe sie, um nicht allzu bitter zu werden und die eheliche Diskretion zu vers letzen, überhaupt nicht sprechen. Einen Freund! Aber giebts denn in dieser häßlichen Welt der Konvenienz, Heuchelei und Streberei noch aufrechte, zuverlässige, selbstlose Männer, die mit einem Frauenherzen zu fühlen wissen? Von Allen, Goeben, die ich je sah, sind Sie der Einzige, dem ichs zutrauen könnte; ob gerade ich Ihnen aber nicht unangenehm oder gleichgiltig bin? Das alte Spiel; das älteste. Dem Hauptmann ists neu. Und der Reiz dieser schlanken, langbeinigen Frau wirkt noch aus stattlichen Resten. Goeben tröstet, räth, kommt wieder, wird als Retter gepriesen, als Schützer und furchtloser Held; und drückt, selig schon zunächst in dem Bewußtsein, lange genährtem Heilandwahn so brünstigen Glauben geweckt zu haben, seine Lippen auf den Mund der Frau, die sich, in der Ohnmacht überquellenden Dankesbedürfnisses, erfröstelnd in seine Arme gleiten ließ. Sie hat ihn. Er wird ihr Ritter. Vor den Kameraden ihr eifernder Anwalt. Und (so will sies) der hitzige Ankläger ihres Mannes. Der? Ein roher, nach Geld und Fleisch dieser herrlichen Dulderin nur gieriger Patron. Wenn man reden dürfte! Aber die Unvergleichliche will keinen Lärm; trägt mit der Geduld eines Engels, was kein Sterblicher zu tragen vermöchte. Die Kameraden heben lächelnd die Achseln. Wieder Einer! Das Remontensystem dieser Kavalleristin versagt wirklich nie. Na, schließlich ist der gute Goeben kein Milchbart. Siebenunddreißig. Allerlei Wind hat ihm um die Nase geweht. Der wird sich, mit ein paar Schrammen vielleicht, schon allein aus der Chose herauswickeln. Wie vor ihm so Mancher. Leichter wohl und rascher als die Meisten.

Am zweiten Tag nach der Weihnacht findet, morgens vor Sechs, der Dragoner, der des Majors Burschen vertritt, Herrn von Schoenebeck tot in seinem Schlafzimmer. Die Leiche liegt auf dem Rücken, ist nur mit Nachthemd und Pantoffeln bekleidet; aus einer Stirnwunde rinnt noch Blut. Zwischen den Beinen liegt ein Revolver. Im Schlafzimmer brennt das Elektrische Licht. Die in das kleine, dem Hof benachbarte Speisezimmer führende Thür ist offen. Der Dragoner sagt, was er gesehen hat, dem Pferdeburschen. Den Hausmädchen und dem Kinderfräulein wirds erzählt. Dieses Fräulein Eue bringt der Witwe die Schreckensbotschaft. Frau von Schoenebeck schreit, heult, tobt; bleibt aber im Bett. Rennt nicht das Treppchen hinunter, um den Leib des Mannes zu sehen, in dessen Umarmung sie zwei Kinder empfangen hat. Ein paar Kameraden Schoenebecks sind geweckt worden und eilen herbei. Raubmord nach einem Einbruch? Im Haushalt fehlt nichts; Geld, Silberzeug, Uhr, Tischgeräth: Alles in Ordnung, Selbstmord? Bei diesem ruhigen, gleichmüthigen Mann in geordneten Verhältnissen schwer glaublich. Auch wird, als die Räthe des Kriegsgerichtes angelangt sind, festgestellt, daß der Revolver, der zwischen den Beinen der Leiche lag, noch mit allen sechs scharfen Patronen geladen ist und, mit seinem Kaliber, nicht zu der Einschußöffnung auf Schoenebecks Stirnhaut paßt. Nach Sieben kommt Goeben, um den Hausherrn zu einem (angeblich vereinbarten) Jagdausflug abzuholen. Der Bursche meldet, der Herr Major habe sich erschossen. Undenkbar, sagt Goeben; weilt nur eine Minute neben der Leiche und stürmt dann hinauf: die Witwe zu trösten. Ob sie ihm (wie sie behauptet) ihr Schlafzimmer sperrte oder ihn (wie er behauptet hat) einließ? Nach seiner Angabe hat sie, als er eintrat, geschrien: »Mein Gustel!« Bei seinem Anblick sich nicht beruhigt; gefragt: »War er gleich tot? Ich weiß von nichts. Ich bin verrückt. Sags Allen!« Als Goeben wieder unten ist, scheint er ganz ruhig. Spricht, wie schon lange, schlecht über Schoenebeck; meint, Frau Antoinette könne sich der Thatsache freuen, daß sie von diesem rohen, herzlosen Wicht nun befreit sei; ruft, als der Hühnerhund vor der Schlafzimmerthür anschlägt: »Hirschmann verbellt ihn jetzt.« Kaut bald danach gemächlich an einem Kuchenstück. Und fordert die Offiziere auf, mehr als an den Toten, für den ja nichts mehr zu thun sei, an »die Lebenden da oben« zu denken. Schon an diesem Morgen weckt sein lautes, protziges, dann wieder scheues Wesen leisen Verdacht. Er gilt als Antoniens Liebster. Hat längst im Ton grimmigen Hasses über den Major geredet. War am Tag vor der Mordnacht Stunden lang in Schoenebecks Haus. Cui bono? Der alten Kriminalistenfrage findet man nur eine zureichende Antwort. Nur Goeben bekannte sich als Schoenebecks Feind; nur er hatte ein Interesse daran, die Frau (die ihm eine unverstandene, mißhandelte, geschändete Heilige war) freizumachen. Er wird vernommen.

In seiner Wohnung eine Mensurpistole gefunden, deren Kaliber genau zu der Einschußöffnung am Kopf des Toten paßt. Nach der Vernehmung beeilt er sich, der Witwe den Inhalt seiner Aussage mitzutheilen. Der Brief wird aufgefangen und bewirkt, mit anderen beträchtlichen Verdachtsmomenten, die Verhaftung des Hauptmannes. Da Zweifel an seiner Zurechnungfähigkeit entstehen, wird er zuerst in Kortau beobachtet, dann, im Militärgefängniß, von dem münchener Psychiater Freiherrn von Schrenck-Notzing untersucht und befragt. Unter der Wucht des Belastungmaterials hat er sich inzwischen zu der That bekannt. Zur Tötung; nicht zu überlegtem Mord. Am zweiten März 1908 hat er sich mit einem stumpfen Tischmesser die Halsadern durchs sägt. Er wollte sterben. Den qualvollsten Tod.

Goeben hat zuerst die ganze Schuldlast auf sich genommen und hitzig bestritten, daß Frau von Schoenebeck als Anstifterin oder Beihelferin mitschuldig sei. Später hat er die Frau schwer belastet. Um sich selbst der Strafe zu entziehen? Als ein durch krankhafte Geistesstörung der freien Willensbestimmung Beraubter sich in die Rechtswohlthat einzuschmuggeln, die der einundfünfzigste Paragraph des Strafgesetzbuches gewährt? Die konnte ihn aus der Untersuchunghaft nur ins Irrenhaus führen. Das wußte er. Hörte auch von dem Sachverständigen, daß dessen Gutachten nicht Ausschluß, sondern nur Einschränkung der freien Willensbestimmung feststellen werde und daß unser Strafgesetz den Begriff verminderter Zurechnungfähigkeit nicht kenne (und nicht kennen darf, so lange es in dem Wahn von objektiver Freiheit des Menschenwillens befangen bleibt). Da war für den Hauptmann also nichts zu hoffen. Seine Verurtheilung zum Tod sicher. Und im Kreis der Rechtsgenossen fiel auf ihn ein ungünstigeres Licht, wenn er als Werkzeug eines kranken Frauenhirnes, nicht als ein in männischer Leidenschaft Strauchelnder ins Verbrechen geglitten war. Doch er wußte nun, in welche Pfütze er sein armes Herz geworfen hatte; und fühlte sich von jeder Schonung entpflichtet. Sollte in solchem Tümpel sich noch einmal das Himmelslicht spiegeln? Der hamletische Todesstundenwunsch, sich und seine That erklären zu lassen, oder der Exhibitionistendrang, vor Menschenblicken die Scham zu entblößen: Goeben löste vom Geheimniß seines Erlebens das letzte Siegel. Er wollte sterben. Den qualvollsten Tod. Den hatte er nie fürchten gelernt. Doch die Ueberlebenden sollten ihn kennen.

Den Knaben treibts in enthusiastische Freundschaft, die ihm aber kein Lustgefühl schafft. Erst den Siebenzehnjährigen überfällt das Pubertätfieber. Im Traum fühlt er, den die Mutter, im Scherzspiel, einst auf ihrem Rücken reiten ließ, unter seinen von zarten Armen umklammerten Schenkeln einen Frauenrücken, fühlt in der engen Schlinge seiner Arme einen feinhäutigen Hals: und erwacht in der müden Wonne, die des Geschlechtshungers Stillung wirkt. Der Jüngling ersehnt und beschleunigt die Wiederkehr solcher Träume; sucht sie, als er reiten gelernt hat, auch als Wacher herbeizuzwingen und gewöhnt sich, im Sattel den Akkumulator seines Geschlechtstriebes zu entladen. Liebt sein Roß wie ein Weib, tätschelt es mit sanftem Finger, kraut ihm schäkernd die Mähne, kitzelt es zärtlich mit der Fußspitze, dem Sporn; und läßt von wollüstiger Vorstellung den Frauenleib formen, der ihn, in seligerer Stunde, tragen soll. Keiner hat ihm jemals von Sexualbedürfniß und Sexualgefahr gesprochen, Keiner ihn je vor schädlichem Mißbrauch des Zeugungorganes gewarnt. Den dumpfen Sinn schreckt das Geschlechtswesen der Frau, von der er doch das höchste, heißeste Wohlgefühl hofft. Wer sie spornen, bis zur äußersten Ermattung antreiben und die Keuchende nach Belieben dann zügeln könnte! Der Lieblingtraum wird zur unentbehrlichen, zwingenden Vorstellung und der Artillerielieutenant thut wie Onan, Judas zweiter Sohn von Sua, den des Herrn Zorn traf, weil er, statt bei des Bruders Witib zu liegen, seinen Keimsaft in die Erde sickern ließ. In so unkeuscher Enthaltung vom Weib lebt er Jahre lang; und das Nervensystem des aus kränkelndem Stamm Ersproßten wird im Wirbel solcher gewaltsam erkünstelten Wonnen früh morsch. Ob ihn je ein Mannesleib reizte? Er hats geleugnet. Die seltsame Art seiner Lustvorstellung ließe leicht darauf schließen. Einerlei. Ringsum riechts, in Kaserne und Kasino, nach Weibergeschichten: und dieser Lieutenant hat nie eine Liebste gehabt, nie nur sich an einem Dirnchen gekühlt. Hält sich drum für Einen von ganz besonderem Schlag; vereinsamt im Innersten; darf, ein vom Fluch der Lächerlichkeit Bedrohter, sein schmähliches Geheimniß aber nicht entschleiern; und sinkt, ums noch fester einzuhüllen, in die Gewohnheit, jedem Auge sich anders zu zeigen, als er ist. In einen Sumpf, dessen Pestbezirk Wahrhaftigkeit nicht gedeihen läßt.

Herr von Goeben spielt den interessanten Sonderling. Das Leben? Ein Quark. Für eines Bettlers, eines Krüppels Glück würfe ers hin. Der Dienst? Im Frieden ein freudloses Handwerk, das dem Ernst hoher Weltauffassung nicht zu genügen vermag. Und wer darf zweifeln, daß solche Auffassung in einem Offizier lebt, der sich aller galanten Kurzweil fern hält, zu dem Weib wie zur reinsten Priesterin aufschaut, in seinem Fühlen Kindern und Thieren innig gesellt ist, der Schwachen, Mißhandelten, Bedrohten Vertheidiger wird und vom Schicksal nur die Möglichkeit schmerzhafter Selbstaufopferung heischt? Goeben findet Freunde; findet jüngere Kameraden, die an die rauhe Tugend dieses fast heilig scheinenden Kriegers glauben. Friert aber in den mühsam gespeisten Weihflammen dieses Kultes und möchte ihm, möchte sich selbst gern entlaufen. Wenn er sich ins Rollen der Begebenheit stürzt, dem Körper, dem Kopf die letzte Leistung abverlangt, die der Kraft eines Menschen erreichbar ist, wird der Bann vielleicht gebrochen; lindert sich wenigstens wohl der Zwang und ermöglicht ein helleres Leben im sicheren Gehege der Norm. Solche Hoffnung treibt ihn in den Burenkrieg (wo er emsig nach dem Ruhm tollkühner Todesverachtung trachtet) und in die blutige Wirrniß des Makedonenaufstandes. Doch die Hoffnung trügt.

