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Hau.

Die Aesthetik des Gerichtssaales. Schwurgerichtssaal in der Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe. Im Mittelpunkt des Bildes die drei Richter. Rechts der Staatsanwalt. Links der Gerichtsschreiber. Vor ihm die zwölf Geschworenen. Gegenüber, hinter dem Vertheidiger, der Angeklagte im offenen Käfig. Zwischen den Bänken der Jury und der Vertheidigung der Raum für die Zeugen. Elegante Damen, Offiziere, Postbeamte, Kutscher, Diener; Menschheit aller Sorten und Lebensalter. Psychiater, die den Angeklagten beobachtet haben und sachverständig nun beurtheilen sollen, ob er, »zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.« Jedes Zuschauerplätzchen ist besetzt: die beste Gesellschaft der Fächerstraßenstadt langt nach dem Spektakel. In den Gängen, vor dem Justizgebäude drängt sich, wie in Hungersnoth um Brot an Bäckerthüren, seit frühem Morgen schon die Menge. »Dies Wunder wirkt auf so verschiedne Leute der Dichter nur«, spricht Goethes Schauspieldirektor. Wirkt öfter noch die Hoffnung, ein Drama zu sehen, dessen Spieler nicht, wenn der Vorhang zum letzten Mal gefallen ist, die Schminke mit Kakaobutter aus dem Gesicht reiben, nicht das geborgte Kleid, des Königs oder Bettlers, der Buhlerin oder keuschen Braut, ablegen und hastig ins Alltagsgewand schlüpfen. Ein Drama, in dem nicht zum Spaß nur verwundet, getötet wird. Das ist der Hardtwaldstadt beschert. Mit ihr genießen es zwei Welten, denen alles in foro Geschehende ausführlich geschildert wird. Doch der Bericht wirkt nicht wie Erlebniß. Was Protagonisten und Nebenspieler sprechen, ist mit leidlicher Zuverlässigkeit wiederzugeben; nicht ihr Ton, der Gestus, der die Rede begleitet, noch der Wesensrhythmus der zur Aussage, zu Frage und Antwort Berufenen. Das gedruckte Wort giebt von der Persönlichkeit nicht einmal, lange nicht so viel wie das Grammophon; und wer ein Drama durch Platte und Schalltrichter kennen lernte, hats nicht erlebt. Nur ein Sinneswerkzeug arbeitet; die besondere Färbung der Individuen, ihre leibliche und seelische Haltung, die zwischen ihnen schwebende Atmosphäre (l'air ambiant) muß einbildnerische Kraft, so gut sies in der Eile vermag, sich zu erganzen suchen. Das ist kaum möglich, wenn auch die Leitung durchs Ohr nichts vermittelt und wir nur die steifen, dürren Buchstaben des Prozeßberichts vor uns haben. Drum ist der Drang ins Gerichtshaus begreiflich; ist er nicht nur, als Symptom ungesunder Neugier, zu tadeln, wie bei uns allzu oft geschieht. »Wieder bestand die Mehrheit der Zuschauer aus Damen der besten Kreise.« Wundern sich die Gehirnchen darüber? Müssen sie daraus flink auf eine Perversion des Frauengefühles schließen? Diese feinen Damen erleben ja nichts; werden in süßer Unwissenheit gehalten; sehen von dem Gehäus der Menschheit nur die Fassade, die zur Repräsentation bestimmten Räume, Küche und Kleiderkammer; lernen den Mann, den Einen, der ihnen erlaubt ist, oft nur im Schlafzimmer kennen. Hören aber (oder ahnen doch), daß es ganz andere Welten und Willenssphären giebt: und greifen gierig deshalb nach Allem, was sie Menschen menschlich sehen zu lehren vermag. Als Wanderer die Heimstätten und Höhlen im Menschenland zu betrachten, Große zu belauern, auf Kleine zu achten, ist ihnen nicht gestattet; nicht, bis an (und in) die letzten Häuser hinauszugehen. Und Ihr staunt zornig, weil sie vom Roman, vom Theater, vom Gerichtssaal Ersatz hoffen? Da öffnet sich das enge Verließ ihres Erlebens; frei darf der Blick ins Weite schweifen und, oben und unten, entdecken, was irdische Vorsehung ihnen mit Nacht und mit Grauen bedeckt hat. Da hebt der Vorhang sich von blutrünstigen Bildern, von den ängstlich der Sonne verborgenen Kämpfen ums Sein. Da wird offenbar, wie das Handeln sich dem Mutterschoß des Wollens entbindet; was der Wille vermag und wo er splitternd zerbricht. Staunt nicht noch scheltet die feinen Damen, die nach einem Stückchen Leben dürstet. Die gerühmte Oeffentlichkeit unseres Gerichtsverfahrens ist eng genug beschränkt. Keine Agora, kein Forum, auf dem, unter hellem, offenem Himmel, ein Volk athmen kann. Wenn das Reporterheer sein Lager bezogen hat, bleiben in unseren Gerichtssälen nur ein paar Plätze. Klagt nicht darüber, daß sie von Denen gesucht werden, die vom Leben abgesperrt, vor seinen Pfeilen und Schleudern durch Eure schwachgemuthe Muhmenweisheit bewahrt sind.