Schwere Malariarückfälle zerrütten den Körper. Als ein Alternder, dem sich an der Schläfe schon das Haar bleicht, kehrt er heim; und kann die Leistungfähigkeit der Lieutenantszeit nicht wiedergewinnen. Schlaflosigkeit und häufige Schweißausbrüche schwächen ihn. Er ist düsteren Sinnes, oft mürrisch, mitten im Dienstbetrieb manchmal zerstreut; und erzählt in lebhafteren Stunden aus seiner Kriegszeit Geschichten, die jede gründliche Nachprüfung als erfunden oder gefärbt erkennen muß. Sein Geschlechtsleben hat sich nicht geändert. Nur haben sich, unter heißerer Sonne, in fremdartigen, seelisch erregenden und ganze Tage lang in den Sattel zwingenden Verhältnissen, die Exzesse von Mond zu Mond gemehrt; ist tägliche Masturbation zur Gewohnheit geworden, deren Zwang dann auch in Berlin weiterwirkt. Die spärlichen Versuche, im Arm einer Frau Stillung, Heilung zu finden, sind fruchtlos geblieben. Der fast Siebenunddreißigjährige, der als Batteriechef nach Allenstein versetzt wird, hat als ein Glücklicher, ein bis zur Sattheit Seliger niemals noch den Leib eines Weibes umschlungen.

Im März hat er die von überströmendem Dankgefühl hingerissene Antonie geküßt; dem Drängen ihrer nach körperlicher Vereinung lechzenden Hypererosie aber, im Bewußtsein des Unvermögens, niemals nachgegeben. Er läßt sich lieben; doch durch die ungestümste Zärtlichkeit nicht aus dem vorsichtig gewählten Triebgewahrsam locken. Auch nicht, als der Major dem Haus ein paar Wochen lang fern bleibt. Der Lenz kommt endlich ins Pregelland. Die Luft erwärmt sich und unter dem letzten Schnee steigt sacht, in Wald und Garten, aus der Wurzel der Saft ins Gesträuch. Wühlt und wirkt auch in des Hauptmanns Sinnen die Zeugerkraft dieses Frühlings? In schwüler Mittagsstunde bebrütet, während des Heimrittes vom Uebungplatz, die Sonne in Goebens Hirn die Hoffnung, jetzt, so spät noch, das volle Glück der Mannheit zu erlangen. Wer weiß? Vielleicht hat ihm bisher nur der seine scheue, verschüchterte Geschlechtsart ergänzende Weibtypus gefehlt; der besondere Wesensduft, dessen Wehen auch ihn in den großen Orgasmus lenzlicher Natur taucht. In unbewußter Bewegung sinkt die fiebernde Hand vom Zügel und streichelt den Rücken des Thieres. Das den Reiter so willig trägt ... Aus heißen Dunstschleiern schält sich die Jünglingsvorstellung: ein feinhäutiger Hals, den seine Arme einklammern; unter seinen Schenkeln, in die sich rosige Fingernägel oder Ellbogen bohren, ein Frauenrücken. Kann dieser Traum nie Wirklichkeit werden? Schon ist er mit der im Lustverlangen Bedenkenlosen weit genug, um den Versuch wagen zu können. Setzt sie, wie ein Kind zum Huckepackspiel, auf seine Schultern; beugt dann lachend den Rumpf und läßt sie auf seinen Rücken gleiten; und endet das Jauchzduo mit dem Ruf, der von übermüthiger Minutenlaune auf die Lippe getrieben scheint: »Nun soll mal der Reiter das Pferdchen sein; sollst Du Deinen Braunen tragen!« Zum ersten Mal erlebt ers mit wachem Auge; fühlt sich von beseligendem Wollustspasma geschüttelt; ist zum ersten Mal in eines Weibes warmer Nähe seiner Mannheit froh geworden. Doch in der selben Sekunde auch der willenlose Sklave dieser Beglückerin. Milans Sohn hat einer Hofhure, weil sie den Scheinbann seiner Impotenz brach, die Serbenkrone aufs Haupt gesetzt. Was vermöchte Goeben der Frau zu weigern, die als Erste ihn, als Einzige, die Wonne einer der Natur nahen Geschlechtsbefriedigung erleben ließ? Die nistet nun in der Herzkammer seines Geheimnisses. Weiß, jetzt erst, was diesem Zagen die schlaffen Adern in Schwellung bringt, welcher Genitalreiz diesem Weibscheuen den Genuß natürlicher Paarung ersetzt. Den kann sie gewähren und kann ihn versagen; dem der Norm nicht mehr ganz Fernen auch völlige Heilung verheißen. Aus sicherem Herrschaftsitz spinnt sie dünne Fädchen, knotet eins behutsam ins andere: und hat mit engmaschigem Netz bald Kopf und Sinne des Mannes umstrickt. Noch spürt er den Druck nicht. Ist mit der Seligen selig, die mit ihren Buhlkünsten nicht geizt und, in Bereitschaft immer, mit ihrem langenden Blick, ihrem Lächeln, zu sprechen scheint wie zu Mahadöh der Mund der in Demuth geschäftigen Bajadere: »Was Du willst, Das sollst Du haben!« Im Stillen aber entschlossen ist, nur, was ihr beliebt, ihm zu spenden. Der Weibinstinkt wittert Einen, den nicht die Wirklichkeit, den nur die Vorstellung zur höchsten Willensleistung, auch zur männischen des Körpers, spornt; und ahnt rasch, daß die Vorstellungwelt dieses Willens früh abwelken müßte, wenn ihr nicht jeder Tag einen neuen tränkenden, belebenden Quell erschlösse. Heute muß Eifersucht, morgen Scham die Sinne des Hauptmanns düngen; heute darf er aus voller Schale schlürfen und morgen nicht einmal die Lippe netzen. In Antoniens Erzählung verthiert Gustav zum unersättlichen Bullen, der sich Tag vor Tag auf die Kalbe stürzt; zum geilsten Bock, dessen Gier zwischen zwei Sonnen mindestens einen Geschlechtsakt erzwingt. Doppelt brennt vor dem Schreckbild solcher roh prassenden Uebermännlichkeit die Schmach eigenen Unvermögens. Das wiche am Ende in der mittheilsamen Wärme steten Zusammenseins. Immer in Angst vor dem Tritt auf dem Gang, vor dem Morgengrau, das den Schlüpfweg über die Hausflur sperrt: nur ein selbst schon in Thierheit Gesunkener hätte da Ruhe zu stillendem Genuß. Von dem Lakentyrannen die Frau, von Eifersucht, Kraftlähmung, Schwachheitschmach den Mann zu befreien, giebt es ein einziges Mittel. Goeben beschwört Antonie, ihre Ehe scheiden zu lassen und ihm ganz zu gehören. Die Frau fällt in Ohnmacht. (Das kann sie nach freier Willkür; kann, wie mancher brahmanische Yogi und ein ukermärkischer Fürst, durch die Gewalt ihrer Vorstellung und Selbstsuggestion Krampf und Ohnmacht, Pulsstockung und Pulsbeschleunigung, abnorme Vorgänge verschiedener Art in ihrem Körper erwirken.) Flüstert mit blasser Lippe dann, daß nicht der schönste Traum ihr je so hehres Glück gekündet und der Rausch der Verheißung drum jetzt das Bewußtseinsthor überschwemmt habe. Ists denn auch faßbar? Für ein kleines Weiberherz nicht allzu viel stolzer Entzückung? Mein Mann wirst Du sein? Dein richtiger Mann; und werde (leise spricht ers, wie ein Flehen um Verzeihung) dann völlig gesunden.

Sie wollte ihn ganz. Sie hat ihn.

Die Zeit wilder Ekstasen beginnt. Zwar hat der in Unvermögensangst Erschauernde die Frau überredet, die Hochzeitdämmerung in keuscher Zärtlichkeit heranzuwarten. Aber Arachne ruht nicht; will ihr Sekret in der Luft zu neuen Fäden härten und den Kiefertaster des Männchens zu neuem Thatversuch wachkitzeln. Sonst lockern sich am Ende die Maschen; entschlummert, ohne aufrüttelnde Versuchung, wieder der mühsam geweckte Wille zur Mannheit. Weil in dem Liebenden des Mannes zu wenig ist, soll die Geliebte darben? Nur verhaßte Umarmung dulden? Erträgt er denn, ein Edelmann und Soldat, den Gedanken, daß ihr Leib, dessen Sehnen er niemals noch stillte, eines Anderen alltägliche Weide ist? Bebt nicht vor der Möglichkeit, ihre nie nach Lust getränkten Sinne könnten, wie dürstende Hunde an besudeltem Rinnsal, sich an unsauberem Born kühlen? Grauen, Ekel, alle Wächter schamhafter Liebe überrennen, rings um die Seelenfeste die Leuchtfeuer löschen und im Dunkel des Ehebettes von dem über dicht verhängten Pupillen Röchelnden in stummer Wonne nehmen, was der Mann zu geben vermag und der Liebste versagen muß? Mit solchem Wort, solchem Gräuelspuk reizt sie den Ruhelosen; reizt auch seinen Körper mit den in der Schule der Perversion und des Tribadismus erlernten Künsten. Und bleibt ihre Peitscherarbeit, all das von reicher Erfahrung geleitete Mühen dennoch unbelohnt, so hagelts Hohn in die beim Reitspiel entbundene Wunde. Tage lang kommt dann kein Laut aus Antoniens Kehle. Trieft der hagere Rumpf des Mannes vom Schweiß der Anstrengung, ihr ein Kosewörtchen, ein Lächeln nur abzulisten. Umsonst. Er soll sehen, wie unfroh sie neben ihm haust; soll vor der Gefahr zittern, daß in der trockenen Gluth das Gefäß ihrer Sinne undicht werde und ihre Liebe ihm so entrinne. Dann, plötzlich, schäumt ihre Zärtlichkeit wieder auf, umgischtet das Sandriff weggespülten Zornes und brandet an des Mannes aufathmender Brust. Ein Taumel ists nun, in dessen Strudeln und Gurgeln die ins Kindhafte verniedlichten Vornamen (»To« und »Pfausi«) fast verhallen. In jäher Folge gehts so; aus den Tropen im Flug wieder ins Nordpolarmeer. In der schlimmsten Stunde ihrer Geschlechtswuth entwickelt To sich der letzten Schamhülle und blößt einen Aussatz, den die Winkeldirne noch vor Jedem, den sie nicht wegscheuchen will, bürge: preist vor Pfausis Ohr den Buhlen vergangener Zeit, von dessen Manneskraft sie, wann ihr Schoß begehrte, beglückt ward. Goeben hörts an. Weicht nicht von dieser aus dem Bereich der Weibheit Geschiedenen. Kommt, in Aengsten und Fiebern, kaum über die langen Stunden hinweg, die er nicht in ihrer Athemnähe verhocken darf. Seine Schande empfindet er, die unabwaschbare Schmach so schnöder Entwürdung; und wühlt sich selbst doch tiefer stets in den warmen Schlamm. Auf dem Schießplatz stiert das Auge blicklos in den Sandboden. Auf dem Rücken des Pferdes stöhnt er den Namen der Frau ins Weite, fühlt sich auf dem bewegten Leib endlich wieder der »süßen To« näher und jagt unter einem Thränenstrom in ihren Dunstkreis zurück. Im Kasino ist er, in jedem Salon der Kleinstadt ein frommer, vor Frauen ehrfürchtiger, von der Heiligkeit der Ehe durchdrungener Christ, dessen strenge Sittlichkeit und spröde Mannestugend Alt und Jung bewundern. Hinter der Maske wohnt nur ein Wunsch: in neue, durch alte Gewöhnung verbürgte Lust rasch nun zurück! Bäumt sich nur eine Frage: Wie erwirke ich auch ihr so unersetzlichen Genuß, übermanne die Schwachheit meines Geschlechtswillens und sättige endlich die Sinne Einer, die des Hungerns, in gefährlicher Gluth, längst müde ward?