Sucht nach Sensationen, sagt Ihr; und hättet Recht, wenn zu dem täglich thöricht mißbrauchten Ekelwort sich ein klarer Begriff einstellte. Sucht nach ungewöhnlichem Erlebniß, das den Blutumlauf schleunigt und an den Nervensträngen rüttelt. Was blieb denn der turba, dem wimmelnden Haufen der Mühsäligen, die nicht die Geschäfte des Staates und der großen Organisation leiten? Ein Tag schleicht wie der andere hin. An der Maschine, am Kochherd, am Kinderbett stehen; ein Geräthstheilchen fertigen, immer eins von der selben Form, oder nach dem selben Schema Knaben und Mädchen lehren; Schmutz wegfegen oder Akten schreiben; das Land bestellen; Waaren einhandeln und verkaufen; Werdende und Erwachsene in entgötterte Heiligthümer einführen. Von Abstraktionen wird auch der Magen der Masse nicht satt; er laßt sie sich vielleicht, wenn sie von einer »Autorität« vorgeschrieben sind, gefallen, weiß aber eben so wenig damit anzufangen wie mit den Schwarzküchenpräparaten, die ihm natürliche Nahrung ersetzen sollen und für die Saftbildung und Darmanregung doch nichts leisten. Was bleibt? Bunt gewebte Romane und die Zeitung mit ihrem Lärm; Szene und Tribunal; Sport und Spiel. Gladiatorenkämpfe und Stiergefechte sind in unserem Norden nicht erlaubt; nicht einmal das Lotto ists, von dessen Gewinn die Gier sich im dunklen Winkel künftige Herrlichkeit erträumen könnte. Ringkämpfe, Pferderennen, Gipfelskandale und Mordprozesse bieten immerhin noch den besten Ersatz. Sind die piacula der Christenheit. Auch in Rom stellten die Damen zu den Sühnfesten das stärkste Kontingent. Wenn der pollex des Imperators über Leben und Tod eines niedergerungenen Sklaven entschied, gings, wie ein vielstimmiger Brunstschrei, im schrillsten Sopran durch den Cirkus. Als Nero, um einen Juliabend zu wärmen, die Stadt der großen Julier angesteckt und im Schutt ein neues Volksvergnügen gefunden hatte, scheuten die vornehmsten Frauen nicht das Gedräng der Martyrspiele. Im Haus sahen und hörten sie wenig. Draußen loderten Lebende Fackeln; wurden Menschenleiber von der Pranke wilder Thiere zerfetzt; erfuhr die geputzte, gesalbte domina, wie weit der Wille die Grenze der Kraft vorrücken kann. Alle drängten sich zum ludus matutinus und waren abends pünktlich wieder bereit, wenn die in Fett getränkten Körper der Verbrecher angezündet wurden und die Gluth den Obelisken von Heliopolis bestrahlte (»Warum nicht? Es sind ja Ketzer, die man brennen sieht,« sagt noch Schillers sanfte Mondecar in skrupelloser Freude auf das versprochene Auto da Fé.) Daß Nero den actus fidei zur Theatervorstellung machte, den auf dem Oeta in Flammen verröchelnden Herakles, den vom Bären zerstückten Orpheus, die vom geilen Stier besudelte Pasiphae darstellen und die Spieler in ihrer Mimusrolle sterben ließ, steigerte die Attraktion. An ders aber auch sonst nicht gefehlt hätte. Hier sah man Menschen im furchtbarsten Drang. Das Aufbäumen und das Verglimmen der Lebenskraft. Nackte Christenmädchen, die mit den Haarsträhnen an die Hörner wüthender Stiere gefesselt waren und durch den sonnigen Cirkus der Kaligula und Klaudius geschleift, auf den Fliesen geschändet, entfleischt, zu blutigem Brei zerstampft wurden. Zwischen Vestalinnen und hohen Beamten thronte, auf dem Podium, der kurzsichtige Kaiser und betrachtete durch den konkav geschliffenen Smaragd, der ihm als Opernglas diente, das von seiner Kunst inszenirte piaculum. »Ein feiger Kerl, der so winselt!« »Die Schlanke da hält sich wacker!« »Brüstchen wie Niobes Jüngste!« Richter und Gutachter in einer Person. Auch Henker. Im Fell eines Tigers oder Bären (Sueton erzählts) hat er den Kitzel am Leib reiner Jungfrauen und Jünglinge gestillt, die dann am Pfahl verkohlten. Der letzte Schleier riß und am zuckenden Körper des Menschengethieres wurden die grausigsten Wundmale sichtbar. Wenn Blandina am Kreuz mit verzücktem Blick das Haupt himmelan hob, wenn Perpetua, um sich den heidnischen Gaffern standhaft zu zeigen, in der Arena das von den Bestien gezauste Haar mit ruhiger Hand entwirrte und knotete, empfand Jeder, welche Widerstandsgewalt starker Glaube dem zerbrechlichsten Gefäß zu leihen vermag. Jeder, wie klein in Lebensnoth der Mensch wird, wenn ein stämmiger Christ beim ersten Laut des Thiergebrülles schneebleich an seinem Pfahl schrumpfte, wie eine Schnecke unter der tastenden Ruthe. Der Reiz der Schamhaftigkeit ward entdeckt; nicht an üppig prangender, fröhlich stets zur Hingabe bereiter Schönheit weidete nun sich das Auge: auch an keuscher Kargheit, die vom Strahl aus dem Gesichtsborn sich schon entweiht fühlt. Zum ersten Mal drohte Aphroditens lichtem Altar die Vereinsamung. Und nur eine Würze fehlte dem Mahl. Die Menschen, die man martern, zerfleischen, verbrennen, zertreten sah, kamen aus der Unterschicht römischen Lebens; waren der noblen Gesellschaft so fremd wie der londoner society die Ostendarmen, die man vom Roß oder Wagen aus wohl an den Straßenecken betteln sieht, deren Hand kein Sauberer aber je gedrückt hat. »Humiliores bestiis objiciuntur vel vivi exuruntur; honestiores capite puniuntur.« So wollte es der Brauch. Was da verreckt und verprasselt, ist nicht unser Fleisch und Blut. Erst wenn man den Nächsten, das Ebenbild eigenen Wesens, in Martern erblickt, wird das Gefühl wach, das an der delphischen Pforte dem Waller rieth, sich selbst zu schauen, in Andacht des Wesens Kern zu erkennen.

So empfanden, in der Welt westlicher Herrenvölker, die Alten nicht oft; deutlich vielleicht nur, wenn eines Tragikers Stimme zur Reinigung gerufen hatte. Zwar walteten über Allen die selben Götter. Die ließen aber mit sich reden. Wenn die großen Diebe wie die kleinen behandelt worden wären, hätte Demosthenes die athenischen Männer nicht so überlaut vor der Schmach gewissenlosser Rechtsbeugung gewarnt. Pflicht zur Gerechtigkeit? Kinderei. Der vornehme Hellene und Römer brauchte die Wahrheit, daß Recht ein Kraftbegriff ist, nicht hinter die Prunkperioden heuchelnder Rede zu bergen. »L'amour de la justice n'est en la plupart des hommes que la crainte de souffrir l'injustice«, schrieb La Rochefoucauld in sein Notizbuch. Wer sich stark fühlt und die Rache der Rechtsgenossen nicht fürchtet, giebt die Gerechtigkeit billig in Kauf. Ihm kann nichts geschehen; und dafür, daß unten kein Bruch des Besitzrechtes ungesühnt bleibe, sorgt schon das Sicherungbedürfniß der herrschenden Klasse. Die ins Dickicht der Rechtshändel gerathen und vom Schwert der Dike bedroht werden, sind aus anderem Stoffe; sind eben humiliores. Leise nur regt beim Anblick ihrer Bedrängniß sich Mitleid und Furcht. Den Sinn des Vedenwortes Tat Twam Asi hätte im alten Athen und Rom kein Mächtiger verstanden. Dieses bist Du? Dieser Wurm, der im Staub kriecht und sich vor jedem Fuß, jedem Wurzelknubben furchtsam wegkrümmen muß, soll ich sein? Heute noch, auf unserem mit Weisheit des Ostens gedüngten Boden, will die Formel des Veda nicht gedeihen. »Wer sie mit klarer Erkenntniß über jedes Wesen, mit dem er in Be= rührung kommt, zu sich selber auszusprechen vermag, Der ist eben damit aller Tugend und Seligkeit gewiß und auf dem graden Wege zur Erlösung.« Schopenhauer schwärmt so. Doch nur Wenige wagten, den Weg zu beschreiten (und der Führer selbst bog jäh ab, wenn er rechts oder links einen Philosophieprofessor sah). Selten schlägt beim Anblick leidender, verrirrter Kreatur Einer an seine Brust und spricht zu sich: Dieses bist Du; so konntest auch Du Dich verstricken und straucheln. Der Prozeßbericht lehrts ihn. Wenn Einer aus seiner Schicht auf die Bank der Angeklagten kommt, lernt der sonst Kühlste zittern und bangen. Rinaldo und Schinderhannes: spannende Räubergeschichten. Die Hauptverhandlung gegen einen leidlich gebildeten, im Wohlstand aufgewachsenen Mann, eine im Salon heimische Dame: Erlebniß. Wie sieht er aus, dem Monate lang schon alle Kulturgüter entzogen sind, die winzigsten selbst? Wie trug er die Einsamkeit und den Schandruf? Lahmt sein Muth oder nimmt ein Unbeugsamer den Kampf auf? Mit welchen Waffen ficht er? Mit welcher Finte weicht er dem Angriff aus? Sieh ihn genau an, horche auf ihn und präge Dir seine Taktik ein. Für alle Fälle. Er lebt in Deiner Luft. Was ihm dräut, kann auch Dir eines Tages Verhängniß werden.