Der Herbst bringt Antwort; über alles Ahnen beglückende. Nach der langen Manövertrennung gelingt, was nie noch gelang: die Mann und Weib zum Gattungdienst nach der Norm der Natur einende Paarung. Von der Seele des Hauptmanns sinken die trüben Nebel und ringsum fängt, unter herbstlicher Sonne, Hoffnung zu blühen an. Muß To ihn, die Löserin aus zwanzigjährigem Geschlechtsbann, nicht allen Anderen unvergleichlich dünken? Darf Einer staunen, weil sie im Gestammel seiner Briefe das Süßeste und Wonnigste heißt, ein reines Heiligthum und ein Engel der Liebe? Nicht verständnißloser als vor der Wahrnehmung, daß auch den geheilt Scheinenden die Schlaue nicht vom Halfter läßt. Wenn er aus seiner Vorstellungwelt ins Land heller Wirklichkeit entliefe, wäre er ihr leicht verloren. Nur die Vorstellung spornt Diesen zur höchsten Willensleistung. Wie sicher, Pfausi, saß sichs auf Deinem Rücken! Willst unser Pferdchenspiel doch nicht ganz verlernen? Die Gewohnheit lebt wieder auf. Wer weiß denn, ob er immer bar zahlen kann? Der Vorsorgliche hält Surrogate im Haus: besonders in einem, dessen Herrin Tag und Nacht durch unerrechenbare Wünsche einhertost. Heftiger als je vorher fordert To jetzt Sklavendienste. In jeder Minute muß der Hauptmann ihres Winkes gewärtig sein. Ists; und möchte jauchzen, wenn er so recht sich erniedert sieht. Zieht der Wonnigsten die Stiefel aus, die von der Hitze des Rittes noch dünstenden Strümpfe und küßt knieend die feuchte Sohle des Fußes; wartet Stunden lang beim Stelldichein, das To absichtlich versäumt, und wagt nachher nicht den sanftesten Vorwurf; kniet vier Nächte lang an ihrem Bett, weil sie gesagt hat, nur seines Handtellers Wärme könne aufliegend den Schmerz lindern, der ihren Leib zusammenkrampfe; holt aus der Küche, der Besenkammer, was ihre Laune just heischt. Pfausi würde, wie in Nanas Schlafstube der in kraftloser, ehrloser Gier klappernde Graf Muffat, auf allen Vieren kriechen, mit den Pfoten wedeln und zwischen den Zähnen eine Klosetbürste apportiren. Warum nicht, da sie einander so rasend lieben, so unsinnig glücklich sind? Brautstandsspäse. Derbe, wie sie nach der Vermählung der Leiber möglich wurden. Alles ist ja besprochen. Die äußere Vereinung der Gepaarten nur noch eine Frage kurzer Frist. Sogar Goebens alte Mutter weiß schon, was sich im Allestädtchen vorbereitet, und zwischen ihr und To fliegen zärtliche, ehrerbietige Briefe hin und her wie zwischen Schwieger und Braut. Bis auf den Glücksgipfel ist nicht mehr weit. Das zwei Jahrzehnte lang unter Folterqual und Spottfurcht entbehrte Recht auf männischen Sexualstolz erworben; und mit ihm die Gewißheit, die Spenderin des nicht mehr erhofften Hochgefühles bald vor jedem Ohr sein nennen zu dürfen. Aktiv könnte Goeben nach dem Garnisongerede freilich nicht bleiben. Was liegt dran? Leise ertrachtet er die Betheiligung an einem Ueberseegeschäft. Für den Anfang sorgt Tos Geld, für den gedeihlichen Fortgang, Pfausi, sicher Dein kluger Kopf. Das Interesse am Dienstbetrieb schrumpft dem Hauptmann nun schnell. Lebhaft wird er unter Kameraden fast nur noch, wenn Schoenebecks den Gesprächsstoff liefern. Auf Hymnen folgt dann ein Gepfauch. Die Frau eine Heilige, der Mann eine Bestie. Madonna im Tigerkäfig.

Ein einziges Mittel giebts, hat Goeben im Sommer gesagt. Wenn Gustav von Schoenebeck aber die Wahl dieses Mittels hindert? Erzwingen läßt sich die Scheidung nicht; der Major, den Pfausis Wahn sich einbildet, würde Mißhandlung und Schlimmeres abschwören, um im Genuß des Geldes, des immer noch herbstlich schönen Leibes zu bleiben. Dann? Dulden, daß der Engel im Raubthierhaus weiterschmachtet? Auf Tos Geheiß hat er im Baumschutz des Gartens erlauscht, was im Ersten Stock einst im Dunkel geschah. Ein Klopfen. Die Stimme der Frau: »Nein! Du darfst nicht hinein; ich riegle die Thür nicht auf.« Stärkeres Klopfen. »Nie wieder! Mir graut vor der Zudringlichkeit Deiner Begierde.« Eine endlos scheinende Weile gehts so. Dem Hauptmann schlägt das Herz bis in den Hals. Die Stimme des Majors hat er nicht gehört; glaubt aber, daß der ewig Brünstige hinter der verriegelten Thür ächzte und tobte. »Da hast Du ein Bild meines Elends.« Gustav verpulvere ihr Geld und knickere, wenn sie Etwas für ihre Erholung fordere. Da sie sich der Brutalität seiner Schändungversuche entwinden wollte, hat der Wüthende ihr den Leib zerfetzt und mit Stößen und Hieben (»Sieh selbst!«) die Haut gepardelt. Nach dem Manöver zeigte sie dem Buhlen einen Bettbezug, in den, unter Gustavs roher Pranke, aus ihren geschundenen Hüften das Blut troff. Das soll ein Mann geduldig noch länger tragen? Ein Liebender? To ist zu milden Herzens, um sich selbst befreien zu können. Aus zu zartem Stoff, um einen Skandal zu überstehen. Herausforderung, Duell, Kriegsgericht? Die Folge wäre ein dem Major günstiges Scheidungurtheil, die Verarmung und Deklassirung der Frau, ein im Leben der Kinder fortwirkender Makel. »Lieber bis ans nahe Ende meines Lebens die Qual dieser grausigen Ehe.« Kein Mittel .. Eins. Das letzte aller entehrten Kreatur. Schon flüstern die Beiden davon. Arsenik? Die schafft er herbei. Doch wieder spricht ihres Mitleids Stimme lauter als der Drang nach Vergeltung. Sie vermag es nicht. Im Wald den einsamen Waidmann stellen und mit dem Revolver die Lösung des Ehebandes erzwingen? Weigert er sie: auch ohne Zeugen giebts unter Männern ehrlichen Zweikampf. Fällt der Hauptmann, so sprach ihm das Schicksal; trifft der sichere Menschenvisirer den Major, so ahnt Keiner den Schützen, der sich rasch ins Dickicht rettet und seine Waffe bei der Leiche läßt. Dann wird Selbstmord oder Jagdunfall angenommen. Doch die Hunde würden die fremde Spur erwittern. Antonie giebt dem Hauptmann ein Paar von Gustav getragener Strümpfe: daß er sie über die Stiefel streife und so die Spürnasen täusche. Immer vereitelt wieder ein neuer Zufall die Ausführung des bedachten Planes. Zufall nur? Nicht auch Feigheit Eines, der mit dem prahlerisch ausgereckten Geäst seines Wesens doch keinen Bezirk der Mannheit ganz zu decken vermag? Das Jahr neigt zum Ende: und der Jammer währt noch und scheint unausrodbar. Wie am Vaal einst der Stacheldraht, drückt der Hohn des Weibes sich dem Soldaten in die Brustwehrhaut. So oder so: er wirds vollenden. Hier kann er ohne Helferin, ohne determinirende Vorstellung sich als Mann erweisen. Unter dem Christbaum schwört er, der in der Weihnacht vier Stunden lang im Arm der Liebsten lag, nicht mehr zu säumen. In der nächsten Nacht steigt er durchs Hoffenster ein, tappt sich ans Schlafzimmer und tötet den Feind.

... Hätte dem Königlich Preußischen Major Gustav von Schoenebeck in der Weihnacht ein Kamerad oder Waidgenosse ins Ohr geraunt, dicht über des Mannes hartem Soldatenlager wärme, unter dem Pfühl, an dem noch seines Schweißes Ruch haftet, jetzt die Brust seines Weibes den zuckenden Leib Hugos von Goeben und aus dem oft unter Saugküssen erstickten Gewisper der Beiden webe sich die letzte Masche eines Mordplangespinnstes, das in der nächsten Nacht den Hausherrn drosseln solle, – er hätte aus ruhig athmender Brust die Antwort gehört: »Dummes Weiberzeug! Daß Einer oben ist, mag sein. Mancher hat da schon geschwelgt; und nach dem Geschlechtsnerv auch von meinen Tellern den Gaumen gefüttert. Mannsvolk genug, um einer Brigade zu befehlen. Ich weiß Alles. Wie sies gar, mit dem Erstbesten, in Berlin getrieben hat, wenn sie Wochen lang dort saß, ›um für Wirthschaft und Kinder billiger einzukaufen›. Das Thierchen hat ja jedes Lendenerlebniß ins Tagebuch gekritzelt. Kenne aus Briefen das Hengstgewieher der Angekörten. Alles. Sie läßts nicht. Kann nicht. Der Doktor sagt: Hysterische Hypererosie; ich habe ein kurzes Wort: Thierchen. Giebts auch im Wald. Was soll ich machen? Habe drei Dinge im Leben ernsthaft geliebt: meinen bunten Rock, meine Kinder, meine Jagd. Den Rock müßte ich an dem Tag, wo ich Toni mit dem Fuß wegstieß, ausziehen; mochte ich ihn noch so sauber gehalten haben. So ists mal bei uns. Unverschuldete Spritzer schänden. Ein wettiner Kronprinz wollte ja Seine drum noch nach der Flucht mit dem Hauslehrer wiedernehmen. Die elf und die sieben Jahre der Kleinen wären verwaist; standgemäße Laufbahn und Ehe ihnen gesperrt; Kinder einer Lüderlichen und eines Stabsknackers a.D., der knappe Dreitausend der Pension zuschustern kann. Für honoriges Waidwerk würde es nicht langen. Und sie? Versänke, wenn das Geld, das ich doch nicht behalten dürfte, verknallt ist, im Dreck. Muß ichs nicht gehen lassen und mich begnügen, das Aergste zu hindern? Ich rackere und birsche mich müde und schlafe fest wie ein Grimbart im Winterkessel. Kann, wenn ich will, mein Lustthierchen haben. Mord? Unsinn. Sie lügt Jedem den Buckel voll. Wenn sie abgebrunftet ist, hat sie Alles vergessen. Könnte sies irgendwo besser haben? Mit dem graugelben Bombenhugo ist nicht gut kramen. Aber ›interessant‹ sind Die oben; höllisch. Der Märtyrer in spe mit dem rothen Kragen noch mehr als das Ewig-Läufische. Mit Martyrien könnte ich dienen. Habe das Bitterste, Ekelste still geschluckt. Bin aber nicht ›interessant.‹«