In Neros Cirkus wurde der Reiz der Schamhaftigkeit entdeckt; aus blutigen Wehen die Christenästhetik geboren. In den Arenen unserer Gerichtshäuser blickt der Kruzifixus auf die Rückkehr zur Menschenwerthschätzung der Heidenheit herab. Schnell entchristlicht sich da das Gefühl; wie im Krieg und auf der Jagd, wie überall, wo mit evangelischer Tugend nichts zu erreichen ist. Ein reuiger, auf der Sünderbank schluchzender Angeklagter rührt die Herzen wohl ein kleines Weilchen; hat aber bald verspielt. Ein Schacher. Warum blieb er nicht auf der Heerstraße, da in der Einsamkeit, noch hinter den Kotterstäben, vor der rächenden Macht der Gesellschaft ihm nun bang wird, deren Rechtstafel er frevelnd brach? Wer nicht bereit ist, ohne Wank seine Thaten auf der Wage der Themis gewogen zu sehen, soll sich ins Mittelmaß ducken und dankbar die Glücksbrosamen hinnehmen, die ihm die Uranostochter aus ihrem Füllhorn spendet. Wer den gesetzlich erlaubten Pfad verlassen hat, soll kräftig und listig sein; oder solls bis ans bittere Ende wenigstens scheinen. Ein guter Kerl? Sein Platz war im Bürgerwinkel; die Prangergefahr mußte der Schwächling meiden. »Fair is foul and foul is fair«: vor und nach jedem Verbrechen summts die Hexenzunft durch den Nebel. Alles, was an offizieller Frommheit sonst gepriesen wird, verliert dann die Geltung. Sei an Listen reich, Mann; verrathe Dich nicht noch lasse Dich je erwischen; und zwinge die Nerven zu Ruhe: so nur wollen wir Dich. Lächle oder tobe, verstelle Dein Wesen oder zeige dreist die zottige Brust des wilden Affensprossen, falte die Hände oder brülle den Richtern die Wuth Eines, dem ihre Rechtsordnung nie Anderes als eine ins reife Aehrenfeld gestellte Spatzenscheuche schien, ins ver= dutzte Gesicht: nur hüte Dich, aus der Rolle zu fallen. Edle Züge sind Dir nicht verboten. Werden sogar verlangt. Du sollst Mitschuldige schonen, darfst den Begünstiger Deiner That, Deiner Flucht nicht verrathen, mußt alles Mögliche thun, um für die Deinen vorzusorgen. (Der Verurtheilte, der, um seiner Frau eine Rente zu sichern, den letzten Hauch von einer Reklameagentur miethen ließ und auf der Richtstätte, fast schon unterm Beil, der hundertköpfigen Menge zurief: »Die beste Chokolade giebts bei Sanderson!«: Der war auf seine Weise ein Held.) Ins Unmännliche darf Dein Edelsinn nicht abgleiten; der Seilläufer, der die Banlancirstange auf seinem Handteller tanzen ließ, nicht plötzlich zur Memme werden. Schuld oder Unschuld? Schemen aus dem Wolkenreich blutloser Begriffe. Manche Schuld wird hienieden nicht gesühnt; wir wissens und sind zufrieden, wenn der hurtige Kopf sich der Schlinge entwindet. Nicht jedes Sühnfest freut uns: nur eins, bei dem das Opfer erst mit dem Athem die Fassung verliert. Der bußfertig schlotternde Angeklagte wirkt schäbig: ein Eber, der, statt die Hauer zu wetzen und den Feind anzunehmen, sich aufs Flennen legt.

Rechtsanwalt Karl Hau aus Groß-Littgen, den das karlsruher Schwurgericht, als den Mörder seiner Schwiegermutter, zum Tode verurtheilt hat, war in einer anständigen Bürgerstube aufgewachsen, hatte Mancherlei gelernt und an der Schwelle des Mannesalters schon Etwas aus sich gemacht. Auf dem harten Sitz des Angeklagten hatte er das Gewand und die gelassene Ruhe des Gentleman. Große Augen in einem blassen, bartlosen, beinahe noch knabenhaften Gesicht. Der langbeinige, schlanke Rumpf geschmeidig wie eines Rennpferdes vor dem Entscheidunglauf. Tage lang stand er am Pfahl. Wurde mit Fragen bestürmt. Sollte sein Thun erklären, Räthsel lösen, für sein junges Leben fechten. Gab sich aber nicht dazu her. Blieb ruhig, höflich, taktvoll; im ärgsten Gedräng. Wog die Tragweite jedes Wortes und war weder durch Furcht noch durch Hoffnung aus der bedachtsam gewählten strategischen Stellung zu locken. Bis in die letzte Stunde hinein der klügste Mann im Saal. Einer, der sich mit seiner Klugheit nicht brüstet. Nicht posirt.Sich nicht vordrängt. Die Bruchstellen in den Grundmauern der Anklage nicht aufdeckt. Nur redet, wenn er gefragt ward; und den meisten Fragen die Antwort weigert. Ein Muster der Selbstzucht. Ob die Zeugen ihn ein Genie oder einen Hochstapler nennen, als Märtyrer oder Mörder behandeln: keine Schwachheit wandelt ihn an. Nie versucht er, auf das Gefühl seiner Richter zu wirken, um ihr Mitleid zu werben. Wenn er spricht, über die Krisis seines Schicksals, über die Absolution, die er vom Priester im Untersuchungsgefängniß empfing, über den Selbstmord seiner Frau: immer ists, als habe er vorher jede Silbe in Eis gekühlt. Er klagt nicht; trotzdem Staatsanwalt und Gerichtspräsident ihm Grund genug bieten. Wozu? »Ich habe nicht auf meine Schwiegermutter geschossen, sehe aber ein, daß der Schein wider mich zeugt.« Das war ihm fast schon zu viel. Nicht ein Laut, der einer Bitte ähnelt Der ganze Mensch aus einem Stück. Drum wird er bewundert. Drum drängen Tausende in den Saal: zu sehen, ob auch die nächsten Speerstöße vom Erz dieser Wesensrüstung abprallen werden. In Friedrichs stiller Residenzstadt kommts zu Straßentumulten, weil die kühle Ueberlegenheit des Angeklagten den Kleinbürgersinn in heroworship getrieben hat. Und Millionen harren, am Meer, im Gebirg, an der Heilung verheißenden Quelle, des Urtheils, als gölte es einem geliebten Haupt. Schuldig oder Unschuldig? Kaum taucht die Frage noch aus der Weißgluth der Ungeduld. Wie im Diesseits von Gut und Böse, wünscht Alles dem Starken den Sieg. Zeus ist erstanden.