Der Versuch, zu ergründen, wie in dem Artilleriehauptmann Hugo von Goeben der Drang nach Martyrien, dann der Mordplan entstand und wie der Major von Schoenebeck, in dem die Kameraden doch einen Mann von Ehrgefühl sahen, das Treiben seiner Ehefrau dulden konnte, dieser in so ernstem Fall nicht zu umgehende Versuch mußte ins dunkle Land der Sexualpathologie fuhren. Um neben dem lauten Prahlerdrängen in Märtyrerruhm das stille Martyrium Eines zu zeigen, der seines Rockes und seiner Kinder wegen das Bewußtsein der Geschlechtsschmach und die ihm wohl noch schwerere Last der stumm lächelnden Verachtung trug, war eine Darstellung unvermeidlich, die sich nicht von prüden Aengsten noch vom cant der Heuchlergewohnheit einschüchtern ließ. (»Eine traurige Wahrnehmung,« sagt der Preußenmagister Treitschke, »lehrt, daß die sogenannte Oeffentliche Meinung immer viel moralischer ist als die Thaten der einzelnen Menschen. Der Durchschnittsmensch schämt sich, tausend Dinge, die er wirklich thut, öffentlich auszusprechen und zu billigen. Was der gewöhnliche Mensch, wenn er unbetheiligt ist, im Tugendkosakenthum leisten kann, ist unglaublich.«) Wie aus der psychischen Impotenz und der ihrer Minderung folgenden Hysterikererosie in Goeben der Wille zur That erwuchs, mußte dargestellt werden. Das zu solcher Darstellung nothwendige Thatsachenmaterial fand ich in den Berichten über die allensteiner Kriegs- und Schwurgerichtsverhandlungen und in dem Gutachten, das der münchener Psychiater Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing in der Strafsache wider Goeben 1908 erstattet und »auf den ausgesprochenen Wunsch des Angeklagten der Oeffentlichkeit übergeben hat«. Alle von mir aus der vita sexualis Goebens und seiner To angeführten oder angedeuteten Vorgänge waren aus den Gerichtsberichten und aus diesem Gutachten bekannt; neu war nur die psychologische Deutung und der Versuch, ohne den Gerichtsapparat Das zu geben, was die französische Kriminalistik die Rekonstruktion des Verbrechens nennt. Schrenck-Notzing hat den angeklagten Hauptmann Tage lang im Gefängniß beobachtet, mehrmals gründlich untersucht, Schrift- und Gedächtnißproben mit ihm gemacht und aus seinem Munde die ausführlichste Beichte gehört. Er sagt: »Mein Gutachten stützt sich auf das Studium der kriegsgerichtlichen Akten und auf eine mehrtägige eigene Beobachtung des Angeklagten im allensteiner Militärgefängniß. Das Geständniß, die eigenen Angaben des Angeklagten über seinen Lebenslauf und über die Beziehungen zur Frau von Schoenebeck sind hier mitverwerthet worden, da, abgesehen von ihrer Uebereinstimmung mit klinischen Krankheitbildern und Erfahrungen, kein Anlaß besteht, ihnen die Glaubhaftigkeit abzusprechen. Nach anfänglichem Leugnen hat Goeben ein vollständig in sich geschlossenes und mit dem auf andere Weise erlangten Beweismaterial lückenlos übereinstimmendes Bild der ganzen Strafhandlung dem Untersuchungrichter und dem Sachverständigen gegeben. Diese Schilderung enthält den Angeklagten schwer belastende Einzelheiten, die vielleicht auf andere Weise überhaupt nicht zur Kenntniß des Gerichtes gelangt wären. Dazu kommt das vollständige Fehlen von Thatzeugen. Aber auch wenn Goebens Darstellung nicht völlig dem wirklichen Ablauf dieses fürchterlichen Dramas entspräche, so würde an der Größe seiner Schuld kaum Etwas geändert. Demnach scheint es berechtigt, auch in Bezug auf die Thatumstände die Mittheilungen des Angeklagten gelten zu lassen. Goeben war gut orientirt über allgemeine Lebensverhältnisse, geschichtliche, geographische Daten; wußte auch ziemlich genau alle Fragen über seinen Lebenslauf und über die Einzelheiten der Strafthat zu beantworten. Dagegen war sein Namensgedächtniß schlecht. Er konnte weder den Namen seines letzten Burschen noch die der Unteroffiziere seiner Batterie nennen. Er besaß keine besonderen sprachlichen Kenntnisse. Aufgefordert, las er aus einem ihm gehörigen Buch (über die Französische Revolution) eine halbe Seite laut vor und war dann nicht im Stande, den Inhalt des Gelesenen annähernd genau wiederzugeben. Die Art der Reproduktion machte einen direkt schülerhaften Eindruck. So weit es sich um eigene Interessen und die Produkte seiner überaus regen Phantasie handelte, war seine kombinatorische Fähigkeit außergewöhnlich gut. Dagegen waren Kritik und Hemmung der sich ihm je nach der momentanen Gefühlslage aufdrängenden Vorstellungverbindungen mangelhaft; das geordnete systematische Denken fehlte. Die mit Frau von Schoenebeck zusammenhängenden Vorstellungskomplexe waren über die Norm vom Gefühl betont, überwerthig und beherrschten seinen Gedankengang. Trotz allen Aufklärungen über ihren minderwerthigen Charakter, ihre hysterische Lügenhaftigkeit drängte sich ihm immer wieder die Meinung auf, er könne ihr durch seine Aussagen ein Unrecht zugefügt haben. Seine Willensäußerung war leicht zu beeinflussen; er war von einer bis zu den höchsten Graden psychischer Abhängigkeit reichenden Suggestibilität. Was er aus Mittheilungen der Frau von Schoenebeck wiedergab, klang glaubhaft. Für den Kenner des hysterischen Charakters qualifizirten sich die Einzelheiten dieser Darstellung als Produkte der zum Dramatisiren geneigten hysterischen Einbildungskraft. Die ganze ihrem Liebhaber gegenüber verfolgte und von ihm geschilderte Politik ist zu stilecht im Sinne der Hysterie, als daß Goeben sie hätte erfinden können. Zweifellos glaubte er den Uebertreibungen der Frau und ließ sich gegen den Ehemann einnehmen, obwohl ihm persönlich Schoenebeck nicht unsympathisch war und er auch niemals eheliche Streitigkeiten mit angesehen hatte. Selbständig wäre er überhaupt nicht auf die Idee gekommen, den Ehemann für einen Barbaren zu halten, wenn er nicht auch nach dieser Richtung geistig von der Frau vollständig beherrscht gewesen wäre. Goeben war, als erblich belasteter Psychopath, ohne seelisches Gleichgewicht. Er war in einem Zustand suggestiver Abhängigkeit von der Geliebten, den man als sexuelle Hörigkeit mit masochistischem Einschlag qualifiziren mußte. Deshalb war seine Zurechnungfähigkeit vermindert. Die Verantwortlichkeit war durch krankhafte Störung der Geistesthätigkeit erheblich eingeschränkt; doch nicht in solchem Grade, daß die freie Willensbestimmung als ausgeschlossen erachtet werden konnte.« Kein Grund, der ihn straffrei machte. So hat der einzige namhafte Psychiater geurtheilt, von dem der des Mordes angeklagte Hauptmann untersucht worden ist.

Für dieses Urtheil zeugen die Briefe, die Goeben nach der That schrieb. An den Kriegsgerichtsrath, der die Untersuchung führte: »Die Liebe zu der unglücklichen Frau hat mich wieder so übermannt, daß ich Alles bereue, was ich gegen sie ausgesagt habe. Bitte, bitte, schaffen Sie mir Beweise, daß sie mich während der Zeit, wo ich mit ihr zusammen war, betrogen hat! Bitte, erlösen Sie mich von der Leidenschaft, wenn Sie können! Ich bin wohl verrückt; ich kann den Gedanken nicht ertragen, ich hätte die Frau verrathen und es wäre am Ende gar nicht nöthig gewesen.« An einen Freund: »Ich bin von einer Frau, die vielleicht wegen ihres hysterischen Zustandes gar nicht oder doch nur zum Theil verantwortlich gemacht werden kann, durch dauerndes Anreizen, Klagen und Lieben in einen Zustand versetzt worden, der wohl nicht mehr als normal bezeichnet werden kann. Wenigstens begreife ich heute meine wahnsinnigen Ideen und Gefühle nicht mehr. Ich habe in diesem Zustand jene Frau für ein reines Heiligthum gehalten und ihr Alles, Alles geglaubt. Wenn ich heute zurückdenke, so begreife ich nicht, wie ich habe glauben können. Die Widersprüche waren so in die Augen fallend, daß ein einigermaßen vernünftiger Mensch sie merken mußte. Die Frau muß eine Art Suggestion auf mich ausgeübt haben. Ich habe ohne Bedenken, ohne alles innere Widerstreben die größten Verbrechen ausgeführt, die sie von mir haben wollte, und fühlte mich sogar glücklich dabei. Ich wußte aus ihrem eigenen Munde, daß sie ein leichtsinniges Vorleben geführt hatte. Das Alles hat mich nicht abgehalten, sie bis zum Wahnsinn zu lieben und geradezu abgöttisch zu verehren. So hat sich in mir auch die Idee festgesetzt, ich müsse diese Frau von ihrem Mann befreien, den sie nicht aufhörte mir in den widerlichsten Farben zu schildern. So ist es denn gekommen, das Gräßliche. Meine Absicht, den unglücklichen, ahnunglosen Mann im Wald zu stellen, mißlang. Da habe ich es in seiner Schlafstube gethan. Sein Revolver hat leider versagt. Warum ich mich nicht selbst daneben gelegt habe? Ich begreife es heute nicht mehr. Ich habe mir noch Tage lang eingebildet, eine gute That gethan zu haben; und die wahnsinnige Sehnsucht und Idee, die Frau doch noch einmal meine Frau nennen zu können, hat mich davon abstehen lassen. Ich war so in ihrer Gewalt, daß ich Alles, aber auch Alles darüber vergessen habe. Ich hätte Vaterland, Mutter, Freunde, Alles, Alles lachend im Stich gelassen, wenn ich dafür diese Frau hätte eintauschen können. Wie ich ja auch meine eigene Ehre lachend in den Dreck getreten habe. Ich stehe schaudernd vor all diesen Gemeinheiten (wenn man dieses milde Wort darauf anwenden darf) und kann mir überhaupt noch gar nicht zur Vorstellung bringen, daß ich selbst das Alles war. Man neigt ja wohl dazu, sich selbst zu entschuldigen; und so kann ich nicht sagen, ob in mir die Keime zu derartigem Verbrecherthum liegen. Ich meine, wenn ich offen sein soll, die unglückselige Frau hat einen hypnotischen Einfluß auf mich gehabt, der mich zu ihrem willenlosen Werkzeug gemacht hat. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich solche Dinge aus freien Stücken hätte vollbringen können.« Einer, der sterben will, sprichts.

Das Gutachten des berliner Gerichtsarztes Dr. Strauch scheint dem Schrenck-Notzings ähnlich. Psychisch, sagt er, sei Goeben durch Frau von Schoenebeck infizirt worden. »Sie verschaffte sich Eingang durch zwei Pforten: durch seine Ritterlichkeit und durch seine sexuelle Eigenart. Sie erfüllte Goeben mit Haß gegen ihren Gatten, um ihn so sicher in ihrem Bann zu haben. Und mit der feinen Witterung einer erotisch Kranken merkte sie bald, daß Goeben sexuell seltsam veranlagt war. In ihm entstand der Wunsch, die Frau zu erlösen und zu besitzen. Sie sah in ihm ihren Retter. Nach psychopathologischer Prüfung muß ich glauben, daß ihre Klagen erheuchelt waren. Die Beiden haben sich an dem Gedanken berauscht, von dem Mann loszukommen. Sie haben gewiß auch allerlei Befreiungpläne erörtert; vielleicht sogar einen Mordplan. Diese Gedanken und Pläne haben die Frau sexuell erregt. Noch heute (an einem der letzten Tage der gegen Frau von Schoenebeck geführten Hauptverhandlung) aber bin ich nicht sicher, daß sie ernstlich von ihrem Mann befreit sein wollte. Sie hat mit dem Gedanken wohl nur gespielt und getändelt.« (Schrenck-Notzing: »Wahrscheinlich hat die Frau niemals ernsthaft an die Tötung ihres Gatten gedacht. Es könnte sich entweder um ein Spiel ihrer hysterischen Einbildungskraft mit Vorstellungen des Mordens, des Schrecklichen überhaupt gehandelt haben, mit dem Zweck, ihren Geliebten zu reizen, ihn in konstante Aufregung zu versetzen, ihn eifersüchtig zu machen und ihren Wünschen gefällig zu erhalten; oder um Vorboten der nach der Verhaftung ausgebrochenen geistigen Erkrankung, um Verfolgungideen, die Goeben als solche nicht zu erkennen vermochte und, in mißverständlicher Auffassung ihres ganzen pathologischen Charakterbildes, ernst nahm.« Hier ist zu erwähnen, daß der münchener Arzt nur den Mann, der berliner nur die Frau gesehen hat.) Herr Dr. Strauch meint, der Hauptmann sei in den Tagen, die den Mordplan reifen und ausführen sahen, in einem Zustand krankhafter Geistesstörung gewesen, der seine freie Willensbestimmung ausschloß und ihn, nach dem Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches, der Strafverfolgung entzog. »Sein Wahnsinn war dadurch bewirkt, daß er mit dieser Frau zusammenkam. Sie berauschte sich an seinen Plänen und an seiner vasallischen Ergebenheit. Er nahm die Idee der Befreiung ernst und sie wurde ihm zur Fixen Idee.« Der Inhalt der beiden Gutachten und der Gefängnißbriefe klingt zu einer Symphonie zusammen, die alle anderen Auffassungen übertönt. Die Meinung einzelner Aerzte, nicht die Frau habe den Mann, sondern der Mann die Frau unterjocht, mit Geist und Sinnen in seine Willenssphäre gezwungen, muß dem Betrachter des Thatbestandes unhaltbar scheinen. Nicht ein einziger für das Urtheil wesentlicher Punkt ist gefunden worden, von dem aus zu sehen wäre, daß die Frau im Pferch dieses Manneswillens lebte. Ihr Sexualverlangen war nicht wählerisch; und er (dessen Geschlechtsempfinden, wie Rousseaus unter dem Schlag der Tante, erwacht war, als die Mutter, im Scherzspiel, den Knaben einst auf ihrem Rücken reiten ließ) reagirte nur auf eine bestimmte Reizesart. Ihr ist er ein Männchen wie andere Männchen; ihm ist sie die einzige Frau, die ihn ein der Natur nahes Sexualglück erleben ließ. Kann ein im Bezirk der Psychopathologie nicht ganz Fremder zweifeln, wer in diesem Verhältniß das Herrschaftrecht übte, wer freudig die Knechtspflicht auf sich nahm? Die suggestive Macht Hysterischer und ihrer pseudologia phantastica ist eine Thatsache, mit der die Aetiologie längst rechnen gelernt hat. Und auf wen wirkte diese hysterica? Auf welches seltsam gefärbte Wesen? Eine in Allenstein nicht gestreifte Frage taucht auf.

Was ist Hysterie? In einer kleinen Schrift hat, vor fünf Jahren, Steyerthal darauf geantwortet: »Eine selbständige, einige und untheilbare Krankheit, ›die Hysterie‹, giebt es nicht; nur hysterische Stigmata, einen hysterischen Symptomenkomplex. Diese Symptome sind Ermüdung- und Erschöpfungzeichen.« (Krampf, Lähmung, Einengung des Gesichtsfeldes.) Damit ist noch nicht viel gesagt. Ob es überhaupt »einige und untheilbare Krankheiten« giebt? Der Praktiker zweifelt; sieht bei der Diagnose in jedem Fall das Bild individuell gefärbt und muß bei der Therapie dem Grundsatz Schweningers folgen: »Des Arztes Aufgabe ist nicht, Krankheiten zu heilen, sondern, unter erkennbaren und veränderlichen Bedingungen ihres Wesens und Daseins erkrankte Menschen nach den Möglichkeiten seiner Kunst und ihres Kraftbesitzes zu behandeln.« Immerhin zeigt das klinische Bild Hysterischer bestimmte Konturen; nicht so klare wie das Tuberkulöser und Syphilitischer, doch kaum undeutlichere als jede Art der Psychose. In seinem Lehrbuch der Psychiatrie zählt Kraepelin die Hysterie zu den psychogenen Neurosen; er sagt: »Als einigermaßen kennzeichnend für alle hysterischen Erkrankungen dürfen wir vielleicht die außerordentliche Leichtigkeit und Schnelligkeit ansehen, mit welchen sich psychische Zustände in mannichfachen körperlichen Störungen wirksam zeigen. Verstand und Gedächtniß der Hysterischen pflegen keine auffallenderen Störungen darzubieten. Die Erinnerung ist bei ihnen im Allgemeinen treu, aber nicht selten ungemein einseitig. Wahrnehmung und Deutung werden nicht immer scharf auseinandergehalten. In einzelnen Fällen besteht geradezu ein Hang zu freier Ausschmückung der Vergangenheit, ja, zur Vermischung der Erinnerungen mit vollkommen erfundenen Zügen. Besonders oft begegnet uns die Erdichtung von gefährlichen Angriffen, meist mit geschlechtlicher Färbung; die Kranken bringen sich auch wohl selbst Verletzungen bei und knebeln sich, um das Abenteuer glaubhafter zu machen. Ich kannte Hysterische, die in verblüffender Weise verstanden, den Hörer ohne das geringste Besinnen mit den abenteuerlichsten Erfindungen über ihre Vergangenheit zu überschütten und jedem Einwand mit der größten Seelenruhe durch immer kühnere Ausflüchte zu begegnen. Einzelne Kranke können sich so in ihre Einbildungen hineinleben, daß sie dadurch in ihrem Denken und Handeln vollkommen beeinflußt werden, obgleich es sich nicht um eigentliche Wahnvorstellungen, sondern nur um Gedankenspielereien handelt, die mit Liebe und Leidenschaftlichkeit ausgesponnen werden. Die Kranken sind ungemein erregbar; ihnen fehlt die Dämpfung, die beim gesunden Menschen allmählich die raschen und starken Gefühlsschwankungen der Kinderjahre abschwächt. In einzelnen Fällen, aber keineswegs besonders oft, zeigt sich eine erhöhte geschlechtliche Erregbarkeit, welche die Kranken zu Ausschweifungen verführt; nicht so selten besteht geschlechtliche Kälte oder völlige Unempfindlichkeit.« (Daß die Erkrankung nicht, wie Platon annahm, von der υστερα hystera ausgeht noch als ein Sonderleiden des weiblichen Uterus zu betrachten ist, wird schon durch diese Thatsache bewiesen.) »Oft äußern sie den Wunsch, zu sterben, sich das Leben zu nehmen; auch einige einleitende Schritte werden vielleicht gethan: ein Band um den Hals geschnürt, eine Nadel verschluckt, eine verdächtige Flüssigkeit getrunken; in der Regel ist keine große Gefahr dabei, wenn nicht ein unglücklicher Zufall mitspielt. Meist ist das Bestreben erkennbar, interessant zu erscheinen, sich in ein besonderes Licht zu stellen, von sich reden zu machen. Ueberall tritt die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund. Viele Hysterische berauschen sich, mit dem stillen Anspruch auf besondere Anerkennung ihrer manchmal geradezu thörichten Aufopferung, an dem Gedanken, Alles für die Armen hinzugeben, in selbst gewählter Erniedrigung den Kranken und Elenden zu dienen. Sie möchten Großes leisten, eine Thätigkeit haben, der Menschheit nützen. Freilich bleibts in der Regel bei solchen großen Gedanken oder bei einigen unzweckmäßig einleitenden Schritten. Auf dem Gebiet des Willens ist vor Allem die erhöhte Beeinflußbarkeit zu bemerken, die mit der oft stark hervortretenden launenhaften Eigenwilligkeit nur in scheinbarem Widerspruch steht. Wenn sie unbefangen sind und sich unbeachtet glauben, zeigen die Kranken oft eine große Leistungfähigkeit, die sofort der alten, Mitleid heischenden Hinfälligkeit weicht und von ihnen vollständig verleugnet wird, sobald sie auf ihre Krankheit hingewiesen werden oder sich dem Arzt gegenüber sehen. Ohne Zweifel werden einzelne Krankheitzeichen (Geschwüre, Fieber, Blutspeien und Aehnliches) von Hysterischen willkürlich und zweckbewußt vorgetäuscht, um ihnen die Theilnahme des Arztes zu sichern und ihm eine möglichst schlimme Vorstellung von der Größe ihres Leidens beizubringen. Aus dem Nachweis einer absichtlichen Täuschung darf man aber nicht auf das Fehlen einer psychischen Erkrankung schließen. Wie schon der Name (Gebärmuttersucht) andeutet, ist die Hysterie so sehr eine Krankheit des weiblichen Geschlechtes, daß man sogar zweifelhaft war, ob man überhaupt das Recht habe, ähnliche Erkrankungen bei Männern mit der selben Bezeichnung zu belegen. Doch die männliche Hysterie ist heute, wie wir der Pariser Schule ohne Weiteres zugeben müssen, keine seltene Krankheit mehr. Unter den von mir beobachteten Hysterischen waren die Männer mit dreißig Prozent betheiligt. Schwerlich läßt sich zwischen den Neurosen der beiden Geschlechter eine scharfe Trennunglinie ziehen. Die Hysterie ist ein angeborener abnormer Seelenzustand, dessen Eigentümlichkeit ist, daß (wie Moebius es ausdrückt) krankhafte Veränderungen des Körpers ›durch Vorstellungen‹ hervorgerufen werden.«


Das hatte, lange vor Moebius, schon Charcot gesagt. Ihm war die Hysterie eine Psychose, in deren Opfern durch Vorstellungen abnorme körperliche Vorgänge bewirkt werden; war sie dem Zustand Hypnotisirter nah, die er künstlich in Hysterie Versetzte nennen mochte. Was er (und seine Schule der pariser Salpêtrière) für die Neuropathologie geleistet hat, ist auch Laien bekannt; er schuf die Grundmauer, auf der Janet (»L'état mental des hystériques«), Kraepelin und Binswanger, Moebius und Vogt, Freud und Breuer weiterbauen konnten. Mit Recht hat ihn deshalb der karlsruher Privatdozent Dr. Hellpach in seinem Buch »Grundlinien einer Psychologie der Hysterie« als den Meister gepriesen, dem die Stellung und klassische Lösung des Problems zu danken sei. Im Lauf der letzten Jahre haben die von den wiener Aerzten Freud und Breuer veröffentlichten »Studien über Hysterie« sich in den Blickpunkt gedrängt. Hier kann ich heute nur wiederholen, was Kraepelin über sie sagt: »Nach den Versicherungen der wiener Aerzte soll die Hysterie durch ganz bestimmte passive sexuelle Erlebnisse in der frühsten Kindheit erzeugt werden, die dann in der Form unbewußter Erinnerungen durch das ganze spätere Leben hindurch fortspuken und in mannichfacher Umformung zur hysterischen ›Abwehrneurose‹ führen. Man erfährt diese Dinge, indem man die Kranken in der Hypnose ausfragt. Wir dürfen nicht bezweifeln, daß man auf diesem Weg noch ganz andere Dinge herausbringen könnte. Wenn aber unsere vielgeplagte Seele durch längst vergessene unliebsame sexuelle Erfahrungen für alle Zeiten ihr Gleichgewicht verlöre, so dürften wir am Anfang vom Ende unseres Geschlechtes angekommen sein; die Natur hätte ein grausames Spiel mit uns getrieben. Freilich sollen all diese Erinnerungen unschädlich werden, wenn dem kundigen Arzt gelingt, sie mit Hilfe des ›kathartischen‹ Verfahrens, der fortgesetzten hypnotischen Beichte, ans Licht zu ziehen und zu bewußten zu machen.« Das klingt sehr skeptisch; das über die Schreckneurose, die krankhafte Uebertreibungsucht vieler nach reichlicher Unfallrente Trachtenden, die Erwartungneurose (der auch manche Fälle psychischer Impotenz zuzurechnen sind) und über den Erfolg hypnotischer Einwirkung Gesagte zeigt aber, daß Kraepelin den Wienern nicht ganz so fern ist, wie er selbst wohl geglaubt hat. Einerlei. Goebens Sexualerlebniß mußte beleuchtet werden: sonst war der Beweis nicht zu führen, daß auch er (nicht die Frau nur, die er begehrte und von der er besessen war) im Wahnland der Hysterie wohnte. In der Kindheit ein Geschlechtserlebniß, das durchs ganze Leben hin fortspukt; Ermüdungzustände und Gleichgewichtsstörungen; Lahmheit einzelner Glieder, die das Stehen auf dem rechten Fuß fast völlig hindert und an die Symptome der Astasie-Abasie erinnert; die kombinatorische Fähigkeit ungewöhnlich stark und die Gefühlsschwankung seit den Kinderjahren nicht gemindert; Vorstellungen erwirken im Körper jähe, abnorme Vorgänge; falsche (oder gefälschte) Gedächtnißbilder (Burenkriegsberichte); das prahlerische Betonen steter Opferbereitschaft und der sichtbare Drang, sich, als eine ganz besonders geprägte Persönlichkeit, den Nächsten interessant zu machen; heftige Unternehmunglust und, unter dem Zwang eines einzigen Gedankens, die beinahe läppische Verkennung des für die Sicherung der Person und ihres Planes Nothwendigen (Giftkauf in der allensteiner Apotheke; Nichtachtung des Kaliberunterschiedes, der doch beweisen mußte, daß Schoenebeck nicht von einer Kugel aus seiner eigenen Pistole gefällt worden war); Eigensinn einer fast schrankenlosen Suggestibilität gepaart; und, nach der Tragoedie, die Katharsis durch die Beichte, das Erschaudern beim Rückblick auf die unheimliche Verdoppelung der Persönlichkeit und der Entschluß zum qualvollen Opfertod, mit dem er so lange, sich selbst und Andere zu rütteln, nur spielte. Nach allen Analysen und Deutungen: ein Hysterischer.

Wie zwei Hysteriker auf einander wirken, einander beeinflussen und infiziren, hat der Laie niemals, hat kaum der Arzt je so deutlich wie auf diesem Diptychon gesehen. Das giebt, vor dem furchtlosen Auge des Seelenforschers, dem Schreckbilde den Werth. In dem Majorshaus ging Alles leidlich, so lange die Frau sich an gesunden Männern ergötzte, die dem wirr hinstürmenden Gerede schon an der Hausthür nicht mehr ernsthaft nachdachten. Zur Katastrophe kam es erst, als Antonie einen Hysteriker gesättigt und seinen Willen in den Bann ihres Wahnspieles gezwungen hatte.