Indicia.

So wars am ersten Tag nicht gewesen. Auf dem Gerichtstisch stand ein Glas, in dessen heller Flüssigkeit ein dunkles Knäuel zu schwimmen schien. Aller Augen haften an der diaphanen Wand des Gefäßes; und wenn die Hand eines Arztes oder Richters das Glas streift, gehts wie frommes Schaudern durch die Reihen. Als hebe auf dem waldigen Berg der Templeisen unsichtbare Kraft den Gral hoch ins Gewölb. Doch der dunkle Fleck ist nicht ein Gerinnsel vom sanguis realis des Galiläers, das Glas kein Kultgeräth: in Spiritus bewahrt es das Herz, das Karl Hau durchschossen haben soll. Das Herz der Frau, deren Tochter er entführt und zur Ehe genommen hat. Blutet es nicht, da der Mörder so nah ist? Zuckt nicht, wie in Krämpfen, noch einmal der Muskel? »Der Mensch weiß niemals, wie anthropomorphistisch er ist«, spricht Goethe. Das Klümpchen wird zum beseelten Wesen, zum unsterblichen Mutterherzen der Legende; und wie grasse Anklage dröhnts aus dem blinkenden Behälter. »Mein Kind hast Du bethört, nahmst es mir, wolltest mit ihm in den Tod, hattest aber, als Du den jungen Frauenleib bluten sahest, nicht den Muth, gegen die eigene Brust die Waffe zu kehren. Leichtfertig also mit fremdem Leben und obendrein feig. Leichtfertig auch in Deinen Geschlechtssitten. Ein Schürzenjäger. Ein Freund feiler Weiber. Ein Prahlhans. Und ein siecher, im Brennpunkt der Zeugerkraft vergifteter Mann. Was gabst Du Deiner Frau? Elend und Lebensgefahr lauerte auf der Schwelle ihrer Brautkammer. Dann, als Dein scharfer Verstand und Deine Geschmeidigkeit in der Neuen Welt Dir zu reichlichem Einkommen verholfen hatte, gabst Du ihr Luxus, Edelsteine, den erkauften Tand eines Ordens. Glück? Eifersucht zehrte an ihr: und Du warst schuld. Auf die heißen Freuden der Weibheit und neuer Mutterschaft mußte sie früh verzichten: und Du warst schuld. Ihr Kind sah sie als hageren Schwächling hinkümmern: und Du warst schuld. Hast sie mit Deinem Flatterdrang, Deinem Trug, Deinem Mordgeruch ins Wasser getrieben. Nachdem sie durch Dich zur Waise geworden war. Wenn das Opfer Dir den Mord verziehe: kann die Mutter verzeihen, was Du an Kind und Kindeskind ihr gethan hast?« Präsident, Staatsanwalt, Geschworene brauchten den Mund nicht zu öffnen. Das durchschossene Herz vertrat die Anklage mit so ungeheurer Wucht, daß kein Entlastungbeweis dagegen aufkommen konnte. Dramatis personae schienen nur dieser Ankläger und der des Mordes Verdächtige. Und jeder Blick, der sich feucht von dem funkelnden Glas löste, sprach den Angeklagten schuldig.

Am sechsten November 1906 ist Frau Molitor, die reiche Witwe eines Medizinalrathes, in Baden-Baden getötet worden. Auf offener Straße, als sie, bei sinkender Nacht, mit ihrer unverheiratheten Tochter Olga nach dem Postamt ging. Zu diesem Gang war sie genöthigt worden. Ein paar Tage vorher hatte ein Telegramm sie in ungewohnter Hast nach Paris gerufen, wo Karl Hau sich mit seiner Frau und seiner Schwägerin Olga aufhielt. Da die Drei nichts von dem Telegramm wußten, wurde die Postbehörde aufgefordert, dem Absender nachzuforschen; und am sechsten November ersuchte der zuständige Beamte Frau Molitor telephonisch, zu ihm zu kommen, damit er ihr über das Ergebniß der Recherchen berichten könne. Ob es durchaus noch heute sein müsse. Heute noch. Die Witwe macht sich auf, holt ihre Olga von einem Vesperthee: und kehrt nicht mehr heim. Nie hat Feindschaft der stillen Frau nach dem Leben getrachtet. Beute war von diesem Leichnam nicht zu erraffen. Cui bono? Die Frage des Lucius Cassius Longinus Ravilla klingt auf jeder Mordstätte dem Kriminalisten ins Ohr. Wem nützt dieser Tod? Wer hat ein Interesse daran, das natürliche Ende dieses Lebens nicht abzuwarten? Einer, der seinen Erbtheil gerade jetzt brauchte. Doch in der guten Gesellschaft treibt solches Motiv nicht zum Mord. Und die Hinterbliebenen sind hier rangirte Leute von bestem Ruf. Alle? Um Linas Mann ist ein Duft von Abenteuerlichkeit. Rheinländer, aus der trierer Gegend, aber drüben völlig amerikanisirt. Ein höllisch geriebener Herr soll er sein. Und steinreich. Manchmal, sagt Einer; dann wieder ohne das für die nächste Mahlzeit nöthige Geld; wie es im Yankeeland solchen Spekulanten eben geht. Was treibt er da eigentlich? Geschäfte aller Sorten. Bitte: er ist Professor! Nein: Advokat. Auch nicht: Agent. Jedenfalls hat er im Lauf der Zeit viel Geld zusammengeschlagen. Und ausgegeben. Tolle Verschwendungsucht. Die Frau mit Brillanten behängt. Er selbst wie ein Nabob; die theuersten Hotels. Stünde bei uns längst unter Kuratel. Und pendelt immer zwischen Sandy Hook und dem Bosporus hin und her. Soll der Lina ja vom Türkensultan einen hohen Orden mitgebracht haben. Wers glaubt, wird selig. Das glitzernde Ding hat ihm irgendein bestochener Pascha zugeschmuggelt. Ging nicht auch einmal von heimlicher Entführung die Rede? Richtig: die alte Molitor hat dem Paar erst ihren Segen gegeben, als sie nicht anders konnte. Und im Engeren wurde damals sogar von Selbstmordversuchen gewispert. Dieser falsche Amerikaner ist ein höchst unsicherer Kantonist, dem man nicht über den Weg trauen darf. Freilich: ein Mord! Wie groß ist denn sein Erbtheil? Lina hat fünfundsechzigtausend Mark Mitgift bekommen; blieben jetzt noch ungefähr siebenzigtausend. Darum soll Einer gemordet haben, der mit so breiter Kelle schöpft und dems so rasch aus der Schüssel rinnt? Das bringt drüben ein einziges Acquisiteurgeschäft ein. Die Hauptsache: Hau war am Sechsten ja gar nicht in Baden-Baden. Folgt also, Leute, statt ins Blaue zu birschen, lieber der sichtbaren Spur. In der Stunde und auf der Straße des Mordes ist ein schwarzer Mann gesehen worden. Feine Damen, die ganz klar im Kopf sind, behaupten steif und fest, er habe einen angeklebten Bart gehabt. Der muß es sein. Vor dem Karneval vermummt nur ein Lichtscheuer sich. Den sucht! Gewiß; nur ist sein Motiv uns ein Räthsel... Der Mord ist ruchbar geworden und der Schwarze mit dem Klebebart schlurft nun schon um alle Stammtische. Auf dem frankfurter Bahnhof hat ein Reisender ihn dem Portier gezeigt. Schlank, blaß, mit langen Beinen und großen Augen. Im Trauerhaus haben Drei Linas Mann im Verdacht. Der war, wie sich nun herausstellt, am fünften November in Frankfurt. Würde mit angeklebtem Bart ungefähr aussehen wie, nach der Schilderung der Zeugen, der unheimlich Schwarze. Und ist und bleibt der Einzige, der an dem Tode der Frau Molitor, an rascher Erbtheilung ein Interesse haben konnte.

Karl Hau hat die Depesche geschrieben, die seine Schwiegermutter erschrecken und zu hastiger Abreise nach Paris drängen mußte. Karl Hau war am sechsten November heimlich in Baden-Baden, hat sich am Telephon für einen Postbeamten ausgegeben und Frau Molitor zu dem Wege genöthigt, von dem sie nicht wiederkam. Als er von London abfuhr, verbarg er Lina das Ziel seiner Reise und verpflichtete sie, keinem Menschen zu sagen, daß er auf dem Kontinent sei. Von einem londoner, zum zweiten Mal von einem frankfurter Friseur ließ er sich Barthaar ins Gesicht kleben. Wurde in dieser Vermummung bei der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen. Riß den Bart dann ab; fuhr, ohne Molitors Haus zu betreten, mit dem nächsten Zug nach Frankfurt; warf Hut und Mantel, die er in Baden-Baden getragen hatte, in den Aermelkanal. Und war just damals in arger Geldklemme. Hatte hinter dem Rücken der Frau auch deren Vermögensrest schon aufgezehrt. Das hat er, Alles, Monate lang stramm und ohne Erregungzeichen geleugnet. Nach und nach nur zugegeben, was unwiderlegbar erwiesen war. Schließlich das ganze Gewicht der belastenden Umstände auf sich genommen und mit kalter Entschiedenheit nur bestritten, daß er je einen Mord geplant oder gar ausgeführt habe. Darf man ihm glauben? Sein Vertheidiger meinte, aus Anklage und Beweisaufnahme sei nur ein jämmerliches Kartenhaus entstanden, das ein leis aus der Wirklichkeit herwehender Wind umstürzen müsse... Ein verwöhnter, der wärmenden Gelddecke beraubter Mann, der zu einträglichen Geschäften Barmittel braucht. Falsche Depesche, falscher Bart, falscher Telephonruf. Heimliche Reise, heimlicher Aufenthalt im Wohnort der Schwiegermutter. Die wird zuerst nach Paris, dann aufs Postamt gelockt und auf diesem Weg (den Karl Hau wies und in der selben Stunde, verkleidet, unkenntlich gemacht, geht) von einer Kugel getötet. Cui bono? Nur dem Erben, der, wenn sein Plan gelingt, in zwei, drei Wochen wieder siebenzigtausend Mark haben wird. Der Vermummte flieht aus der Schwarzwaldstadt, ändert, so schnell ers vermag, sein Signalement, stellt sich wahnsinnig, leugnet und läßt sich Schritt vor Schritt von der Nothwendigkeit zu halbem Geständniß drängen. Ein Kartenhaus? Selten sind Indizienbeweise so fest gezimmert. Auch der Gewissenhafte durfte auf diese Brücke treten; und sicher sein, daß er auf haltbarem Grunde stand.

Dennoch war Karl Hau Tage lang ein populärer Held. Trotz Bankkontoschwindel und Türkenschacher; trotzdem er seinem Kind Syphilis vererbt und seine Frau in den Pfäffiker See getrieben hat. Millionen harrten des Spruches, als gölte er einem geliebten Haupt. Schön ist Wüst und Wüst ist Schön. Der Kluge mit dem welkenden Knabengesicht hatte mit starker Hand, die das Zittern nie lernte, die Fährniß gemeistert. Stumm stand das Glasgefäß; wurde kaum auf Sekunden noch von den Blicken gestreift. Gott weiß, wer die gute alte Dame getötet hat! Vielleicht der Angeklagte; vielleicht ein Anderer. In dem gefurchten, ausgespülten Beutelchen regt sich nichts mehr. Kinder mag man mit solchem Zeug schrecken. Was solls denn auf dem Tisch? Hier kämpft ein Hirn um sein Recht; ums Recht seiner Kraft. Karl Hau, gegen den stumpfe Waffen fochten, wäre ein bewunderter Held geblieben, auch wenn er die That gestanden und, wie Wedekinds Mörder, gesprochen hätte:

Ich hab' meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ihr aber, o Richter, Ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend nach.

Kriminalpsychologie.