Die Pflicht zum Gesellschaftschutz muß Grund und Zweck aller Strafjustiz bleiben. Als Lombroso (halb genialer Forscher, halb flüchtig pfuschender Charlatan: und deshalb zu rascher Popularisirung eines selbst ersonnenen Gedankens besonders geeignet) den Begriff des delinquente nato ans Licht brachte und mit seiner Anthropologenschule die Kriminalisten wieder daran erinnerte, daß sie Menschen, meist kranke Menschen, zu richten haben, mußten ungebundene Geister sich seines Auftretens freuen. Das alte Lehrgebäude der klassischen Strafrechtsschule war morsch und brüchig geworden. Daß Einer zu behutsamerer Individualisirung mahnte, des Handelns Bestimmbarkeit durch körperliche Zustände, Vorgänge, Retroaktion zeigte, den Abgrund, der den Richter vom Arzt trennte, mit schmalem Steg überbrückte und mit grellfarbigen Bildern die Schädlichkeit des Mühens erwies, das Wesen des Menschen, seiner Schuld, seines Verbrechens aus den Paragraphen eines gilbenden Strafgesetzbuches zu abstrahiren: das Alles konnte nur nützen. Denn es lehrte dürre Juristen erkennen, daß sie von dem ins Verbrechen langenden Menschenleid, von Perversionen und Psychosen noch nicht genug wußten, wenn sie sich stöhnend mit Prichards Lehre von der moral insanity vertraut gemacht hatten. Was dran gefährlich schien, wurde von deutschen Kriminalisten und, besonders wirksam, von Lombrosos Landsmann Enrico Ferri, dem Gründer der Dritten Schule, früh bekämpft. Ferris Kriminalsoziologie und mancher Vorschlag der Internationalen Kriminalisten-Vereinigung wies den Weg in die Klarheit. Doch die Praxis scheint diesen Wegweiser noch nicht erreicht zu haben; scheint, mit stolzem Gehumpel, jetzt erst in den Bannkreis des Lombrosismus gelangt zu sein. Wer in unsere Gerichtssäle blickt, sieht ringsum die Herrschaft der Aerzte. Die bestimmen, ob ein Angeklagter verhandlungfähig ist, während der That bewußtlos, unter dem Zwang unwiderstehlicher Gewalt, nicht im Besitz seiner Willensfreiheit war (dieser gottähnlichen, schon von Schopenhauer verspotteten Willensfreiheit, an die zwar die Wissenschaft nicht mehr glaubt, die in der Praxis aber noch heute gespenstisch fortlebt). Der Richter sinkt zum Exekutivorgan ihres Willens herab. Er muß sie fragen und ihrer Antwort seinen Spruch anpassen. Darf nicht, wie Hertz empfahl, sagen: »Zurechnungfähig nenne ich Jeden, in dessen Intellekt die Idee des Rechtes Eingang gefunden hat und zu dessen geistigen Besitzthümern die Kenntniß des rechtlich Statthaften und Verbotenen gehört.« Darf die Prüfung des Intellektstandes und des Rechtsbewußtseins nicht auf eigene Faust wagen. So will es die allen Bequemen willkommene Mode. Sie zeugt zwei Gefahren. Der Baugrund, auf dem die Strafrechtspflege ruht, wird mählich so, bis in seine tiefste Schicht, aufgeweicht, daß er ein fest gefügtes, den Gesellschaftschutz sicherndes Haus nicht mehr tragen kann. Der Halbirre, Perverse, in den Grenzbezirken der Psychose Lebende bedroht, nach kurzer Einsperrung in ein Gefängnis oder Irrenhaus (dem er, wenn sein Zustand strenge Bewachung heischt, eine allzu theure Last ist), wieder die Nächsten und Fernsten. Zweite Gefahr: Straflosigkeit wird zum Privilegium der Reichen. Die können sich Sachverständige von Rang und Namen miethen; und daß deren Gutachten, auch wenn sie den Angeklagten erst im Gerichtssaal kennen lernten, kaum jemals dem Interesse des Miethers widerspricht, ist wohl nicht mir nur oft aufgefallen. Der Arme muß sich an den zuständigen Gerichtsarzt halten, der sich selten als einen wehleidigen Helfer erweist; für den Wohlhabenden zeugt die »Autorität«. Nur ein plumper Sinn wird solche Aerzte greifbarer Bestechlichkeit zeihen. Das hohe Honorar (bis zu fünfhundert Mark für den Tag hat mans, bei fünfwöchiger Dauer der Hauptverhandlung, in Berlin schon gebracht), das sie über den Zeitverlust hinaus entschädigt, und die wirksame Reklame durch die täglichen Prozeßberichte ermöglicht ihnen und verpflichtet sie, dieser einen Aufgabe sich ganz hinzugeben. Sie sehen ein Handeln, das unbegreiflich wäre, wenn es nicht durch normwidriges Empfinden oder durch krankhafte Störungen des psychischen Gleichgewichtes erklärt werden könnte: und ihrem Scharfsinn, ihrer emsigen Spürkunst gelingt oft, solche Erklärung glaubhaft zu machen. Ein Beispiel soll andeuten, was hier gemeint ist. Eine junge Dienstmagd, die nie vermählt war, aber ein Kind hat und mit zwei kräftigen Burschen in Geschlechtsverkehr steht, erregt dadurch Aergerniß, daß sie sich vor kleinen Schulknaben auf offenem Feld schamlos entblößt und sie mit zotiger Rede zu unzüchtigem Thun auffordert. Sie wird angeklagt und, da der Gerichtsarzt keinen Geistesdefekt an ihr findet, ins Gefängniß geschickt. Trotzdem ihr Handeln, als ein nicht etwa von Geschlechtshunger bewirktes, aus gesundem Triebleben nicht zu erklären war. Eine Dame hätte, durch das Gutachten namhafter Psychiater, dem Gericht die Ueberzeugung verschafft, daß hier, bei einer so reichlich Gestillten, nur von psychogener Neurose die Rede sein könne. Und doch wären schwächliche Luxuskinder durch die schamlose Exhibition schlimmer geschädigt worden als dralle Dorfbengel, die der Magd ins Gesicht lachten. Das Gassenvorurtheil, das in dem Sachverständigen den zu jedem Dienst bereiten Retter des reichen Angeklagten sieht, wird durch die Thatsache genährt, daß man gegen den Reichen schüchterner, vorsichtiger, langsamer prozedirt als gegen den Armen und daß schon die Dauer und Art solcher Verhandlung dem beobachtenden Arzt viel weiter reichende Erkenntnißmöglichkeiten giebt als der kurze, schroff geführte Alltagsprozeß. Herrschaft des Arztes, den nur der Reiche bezahlen kann: dabei zerbröckelt die Grundmauer der Kriminalsoziologie und die Strafjustiz geräth vor dem Massenohr in Verruf.

Auch in Allenstein haben die Aerzte souverain geherrscht. Ueber Lebende und Tote. Festgestellt, ob und wann Goeben geistig krank und unzurechnungfähig war und wann die Hysterie (oder Hysteroepilepsie) der Angeklagten sich in eine die freie Willensbestimmung ausschließende Psychose gewandelt hat, »Festgestellt«: obwohl gerade dieser Prozeß lehren mußte, wie oft auch ein gläubig bestauntes Sachverständniß auf schwanken Moorgrund baut. Ist Hysterie die Folge eines angeborenen und unveränderlichen Seelenzustandes, dann befreit sie nicht von der Strafe; ist sie, in einer der Epilepsie ähnlichen Form, durch eine schnell oder langsam vorschreitende Erkrankung der Hirnrinde bewirkt, dann sichert sie Straflosigkeit. Wer löst den Zweifel mit unfehlbarem Spruch? Frau von Schoenebeck ist, von einzelnen Aerzten und von Kollegien, für irr erklärt, in den Bereich absoluter Willensfreiheit zurückgerufen und wieder zu den geistig Kranken gewiesen worden. Wer schafft uns die Gewißheit, daß die Leiden, von denen sie während der Hauptverhandlung gepeinigt schien (Dutzende von Ohnmachten, Schreikrämpfe, Fieberpuls, Anaesthesie), nicht von dem zähen Willen der hysterica, durch die Kraft ihrer Vorstellungen, erwirkt waren? Was Charcot, über den »großen Anfall«, Janet und Moebius über die Unempfindlichkeit der Hysterischen gesagt haben, schien völlig vergessen; nur die Frage nach der Möglichkeit einer Simulation wurde von unermüdlichem Eifer gestellt und, von neidenswerthem Selbstvertrauen, immer wieder verneint. Schrenck-Notzing sagt: »Die Hysterische beherrscht das Repertoire der willkürlich hervorgerufenen Anfälle und Ohnmächten vollkommen.»Kraepelin erzählt von Hysterischen, die Chylurie und Abszesse vortäuschten, sich heimlich verwundeten und die Wunden, so lange es ihnen nöthig schien, durch die Einführung von Draht- und Streichholzstückchen offen hielten. Delbrück berichtet über einen noch lehrreicheren Fall. Eine Frau wird, nach achtjähriger Verbrecherlaufbahn, die nie auch nur den Gedanken an eine Geisteskrankheit aufkommen ließ, von sämmtlichen berliner Gerichtsärzten, Psychiatern, Charitéärzten, auch von den Aerzten in Dalldorf, Moabit, Hildesheim für gemeingefährlich geisteskrank erklärt und ins Irrenhaus gesperrt. Fünf Jahre lang gilt sie Allen als unzurechnungfähig. Da lehnt der zuständige Amtsrichter den Antrag ab, der die Entmündigung fordert, und die Staatsanwaltschaft erhebt die Anklage wegen widerrechtlicher Freiheitberaubung. Nun wird die Frau in Hamburg, Göttingen, Berlin für zurechnungfähig erklärt und dem Strafrichter zugeführt. Später wird sie, in der Charité, noch einmal beobachtet; das Urtheil lautet: Unheilbare Psychose. Die Gerichtsärzte widersprechen; und die Frau wird wieder ins Untersuchungsgefängnis geholt. Hatte sie Krämpfe, Delirien, Gedächtnißschwäche etwa simulirt? Daß Hysterische solche Erscheinungen, auch Neuralgien, Blutungen, Geschwüre, Fiebertemperatur, nach Willkür erwirken können, ist seit den Dienstagsdemonstrationen der Salpêtrière unbestreitbare Gewißheit. Vor den allensteiner Geschworenen stand eine Hysterische, deren erste Triebhandlung nach Goebens That war, den Glauben an ihre »Verrücktheit« überall zu verbreiten; die dann, ehe die Leiber der beiden durch ihre Schuld getöteten Männer noch völlig entfleischt waren, sich einem zweiten Gatten vermählte und in den Tagen unangefochtener Freiheit recht lustig lebte; die, als ihre Hoffnung auf einen Freispruch sank, von Tag zu Tag kränker wurde; vor keiner Gefahr so angstvoll zu beben schien wie vor der einer Irrseinserklärung und alle ihr Nahen beschwor, sie nur nicht in die Provinzialirrenanstalt Kortau zu bringen, die sie an den hellen Zwischentagen doch freiwillig aufgesucht hatte, also nicht wie die Hölle mied; die endlich, vor dem Schlußvortrag des Anklägers, mit einem Messerchen an ihrer Pulsader herumkratzte und dann einen ihr befreundeten Herrn herbeirief, um sich die für den Selbstmord geeignete Stelle zeigen zu lassen; in einem Hotelzimmer, wo sie sich henken, aus dem Fenster stürzen, aus einer mit dem Federmesser, der Hutnadel, der Nagelscheere geöffneten Ader verbluten konnte. Das Unisono der Sachverständigen mußte den Laien verblüffen. »Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut, vertrauen Euch die anderen Seelen.« Des Geist der Medizin ist auch heute noch leicht zu fassen.

Die Liste der in diesem Prozeß gemachten Fehler würde Bände füllen. Daß er geführt wurde, war der erste; der schlimmste. Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren gegen Frau von Schoenebeck, auch als das Kollegialgutachten der Angeschuldigten die Willensfreiheit zugesprochen hatte, zum zweiten Mal einstellen: weil es ihr rechtlich unhaltbar schien. Anstiftung zum Mord? Daß Goeben gemordet, die vorbedachte That wirklich gethan, nicht auf den Plan des zeugenlosen Duells zurückgegriffen, nicht, im Affekt, ganz anders, als er wollte, gehandelt hatte, war nicht erwiesen; war, nach dem Tode der beiden einzigen Thatzeugen, niemals bündig zu erweisen. (Goeben hat sich zur Tötung bekannt, den Mord aber hitzig geleugnet.) Anstiftung zum Totschlag? Das Delikt des Totschlages schließt die Ueberlegung aus; das der Anstiftung bedingt die Absicht auf eine deutlich bestimmte strafbare Handlung. Wer kann heute beweisen, daß Goeben gerade die konkrete That gethan hat, zu der ihn die Frau angestiftet hatte? Ist eine Anstiftung ohne Ueberlegung denkbar? Anstiftung mit unbestimmtem Dolus? Darf man einen Fall konstruiren, in dem der Anstifter mit Ueberlegung, der Thäter ohne Ueberlegung gehandelt hätte? Auch die Beihilfe zum Totschlag ist, dreißig Monate nach der That, ohne Zeugen schwer zu erweisen.

Bleibt Paragraph 139: Wer seine glaubhafte Kenntniß von dem Vorhaben eines gemeingefährlichen Verbrechens nicht zur rechten Zeit der Behörde oder der bedrohten Person mittheilt, wird, wenn das Verbrechen oder ein strafbarer Versuch dazu ausgeführt worden ist, mit Gefängnis bestraft. Glaubhafte Kenntniß? Die Angeklagte würde betheuern, sie sei überzeugt gewesen, daß ihr Liebster mit Mordgedanken und Totschlagsplan nur spiele. Und immer nur der tote Hauptmann als Zeuge. Darum den eklen Skandal herauf beschwören? Jede kriminalpolitische Erwägung verbot den Prozeß. Doch im Landtag und in der Presse entstand ein Stürmchen. Und flink mußte nun das Schwert der Themis wieder aus der Scheide. Der Justizminister nahm die Gefahr auf seine Kappe. Der Staatsanwalt mußte dem Befehl gehorchen; blieb aber, weil er die Anklagebegründung selbst zu dünn fand, in der Hauptverhandlung fast völlig passiv. In diesem ganzen Handel erscheint dieser Erste Staatsanwalt Schweitzer als der Klügste; als der Einzige, der nie um nüchterne Ruhe und richtiges Augenmaß kam. Er hatte die Weisung, die Wiedereröffnung des Verfahrens zu beantragen, aber für die Wahrung der heiligsten Güter zu sorgen. »Verhandeln; doch nichts politisch Aergerliches durchsickern lassen.« Zweiter Fehler; ein unverzeihlicher. Zum ersten Mal blieb eine der Anschuldigung zum Mord Angeklagte, also mit Todesstrafe Bedrohte, auf freiem Fuß; wurde, trotz einem Vorleben, dessen Anblick (nach der Darstellung der Ankläger) die Weiber der Justinian und Klaudius, die Steinheil und die Tarnawskaja in die Glorie keuscher Heiligen erhöht, mit galantester Schonung behandelt. Damit sie hübsch artig bleibe. Der Volksaberglaube, der wähnt, in Allenstein sei Fürchterliches »vertuscht« worden, ist thöricht; entstammt aber dem unausrodbaren Gefühl, daß an der Alle in aller Stille paktirt worden war. »Wir wollen keine Namen nennen!« »Hat der Herr Vertheidiger vergessen, daß alle Prozeßbetheiligten übereingekommen waren, dieses zeugenlose Duell Goebens als nicht geschehen zu betrachten?« »Wir wollen doch nicht noch mehr Existenzen vernichten!« Das geht nicht. Jeder Deutsche, der weiß, welche Summe von Tüchtigkeit, Intelligenz und Ehrenpflichtbewußtsein im Heer seines Vaterlandes vereint ist, will dieses Heer vor Schimpf und Makel bewahrt sehen. Jeder hätte die Offiziere, die durch die Entschleierung ihres Geschlechtsverkehrs mit der Majorsfrau zum Abschied von der Armee gezwungen worden wären, aufrichtig bedauert. Jeder freut sich, daß ihnen, die schließlich nur ein bequem erreichbares Buhlglück nicht verschmäht haben, dieses Schicksal erspart worden ist. Aber Strafprozesse darf man so nicht führen. In Strafprozessen darf man die Hoffnung nicht an die Diskretion der Angeklagten klammern. Muß jedes Mittel angewandt werden, das den Weg ins Herz der Wahrheit zu weisen verheißt; auch wenn es »Existenzen« bedroht. Die Taktik der Vertheidiger konnte in Allenstein nur danach trachten, die Glaubwürdigkeit Goebens, des einzigen gefährlichen Belastungzeugen, zu erschüttern, bis ins Fundament zu zerstören. Diesen Versuch mußten die Ankläger mit wuchtigem Stoß abwehren. Wenn sie erwiesen, daß Frau von Schoenebeck auch anderen Bettgenossen von ihrer Ehequal vorgejammert, ihren Gustav als ein rohes Scheusal geschildert, die Ueberzeugung vorgetäuscht hatte, daß ihr nur die Wahl zwischen gewaltsamer Sprengung der Ehefessel und Selbstmord bleibe, dann war Goebens Glaubwürdigkeit im Hauptpunkt unantastbar. Fünf Dutzend Zeugen waren zu haben; sechs vielleicht. Nicht einer wurde geladen. »Wir wollen doch nicht noch mehr Existenzen vernichten!« Und wenn die Geschworenen nach dem Vertheidigeransturm noch den Artilleristen für glaubwürdig hielten und, in dem bestimmten Gefühl, daß die Frau an der That des Hauptmannes mitschuldig sei, auch ohne zwingenden Beweis auf die erste Schuldfrage eine Antwort gaben, der ein Todesurtheil folgen mußte? Nein: so darf man Strafprozesse nicht führen. Diesen Prozeß verbot juristische und kriminalpolitische Erwägung. Wurde er dennoch geführt, dann durfte ihn nur das Streben leiten, muthig die Wahrheit zu finden.

Im Urtheil über den Vorsitzenden, der die Beweisaufnahme Tage lang ins Unerweisbare verschleppte, sich in Kriegserinnerungen sonnte und vor seinem »hohen Vorgesetzten« (Richtern von Unabhängigkeitbewußtsein drehte sich der Magen um) die Objektivität seiner Prozeßordnung pries, stimmen alle Sachverständigen überein. Von der Mitschuld an dem angerichteten Schaden kommt dieser Geheime Justizrath, bei all seinem redlichen Eifer, nicht los. Sein Name sei vergessen ... Aber ist ein »großer« Prozeß denn in Preußen überhaupt nicht mehr möglich? Unsummen werden (Eulenburg, Werftprozeß, Allenstein) nutzlos verthan; täglich auch, durch kurzsichtige Terminsansetzung, an unnöthige Zeugengebühren vergeudet. Und an den Tagen der Hauptaktionen siehts aus, als werde nur noch für die Oeffentliche Meinung judizirt. Die muß »aufgeklärt« und vor »Mißverständnissen« behütet werden. Mit dem geräuschvollsten Eifer da, wo ihr Instinkt verstanden hat, daß ihr jede Möglichkeit des Verständnisses gesperrt werden soll.

Vor den ostpreußischen Geschworenen stand eine der Anstiftung zum Mord Beschuldigte, Paragraph 48 des Reichsstrafgesetzbuches sagt: »Als Anstifter wird bestraft, wer einen Anderen zu der von Diesem begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Drohung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeiführung oder Beförderung eines Irrthums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt hat. Die Strafe des Anstifters ist nach demjenigen Gesetz festzusetzen, welches auf die Handlung, zu welcher er wissentlich angestiftet hat, Anwendung hat.« Frau von Schoenebeck mußte also zum Tod verurtheilt werden, wenn ihr die Anstiftung zum Mord nachgewiesen ward. Konnte sie ihr aber nachgewiesen werden? Ist solcher Nachweis, so bündig und lückenlos, wie strenger Rechtssinn ihn fordert, je denkbar, so lange der Anstifter dem Theilnehmer gleichgestellt, sein Thun nicht als selbständige Willenshandlung gewogen wird? Goeben hat die Ueberlegung geleugnet; sich nur der Tötung schuldig bekannt. Die Ueberlegung, sagt Karl Binding, der feinste und tapferste Kopf im Reich deutscher Strafrechtslehre, »bezieht sich nicht wesentlich auf die Mittel zur Tötung (die berechnet auch der Totschläger oft mit großer Genauigkeit), sondern auf das Gewicht der Abhaltungsgründe. Sie werden erkannt, gewogen und zu leicht befunden. Dies setzt die Fähigkeit ungetrübter Verstandesfunktionen voraus, deshalb die Abwesenheit (zwar nicht jeder Gemüthsbewegung, aber) jeder Erregung, deren Heftigkeit die Fähigkeit und Abwägung beeinträchtigt.« Im Zustand solcher geistigen Beschaffenheit war Hugo von Goeben gewiß nicht, als er in das Haus des Majors schlich; selbst wenn er, nach der Annahme des einzigen namhaften Psychiaters, der ihn untersucht hat, nicht durch Geisteszerrüttung des freien Willens beraubt war. In einer Hauptverhandlung konnte er betonen, daß Wesentliches anders gewesen war, als ers erwartet hatte. Die Fenster, die er offen glaubte, waren geschlossen und der Major trat ihm wach und bewaffnet entgegen. Da war der Nachweis der Ueberlegung kaum denkbar. Ob er auch den Willen zum Mord in sein Bewußtsein aufgenommen hatte? Manche Jury hätte es dem Mann zugetraut, der seinem Liebchen für das Mahl des Majors Gift verschafft hatte und nachts, nach viermaliger Umkehr, im Bürgerrock und mit einer Mensurpistole ins Schlafzimmer Schoenebecks geklettert war, dem er die Ehefrau, die Mutter zweier diesem Gustav geborenen Kinder, abtrotzen wollte. Immerhin blieben Zweifel möglich. Und der Versuch, jetzt noch, sechsundzwanzig Monate nach Goebens Tod, zu erweisen, daß er mit Ueberlegung gehandelt habe, zeugt von betrübender Thorheit. Die hätte sich nicht ins Unerweisbare vorgewagt, wenn Theorie und Praxis die Anstiftung als selbständiges Delikt (das des intellektuellen Thatbewirkers) gelten ließen. Dann hätte der Richter nur das Thun der Angeklagten zu prüfen gehabt, nicht das Eines, der irdischer Gerichtsbarkeit längst entzogen und von dessen Schuldumfang das Schicksal der überlebenden Frau doch abhängig war; dann konnte man einen Fall konstruiren, in dem der Anstifter mit Ueberlegung, der Thäter, im Drang überraschender Umstände, ohne Ueberlegung gehandelt hatte. Jetzt? Die conviction intime der Geschworenen ist an keine Paragraphenvorschrift geknotet; ihr Spruch ist, nach der evangelischen Lehre, Ja oder Nein und braucht nicht begründet zu werden. Ein nur auf das Sentiment gestütztes Urtheil hätte aber nicht viele Ernste befriedigt. Ein Freispruch gar das hitzige Volksempfinden in Empörung getrieben. Weil die im höchsten Grad wahrscheinliche Schuld nicht haarscharf nachzuweisen war, sollte die Frau straflos bleiben, ohne deren Mitwissen, Mitschuld Goebens That undenkbar blieb und die der Beschuldigte nach der ersten Vernehmung sofort von Umfang und Einzelheiten seiner Aussage unterrichtet hatte? In jedem wegen des Deliktes der Anstiftung eröffneten Verfahren kann der allensteiner Fall sich wiederholen; auch da, wo neben dem Anstifter der Thäter auf der Sünderbank sitzt. Intellektualurheberschaft ist nicht mehr so selten wie in der Zeit derberen Fühlens; Mancher, der selbst die Hemmung nicht zu überwinden vermag, sucht und findet ein zur That taugliches Werkzeug. Justizbehörden und Reichstag dürfen sich an dem achtundvierzigsten Paragraphen nicht scheu vorüberdrücken, wenn sie ein neues Strafgesetzbuch vorbereiten.

Ihre beste Leistung wäre die Erlösung von dem Aktenalben, der unserem Gerichtswesen Luft und Athem raubt. Mündliches Verfahren: heißt die Losung; doch dem mündlichen geht das schriftliche, dem öffentlichen das geheime Verfahren voran. Und ehe der Richter zur ersten Frage den Mund aufthut, hat er einen Aktenberg erklettert, Protokole und Schriftsätze verschluckt und »sich eine Meinung über die Sache gebildet«. Wer je genöthigt war, seinen Namen unter ein Gerichtsprotokol zu setzen, vergißts nicht so bald. Seine Aussage mag noch so einfach, mag völlig negativ sein: auf eine beträchtliche Zeitspanne muß er sich gefaßt machen. Was er in lebendiger Rede rasch vorbringt, wird in den altfränkischen Pomp der Gerichtssprache gekleidet. »Derselbe«; »Letzterer«; »einerseits«, »andererseits«: ohne solche abgegriffene Spielmarken gehts selten; auch darf die Inversion nach »und« ja nicht fehlen. »Beklagter erklärte sich bereit, dem Kläger den Betrag zu zahlen, und schien Letzterer nicht die Absicht zu haben, denselben zu übervortheilen.« Das Protokol muß alles Erdenkliche »berücksichtigen«; sonst wird es dem Amtsrichter oder Assessor zur Ergänzung zurückgegeben und die Schererei hat kein Ende. Ausnahmen kommen vor (das junge Richtergeschlecht sucht sich aus dem Wust zu heben); meist aber kostet das Mühen, die wohlüberlegte Nuance der Aussage aufs gelbe Aktenpapier zu bringen, einen harten Kampf. Und in neun von zehn Fällen bleibt der Vernehmende Sieger. Er meints so gut, quält sich so redlich, die Laienrede in sein geliebtes Juristendeutsch zu übertragen, und kennt schließlich den Zweck der Untersuchung am Besten. Soll man dem Geplagten, vor dessen Thür ein Bäckerdutzend Beschuldigter oder Zeugnißpflichtiger wartet, das Amtsleben noch mehr bittern? Man läßts laufen, unterschreibt: und ist für Zeit und Ewigkeit festgelegt. Weh Jedem, der in der Hauptverhandlung um eines Haares Breite von der protokolirten Aussage abweicht! Der Präsident hat die Akten vorm Auge, vergleicht und findet in der winzigsten Abbiegung Grund zu ernstem Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Zeugen. Der ist von dem Bewußtsein, »mit dem Gericht zu thun zu haben«, arg eingeschüchtert; wagt vielleicht in Demuth aber die Antwort, seit den Tagen der Voruntersuchung habe er Allerlei erfahren, das ihm die Dinge, die Menschen in etwas anderem Licht zeigen mußte. »Ja, wenn Sie so wetterwendig sind! Dann können Sie übermorgen ja wieder eine andere Meinung haben! Hier haben Sie über Thatsachen auszusagen; welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, werden wir schon allein wissen. Unbestimmte Aussagen sind nicht zu brauchen. Ich muß Sie dringend ermahnen, unter Ihrem Eid hier bei der Wahrheit zu bleiben.«