Um lumpige siebenzigtausend Mark? Die er am Ende doch nicht ganz, vor dem mißtrauischen Auge der Schwäger, ins Geschäft stecken konnte. Darum Meuchelmörder? Ein Pappenstiel für Einen, der am Goldenen Hörn mit einem Redakteur recht wie ein Kavalier gekneipt und überall Bakschisch amerikanischen Formates gegeben hat. Er kann Verwandte anpumpen. Die strecken bis zu Fünfzigtausend gern vor (habens in Karlsruhe beschworen). Erstens aber ist geliehenes nicht ererbtes Geld. Zweitens wäre er vor diesen Verwandten um seinen Nimbus, wenn er als Bettler käme. Denen hat er wilde Sachen erzählt: von seinem Reichthum, seiner sozialen Stellung, seinen Triumphen als Gelehrter und Unterhändler. Nun den leeren Klingelbeutel hinhalten? Dann platzt die Blase. Wer vom Rhein zu den Sternbannerleuten gegangen ist, kann sich daheim nur noch als Dollaronkel zeigen; sonst ist er Hans Habenichts oder, wenn er sich in feinem Kammgarnanzug aufplustert, ein Hochstapler, den deutsche Treue meidet. Lieber ein Ende mit Schrecken als den Verlust der heimischen Claque, die den großen Mann aus Atlantis anstaunt und, seit er Linchens Hals mit echten Steinen pflastert, in einer Gedächtnißfalte die Thatsache gefunden hat, daß er als Junge schon ganz sicher ein Genie war und eben drum blöden Augen als ein Thunichtgut galt. Grund genug, das peinliche Bekenntniß, die Leihgebühr und die Dankpflicht zu sparen. Welcher Pedant hieß Euch denn logisch faßbare Erklärung des Verbrechens suchen? Wenn der Rath ruhiger Vernunft immer befolgt würde, blieben die meisten Sünderbänke leer. Feuerbach, der Ritter der Bayerischen Krone, Wirklicher Geheimer Rath und Appellhofspräsident war, hat vor bald hundert Jahren »Merkwürdige Kriminalrechtsfälle« aus seiner Praxis zusammengetragen. In dieser Sammlung ist auch die Geschichte Eines zu finden, der uns als »Brudermörder aus Enthusiasmus für eine Handlungspekulation« vorgeführt wird. Er wollte in Nürnberg ein Geschäft übernehmen, von dem er sich viel versprach, brauchte dazu seinen Bruder, der aber allerlei Bedenken hatte, und schoß den nicht zu Ueberredenden nieder. Irrsinn? Dieser Ludwig Christian von O. gab sich selbst nicht für einen psychisch Kranken. Im Verhör sagte er (der Herausgeber schreibt das Protokol ab): »Stelle man sich nur vor, wenn man es so weit gebracht hat als ich, wenn man eine beträchtliche Handlung überkommt, durch die man sein und seiner Familie Glück gründen kann, und daß unsere Firma auf unseren Handlungplätzen zu Frankfurt, Bamberg und Würzburg schon annoncirt war, daß wir in jeder Stunde das Waarenlager wirklich übernehmen sollten: und nun kommt ein Bruder, der gegen alles Erwarten nichts als Bedenklichkeiten hat, nichts als elende Einwendungen vorbringt: ob man da nicht toll werden und in Verzweiflung kommen muß! Ich hätte besser gethan, wenn ich meinen Bruder ganz hätte gehen lassen; allein in der Hitze überlegt man Solches nicht gleichl« Weil der Bruder nicht mit nach Nürnberg will, muß er ins Gras beißen. Triftigeren Grund hätte Karl Hau immerhin gehabt, die reiche Schwiegermutter, der seine Eitelkeit den Schiffbruch stolzer Hoffnungen so lange wie möglich hehlen wollte, heimlich um die Ecke zu bringen.

Um die Indizienbrücke noch mit einem Nothpfeiler zu stützen, hatte der Ankläger sich schwitzend bemüht, alle Sünden des Knaben Karl sorgsam zu registriren. Der Bengel hat gestern die Johanne, vorgestern die Susanne geliebt, ging von Branntewein und Bier zu den Mädeln ins Nachtquartier (manchmal, o Graus, bis ins Bordell), holte sich eine tüchtige Lues, warf das Geld zum Fenster hinaus, leistete an Aufschneiderei das Unglaublichste und soll schließlich gar versucht haben, ein wiener Bankhaus mit einem Kreditbrief zu prellen. Höchst schaudervoll. Auf solchem Lasterpfad wird man zum Mörder? Prokuratorenwahn, den das helle Leben verlacht. Auf mancher Sella thront Einer, ders mit Frauenzimmern nicht glimpflicher getrieben hat. Wenn kein trunkener Studiose ins Lupanar schliche, müßten die Kuppelmütter verhungern. Luetiker sind Excellenzen von frommstem Wandel, Schwatzmäuler Wirkliche Geheime Obermandarinen geworden. Und die wiener Sache war im schlimmsten Fall ein Versuch am untauglichen Objekt. Solche Streiche sollen den Mordinstinkt erklären? Tausende laufen in Ehren herum, Abertausende, die Aergeres auf dem Kerbholz haben. Die Akustik und Optik des Gerichtssaales stärkt den Schall und vergrößert das Volumen. Habt Ihr nicht längst gemerkt, wie ungeheuer da oft das Alltäglichste wirkt? Ein Sandkorn, das man draußen nicht spürte, kann hier belasten. Unser Urtheil, Aller, über Menschen und Dinge schwankt mit dem Wetter unserer Seele, wechselt wie die Gezeiten unserer Stimmung. Kommt die Schwankung, die Unstetheit an den Gerichtstag, so sind wir halb schon um unseren guten Namen. (»Wenn Wissmann wirklich heute so und morgen anders über Peters geurtheilt hat, bleibt auf dem blanken Schild seiner Ehre doch ein Fleck.« Ohe, les psychologues!) Erspart uns künftig die »zur Illustration bestimmte« Sündenliste. Sie kann nichts erklären. Auch vor diesem Irrweg hat Feuerbach schon gewarnt. Er citirt Racines Wort, daß den großen immer kleine Verbrechen vorausgingen (»Un seul jour ne fait point d'un mortel vertueux un perfide assassin, un lache incestueux«) und sagt dann: »Nichts trüglicher als solche Gemeinplätze bei Beurtheilung menschlicher Handlungen! Nichts irriger als die Meinung, nur ein Bösewicht sei eines großen Verbrechens an der Menschheit fähig, nur in einem schändlichen Gemüth könne eine Schandthat keimen, nur durch das Gebiet des Lasters gehe der Weg zu solchen Verbrechen! Was der Mensch ist, Das ist er durch seinen Instinkt, durch die natürliche Gutmüthigkeit seiner Neigungen, die ihn, unschuldigen Gemüthes, friedlich, rechtlich den graden Weg fortleiten. Aber irgendeine hervorstechende Neigung werde an einem Gegenstand, den Zeit und Umstände darbieten, zur Leidenschaft entzündet, irgendeine Lieblingmeinung, irgendeine einseitige Richtung des Gemüthes treffe auf einen besonderen Zweck des Begehrens und hefte sich an ihn mit innigem, heißem Verlangen: plötzlich, unvermuthet und unvorbereitet, ist dann das innere Gleichgewicht zerrüttet und Alles stürzt, aus seinen Fugen getrieben, der Stützen beraubt, dahin, wohin die Uebermacht es drückt. So tritt oft unerwartet selbst der Bessere in die Reihe der Verbrecher, so ist oft eines Menschen absichtliche That abscheulicher als er selbst. Unter Hunderten, die wir kennen, ist vielleicht nicht Einer, für den wir sichere Bürgschaft leisten dürften: er, der heute noch als Mann der Rechtlichkeit vor unseren Augen steht, werde nicht vielleicht morgen ein Verbrecher sein. Fast Jeder hat seine schwache Seite, die ihm den Fall bereiten kann, sobald ihn dabei die Gelegenheit mit hinreichender Stärke faßt.« So sprach der kundige Präsident eines Appellhofes.

Aus dem Buch des Alten ist noch mehr zu lernen; auch für unseren Fall. Der karlsruher Schwurgerichtspräsident konnte, wie er sich mühte, nicht fassen, daß Hau (»ein so kluger Mann«) so unvernünftig gehandelt haben sollte. Das dünkte ihn ganz unglaublich. Den Ritter von Feuerbach nicht. Der sagt: »Der Stern der Vernunft leuchtet nur, so lange ihn nicht der Sturm der Leidenschaften mit seinen Wolken bedeckt. Die Logik der Leidenschaft erkennt keine Syllogismen des Verstandes; sie hat zum Grundsatz, über alle Syllogismen hinaus graden Weges auf ihre Befriedigung loszugehen; sie sieht in ihrer Blindheit nichts als sich selbst und ihren Gegenstand, wirft Alles nieder, was ihr in den Weg kommt, und thut in ihrer Thorheit nicht selten, was ihrem eigenen Zweck entgegen ist. Die Leidenschaft nach den Gesetzen des Verstandes beurtheilen, ist so viel wie: einem Trunkenen zumuthen, so zu thun, als wenn er nüchtern wäre, oder auf sicherem Ufer einem Ertrinkenden zurufen nur hübsch fest und grade auf den Boden zu treten, und uns dann verwundern, daß ers nicht gemacht hat wie wir. Es ist allgemein ein sehr verwegener Schluß: Was wir nicht begreifen, Das ist nicht; was wir nicht erklären können, hat auch keinen Grund der Erklärung. Am Vermessensten ist er bei Erscheinungen des menschlichen Gemüthes, die an so feinen Fäden fortlaufen, daß ihr Ursprung oft in den dunkelsten Kammern des Geistes sich verliert.« Das wurde vor hundert Jahren geschrieben. In Deutschland. Dieser Richter wäre nicht in Wuth gerathen, wenn er das Handeln des Angeklagten unlogisch und zweckwidrig gefunden hätte. Bayern und Baden. Wir habens im deutschen Säkulum mit unserer Kriminalpsychologie herrlich weit gebracht.

In der gallischen Heimath feiner Seelenkenner ist die Prozedur menschlicher. Wird von dem Angeklagten nicht Kadavergehorsam, nicht blinde Unterwürfigkeit geheischt. Er darf seinem Temperament freien Lauf lassen. Solls: denn der Richter will ihn ja kennen lernen. Brüllt er einmal auf: der Kampf geht um Freiheit, Ehre, Leben vielleicht; und der Affekt sprengt die Pforten des Seelengehäuses. Zola schrie: »Ich kenne Ihre Gesetze nicht, will sie nicht kennen!« Und wurde nicht mit Ungebührstrafe bedroht. Schrie, die Nachweit werde seinen Namen noch nennen, wenn der eines Generalissimus längst verschollen sei. Und wurde nicht väterlieh vor Größenwahnsanwandlung gewarnt. Jupiters Recht ist drüben auch das Recht der Oechslein. Nie fährt ein Robenärmel dem Angeklagten rauh übers Maul. Eine Heirathvermittlerin stand in Versailles neulich vor Gericht. Der Vorsitzende ließ sie reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Merkte dabei ja, was er von ihr zu halten, wessen sich zu versehen habe. »Meine Kunden sind so anständig, wie Leute sein können, die einer Mitgift nachjagen.« Sie soll Papiere aus einer verschlossenen Truhe genommen haben. »Na, die Diplomaten thun doch von früh bis spät weiter nichts!« Sie hört, daß der Strafprozeß sich mit Indizien begnügen und auf die schlüssigen Beweise des Civilprozesses verzichten kann. »Famos! In einem Sechsdreierstreit fordert man also mehr Beweise als in einem Verfahren, wos um lange Kittchenjahre geht!« Und so weiter. Als Hau, ein einziges Mal, um etwas höflichere Kritik seines Handelns bitten wollte, hagelte es grobe Worte vom Präsidentenstuhl. Darf ein Mann heftig werden, dem die Ehre ward, einem Gericht vorzusitzen? Herrisch und wild gegen den Wehrlosen, der ganz in der Hand des unumschränkt Mächtigen ist? Darf er ihn, der zum Kampf um unentbehrliche Güter tüchtig sein soll, des Wollens Ohnmacht fühlen lassen?

Halali.

Sonnabend durfte Hau, als die Nacht sank, leise auf Freispruch hoffen. Als die Montagssonne den höchsten Punkt erreicht hatte, war er verloren. Ein Zeuge (der späte Zeuge, der fast in jedem laut umschwatzten Prozeß ein Sonderrühmchen sucht) hatte den Schweigsamen endlich zum Reden gezwungen. Zum Rückzug aus der strategischen Stellung. Bisher war Alles stark, eigensinnig, klug. Nicht ein sentimentales Wörtchen. »Ich habe nichts zu sagen.« »Ich kann nur meine frühere Erklärung wiederholen.« »Was hier bewiesen ist, gebe ich zu; aber nicht mehr.« »Ueber die Tragweite meines Handelns habe ich keinen Zweifel.« Würdig. Amor fati in Haltung und Ton. Jetzt ward er romanhaft. Karl hat seine hübsche Schwägerin Olga geliebt. Nicht nur, wie Lina witterte, lebemännisch mit ihr getändelt (die Verse machte, pikante Bücher las und von kurstädtischen Philistern deshalb eine »Emanzipirte« genannt wurde). Leidenschaftlich geliebt. Mit allen Wesensfasern sich an sie geklammert. Und kein Aederchen seines Gefühles ihr doch enthüllt. Um die Gefahr zu bannen, rief er Frau Molitor nach Paris. Sie sollte Olga mit nach Haus nehmen; sah aber nichts, hörte auch nichts und die Damen fuhren gemächlich heim: zwölf Stunden vor dem Anbruch des für die Abreise des Fräuleins von je her festgesetzten Tages. Um Olga noch einmal zu sehen, vor der Rückkehr an die Atlantisküste einmal noch, kam er heimlich nach Baden-Baden. Verkleidet. Mit fremdem Haupt- und Barthaar. Nöthigte er die Schwiegermutter, trotz ihrem Schnupfen, aus dem Haus. Ging sie, dann blieb Olga allein und er konnte zu ihr sprechen. Nur sprechen. Abschied nehmen. (Die große, keusche Passion.) Das mißlang: denn Mutter und Tochter gingen gemeinsam zum Postdirektor. Nun mußte Alles herauskommen. So schnell wie möglich also aus der Mumme und fort. Den Schuß hat er nicht gehört. Von dem Mord erst in London erfahren, wo Lina ihn mit dem Kind zur Fahrt nach New York erwartete. Verdacht? Nicht den geringsten. Und mehr sagt er nicht... Dem Präsidenten gefiel der roman romanesque. Der hatte die Akten durchaus studirt, dem Angeklagten und jedem Zeugen das im Vorverfahren Ausgesagte noch einmal abgefragt und ganz und gar nicht begriffen, daß sein Werk nun nicht mit einem Geständniß Haus gekrönt werden solle. Jetzt hatte ers: ein Geständniß der Unschuld zwar, das immerhin aber der ungehörigen Verstocktheit vorzuziehen war. (Daß der Angeklagte sich nicht reuig ans Messer liefert, bleibt jedem zum Beisitzen Geborenen stets ein empörendes Räthsel.) Der Herr Präsident geruhte denn auch gnädig, fortan die Sonnenseite zu zeigen. Das Mysterium mag noch Anderen gefallen haben. Dabei ließ sich was ahnen. Am Ende war der Pöbelinstinkt, der draußen gegen die Molitors heulte, auf richtiger Fährte. Ein Unschuldiger, weil er aus tieferer Schicht kam, frech des Mordes verdächtigt. Zwischen Olga und Karl doch Intimeres, als keusche Herzen zugeben konnten. Literaturerinnerungen an Rosmers Frau, die ihren Johannes mit seiner Rebekka in den Mühlbach nachzieht. Wenns Sonnabend zum Spruch gekommen wäre, hätten ein paar Geschworene den Beweis vielleicht unzureichend gefunden. Drum wollte Hau, nach dem Effekt seiner Beichte, auf alle weiteren Konstatirungen und Aussagen verzichten; drängte er hastig dem Ende zu. Nun ward Sonntag. Ueberlegte mans recht, so stimmte die Geschichte eigentlich nirgends. Um so Harmloses im Dunkel zu lassen, wagt Keiner den Kopf. Und just so dicht bei dem vermummt girrenden Eidam muß Frau Molitor verbluten? Kein Thäter auch nur im Verdacht? Doch: der verschwundene Diener Karl Wieland, den der Vertheidiger recht laut schon der That zieh (weil er, verhängnißvoll unklug, ihn unauffindbar glaubte). Montag kommt er. Ein gutes Kerlchen, dessen Anblick die Spannung in Lachen löst. Und Frau Hau hat ihr Kind Olgas Obhut vermacht. Und hat ihren Mann besser als Einer im Saal hier gekannt. Der Roman zerrinnt. Hau ist verloren.