Manchem ist aufgefallen, daß in Allenstein die Aussage einzelner Offiziere wie eine Verherrlichung Goebens klang. Sind wir in unserem Heer so weit, daß ein Mann, der mit der Frau eines Kameraden und Gastfreundes in Geschlechtsverkehr stand, diesen Kameraden ein Jahr lang schmählich betrogen und dann tückisch, nach einem Einbruch ins verschlossene Haus, getötet hat, von preußischen Offizieren wie das Ideal eines Mannes gepriesen werden kann? So wurde gefragt; und vergessen, daß diese Offiziere schon im ersten Quartal des Jahres 1908 vernommen worden waren. Damals wußten sie nur, daß ein stiller, tüchtiger, beliebter Kamerad durch ein schlimmes Weib um Ehre und Leben gekommen war; sie glaubten, daß ihn nicht Mordabsicht, sondern der tolle Drang nach einem ungestörten und zeugenlosen Duell ins Majorshaus getrieben habe; und das Mitleid mit dem Unglücklichen mußte ihr Urtheil über Goebens Charakter färben. An diese Aussage waren sie fortan gekettet; wenn der bürgerliche Richter ihnen »Widersprüche« vorhielt, hatten sie morgen einen Fettfleck in der Conduite. Vielleicht hatten sie auf eine dienstliche Frage auch einmal geantwortet, ihnen sei von unziemlichem Verkehr Goebens mit Frau von Schoenebeck nichts bekannt (haltbare Beweise sind in solchem Fall nicht leicht zu erlangen und zwei Duellen setzt der Tapferste sich nur aus, wenns nicht anders geht): dann waren sie zwiefach gebunden. Nur solche Umstände könnten erklären, daß fast alle Zeugen behaupteten, von dem Treiben der Majorsfrau nichts gewußt zu haben. In einem Grenznest, wo die Garnison ein ummauertes Städtchen bildet, hat Keiner gemerkt, daß die Frau des Majors vom Stabe mit dem Taschentuch ihren Buhlen Fensterflaggensignale gab, im Schlafzimmer ihnen Mahlzeiten servirte, mit ihnen in Königsberg und in Haffbädern zusammenwohnte, an der Alle in Kattunkleid und Kopftuch schwüle Abenteuer suchte. In Berlin hatte die Christgeschenkeinkäuferin vor einzelnen Zufallsgefährten sogar die Namensmaske gelüftet. In Allenstein: keine Ahnung. Das sind unvermeidliche Folgen des Voruntersuchungsystems. Muß es so bleiben? Müssen unsere Richter unter der Schreiblast, der Lesepflicht erlahmen, die Zeugen an den Rahmen des Gedächtnißbildes genagelt werden, das freilich frisch ist, oft aber nur die Mängel des allzu flüchtig hinwischenden Impressionismus erkennen läßt? Warum bleibt der Papierstoß, der um kein entbehrliches Wörtchen und Blättchen zu mehren, in den nur der knappste Verhörseindruck des Untersuchungrichters aufzunehmen wäre, nicht im Bereich der Staatsanwaltschaft und wird von ihr nur der Kammer vorgelegt, die das Hauptverfahren zu eröffnen hat? Dann wäre der Vorsitzende und der Referent in der Hauptverhandlung unbefangen; könnte jeder Zeuge frei von der Leber reden; stünde die Rechtsgarantie des mündlichen Verfahrens nicht nur im Buch der Gerichtsordnung; hätten wir kürzere Prozesse und Richter, die nicht unter der Schreibfron welk, unter dem steten Gewirbel grauen Aktenstaubes mürrisch geworden sind. Heute? »Das ist ja ganz neu!« Wie zorniges Staunen kams von der Lippe des allensteiner Schwurgerichtspräsidenten, wenn etwas noch nicht »Aktenkundiges« vorgebracht wurde. Ganz Neues in die Hauptverhandlung tragen: unerhört. Da droht dem mühsam gebildeten Vorurtheil ja Gefahr. Daß er versuchen müsse, just er, an jedem Gerichtstag Alles wie ein ganz Neues zu sehen, hatte der biedere Geheimrath nicht begriffen.

Dieser Vorsitzende ähnelte nicht dem ersten Kaiser Ferdidinand, von dem Julius Wilhelm Zincgref in seinen »Apophthegmata« erzählt hat: »Es wäre jhm diese Red sehr gemein: Dz Recht muß sein gang haben, und solt die Welt drüber zu grund gehen!« Der allensteiner Allmächtige wollte, in löblicher Menschenliebe, »nicht noch mehr Existenzen vernichten«; wollte, als guter Bürger, »die Oeffentlichkeit aufklären und vor Mißverständniß bewahren«. Er verlas und erörterte Schmähbriefe, die er empfangen hatte. Ließ sich täglich langwierige Vorträge über den Gesundheitzustand und die Nachterlebnisse der Angeklagten (deren Hotelzimmer er auch selbst für unzulänglich erklärte) halten, statt solche Expektorationen mit der Frage abzuschneiden, ob die Frau verhandlungfähig sei oder nicht. Erlaubte Stabsoffizieren Vorträge und Glaubensbekenntnisse, die mit dem Prozeßstoff zwar nichts zu thun hatten, nach seiner Meinung aber »aus warmem Herzen kamen«. Gewährte, trotz dem Ausschluß der Oeffentlichkeit, einem Petenten Einlaß, weil ihm »der Wunsch, so berühmte Vertheidiger zu hören, begreiflich« sei. Verschwieg nicht geizend, was er im Franzosenkrieg erlebt und an Kopfschußwunden beobachtet habe. Heischte mit Wort und Wink Anerkennung seiner Objektivität (die sich, wie alles Moralische, von selbst verstehen müßte). Und schien keine höhere Pflicht zu kennen als die, der Nation und allem auf der Erdfeste Kribbelnden zu künden, warum er Dies thue und Das unterlasse. Unser Gerichtssystem bürdet dem Vorsitzenden eine Last auf, die der stärkste Mann nicht lange zu tragen vermag. Völliger Zusammenbruch könnte immerhin aber vermieden werden. Daß ein Richter von dem Mann, dessen Mordplan die Voraussetzung der Anklage und des Hauptverfahrens war, der den Kameraden und Vorgesetzten heuchelnd betrogen und von der erstrebten Ehe offenbar auch Vermögenszuwachs gehofft hatte, Tage lang wie von dem hehrsten der Artushelden sprach, war am Ende nicht nöthig. (Tage lang; allmählich verdüsterte sich auf dem Goebenbildniß der Grundton so, daß selbst des Schwärmers frommer Glaube von Skepsis angenagt ward. Glauben und Taktik haben in diesem Prozeß ja auch die Vertheidiger gewechselt: ihre Mandantin, deren Wahrhaftigkeit in den ersten Wochen das Nothlügengespinnst des Hauptmannes zerfetzen sollte, als eine seit Jahren geistig Schwerkranke zärtlich ins Irrenasyl befördert. Nur der Ankläger hat in allen Phasen die nüchterne Ruhe und das richtige Augenmaß bewahrt.) Um die Oeffentlichkeit, der, mit seiner Zustimmung, der Saal gesperrt, deren pünktliche Belehrung durch Reporterkunst aber gesichert war, hatte der Präsident sich nicht eine Minute lang zu kümmern; und die Bekämpfung des Mißverstandes anderen Instanzen zu überlassen. Seine Pflicht war nur, die Wahrheit zu suchen.

Die konnte nicht durch den Nachweis gefunden werden, daß Goeben in den Erzählungen aus seiner Kriegszeit ein Bischen geflunkert habe (Das thut mancher Soldat, der im Wesentlichen dennoch wahrhaftig ist); noch gar durch die Weisung, im Juni 1910 Kleider und Strümpfe zu untersuchen, die der Hauptmann im Dezember 1907 getragen hat. An Theatereindrücke wird der Betrachter in jedem Schwurgerichtssaal erinnert. Alle an dem Prozeß Mitwirkenden spielen ein Stück, das der Präsident für den Tag der Aufführung (Hauptverhandlung) mit ungeschmälertem Regierecht vorbereitet hat; und mühen sich, es so zu spielen, die Effekte so anzubringen, daß ihr zwölfköpfiges Publikum zufrieden ist. Das nur hat ja zu entscheiden; ohne Begründung: wie vor dem Schaugerüst die größere Schaar. »Wir sind hier nicht im Theater!« So ruft, rief oft schon ein wüthender Schwurgerichtspräsident; und verbietet streng die Verwendung von Operngläsern. Warum? Aus solchen Gläsern, deren Zufallsname längst nicht mehr den Gebrauchszweck begrenzt, blickt man auf einziehende Fürsten, Thronredner, manöverirende Truppen und Schiffe, Priester und Flieger, Minister und Generale, Rennpferde und Schwätzer. Und gerade dem ernsten Psychologen ists wichtig, die Affektspiegelung auf der Antlitzfläche des Beschuldigten zu sehen. Wir sind im Theater; das ja nicht immer unernste Aufgaben zu bewältigen hat. Möchten gerade hier aber nicht merken, daß der Regisseur eitel nach Beifall lechzt und sich in seinem Wahn für den Nabel des Weltalls hält.

Kein König ist, kein Kaiser noch in Europa heute so mächtig wie der Richter in seinem Bereich. (Auch im Schwurgerichtssaal. Wer weiß denn, ob die zwölf Ostpreußen an Psychose und Selbstmordabsicht glaubten oder entschlossen waren, die Schuldfrage zu bejahen? Ehe ihr Stichwort fiel, war ihrer Willenssphäre die Angeklagte entrückt; und sie durften die Ueberzeugung, daß diese Frau, mit und ohne Gutachterschein, gemeingefährlich sei, nicht zu lautem Ausdruck bringen.) Da Ihr den Richter gottähnlich wollt, als souverainen Herrn über Ehre, Freiheit, Leben seiner Mitbürger: beugt ihn niemals unter die Tyrannis der von Wohlhabenden gemietheten Aerzte; und gewährt ihm den Rang und den Sold, der an solche Amtshöhe heranreicht. Das muß auch in armen Staaten möglich sein. Wenn der preußische Finanzminister den Haushaltsetat seines Justizkollegen sorgsam prüfte und die Anwaltkammer um ein ehrliches Gutachten bäte, würde er schnell erkennen, wie viel da zu sparen ist. An Schreiberlohn und durch kurzsichtige Terminsansetzung gehäufter Zeugengebühr. Laßt einmal nachrechnen, welche Versäumnißgelder während eines Jahres in Preußen an nicht vernommene Zeugen gezahlt werden. Hört! Vor einem detachirten Amtsgericht soll in einer Strafsache verhandelt werden. Dreißig Zeugen; zwanzig aus Berlin. Der Angeklagte lehnt den Amtsrichter »wegen Besorgniß der Befangenheit« ab. Ueber das Ablehnungsgesuch hat (§ 27 2 StPO) das Landgericht zu entscheiden. Dessen Sitz ist von dem Amtsgerichtsort durch eine halbe Eisenbahnstunde getrennt; doch der nächste Zug geht erst mittags. Das würde zu spät. Telephonische Erledigung (das thöricht begründete Gesuch würde sicher rasch abgewiesen) ist nicht gestattet. Ein Automobil kommen und die Zeugen zwei Stunden warten lassen? Wer bürgt für die Erstattung der wider alle Norm hohen Fahrtkosten? Lieber zahlt man den Zeugen die Gebühr, schickt sie nach Haus und ruft sie in der nächsten Woche wieder ins Städtchen. Mindestens fünfhundert Mark sind verthan. Und solcher Fall ist nicht etwa selten. Fragt in Alt-Moabit die Gerichtsdiener, wie viele Zeugen täglich pro nihilo bestellt werden und Stunden lang dünstend die Korridorbänke drücken. Ein starker Finanzminister würde Richter und Staatsanwälte besser bezahlen und dennoch mit geringerem Aufwand auskommen.

Sparsucht und kriminalpolitische Klugheit müßten oft in den selben Willensstrom münden. Fast alle Skandalprozesse der letzten Jahrzehnte waren unnöthig; gerade die dem Reichsansehen und der Reichskasse schädlichsten. Leckert-Lützow, Tausch, Forbach, Kwilecka, Hohenau, Eulenburg, Hammann, Kiel, Schoenebeck: Alles theuer und nutzlos; fünfmal Freisprechung; zweimal Einstellung, zweimal gelinde Strafen. Und darum Diplomatie, Offiziercorps, Hofgesellschaft, Reichswerftleiter, Polizei, Adel durch die Spießruthengasse gejagt! So unklug ist die Nachbarschaft nicht. Die Wiener sind mit ihrem Hofrichter im Stillen fertig geworden; auf die Armee ist kein Makel gefallen, die Gerechtigkeit des Schuldspruches wird nirgends bezweifelt und die Thatsache, daß Oberlieutenants und junge Hauptleute gierig nach einem Aphrodisiakum griffen, hat kaum hörbare Heiterkeit erwirkt. Wir nur entgürten auf offenem Markte die Scham und zeigen die Flecke am Reichskörper, daß der Neid sich dran freue. Wars nöthig, dem Feind zu erzählen, daß unser Großer Generalstab Kriegsgeschichten herausgiebt, deren Darstellung sich auf unbeglaubigte Zeugnisse stützt? Daß er Zeugen traut, die, wie er leicht feststellen könnte, am Tag der Burenschlacht, über die sie aussagen, noch in Europa waren? Nöthig, die Gewißheit zu schaffen, daß auch im deutschen Heer unter Tausenden hier und da ein Offizier ist, der, weil er, mit leerem Beutel, feine Fleischwaare nicht kaufen kann, im Ehebruch sein Nothrecht sieht, sich vom Mann der brünstigen Liebsten abfüttern läßt und vor dem in seiner Geschlechtsehre gekränkten Kameraden Honneur macht? Unnöthig; und schädlich: wie dieser ganze Prozeß.


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