»Nieder mit der rothen Olga!« johlt es draußen. Der Angeklagte ist zum Tode verurtheilt worden; wird, als ein nicht unzweideutig Ueberführter, den Kopf aber nicht unters Richtbeil legen. »Sentimentalität kleidet ihn nicht gut«, sagt Einer in der Thür. Pollice verso! Der Ringkämpfer hat mit beiden Schultern die Erde berührt und ist abgethan. Die letzte Ziffer noch in die Kostenrechnung. »Im Erdgeschoß ist die Kasse.« Die Requisiten, die für das Schwurgerichtstheater aufgebaut worden waren, werden flink weggeräumt. Der Gerichtsbote greift nach dem Glas, in dem das durchschossene Herz schwimmt. Und das Sühnfest ist aus.

Motive.

In der ersten Morgenstunde des dreiundzwanzigsten Julitages sind den karlsruher Geschworenen zwei Fragen vorgelegt worden. Die erste: Ist der sechsundzwanzigjährige Angeklagte, Rechtsanwalt Karl Hau aus Groß-Littgen, schuldig, am sechsten November 1906 seine Schwiegermutter, Frau Josephine Molitor, vorsätzlich getötet zu haben? Die zweite: Hat der Schuldige die That mit Ueberlegung ausgeführt? Beide Fragen wurden, nach einstündiger Berathung, mit mehr als sieben Stimmen bejaht. Damit war der Thatbestand des Paragraphen 211 gegeben und der Angeklagte mußte, nach dem Gesetz, zum Tod verurtheilt werden. Dennoch haben wir hundertmal gelesen, der Thatbestand sei nicht aufgeklärt, Hau offenbar unschuldig und kein Zweifel möglich, daß der leipziger Strafsenat das unhaltbare Urtheil aufheben werde. Schwurgerichtsurtheile werden selten aufgehoben; sie geben ja keine Entscheidungsgründe, die das Reichsgericht nachprüfen, in denen es die fehlende oder falsche Anwendung einer Rechtsnorm rügen könnte, sondern nur den Ausdruck einer dem Ergebniß der Hauptverhandlung entnommenen, auf Ehre und Gewissen gestützten Ueberzeugung. Das Urtheil eines Schwurgerichtes kann von der revidirenden Instanz nur aufgehoben werden, wenn das Verhandlungprotokol eine Verletzung des Gesetzes ergiebt. Nicht ein einziger Grund, der in der Strafsache wider Karl Hau die Aufhebung erwirken mußte, kam ans Licht; kam nach Leipzig. Und das Reichsgericht fand keinen Grund, das Urtheil zu entkräften.

In der Hauptverhandlung hatte der Vertheidiger zunächst versucht, einen Diener der Frau Molitor mit dem Schuldverdacht zu belasten. Dieser Karl Wieland sollte mit der Witwe des Geheimen Medizinalrathes Molitor Streit gehabt haben und galt als unauffindbar. Ein alter Fehler schwacher Kriminalpolitik: statt den unzweideutigen Beweis zu fordern, daß sein Klient schuldig sei, müht sich mancher Anwalt, einen Zeugen, den er verschwunden wähnt, mit dem Gewicht der That zu bebürden: und ist mit seiner Forensenkunst dann zu Ende, sobald das Echo des Prozeßlärmens den lange vergebens Gesuchten in den Gerichtssaal gerufen hat. Nach Wielands Aussage war der künstlich gezeugte Verdacht abgethan. Noch auf einen anderen taktischen Kniff hatte man aber gehofft. Herr Hau weigerte die Antwort auf jede Frage nach den Beziehungen zu seiner Schwägerin Olga Molitor; lehnte mit besonderem Nachdruck die Beantwortung der Frage ab, ob er wisse oder ahne, wer seine Schwiegermutter getötet habe. Warum? Da er, ohne sich zu gefährden, Nein sagen konnte? Weil er nicht lügen will, wisperts schon im Schwurgerichtssaal; weil er weiß oder ahnt, ein ihm theures Leben aber nicht in Gefahr bringen will. Ein Gentleman also. Einer, der für seine Liebe den Kopf unters Beil legt. Der ein Mörder? Unsinn. Hau hatte Geld wie Heu. Konnte in Amerika, wo er (man denke!) Außerordentlicher Hochschullehrer und Advokat war, bequem viel mehr verdienen, als er brauchte. Und soll, um lumpige siebenzigtausend Mark zu erben, gemordet haben? Das glaubt kein Erwachsener. Dahinter steckt sicher ganz Anderes. Schon Juvenal hat gesagt: »Nulla fere causa est, in qua non femina litem moverit«; und das Polizeigenie des alten Dumas, der sich auf solche Dinge nicht schlechter als Sherlock Holmes selbst verstand, rieth, in jedem Rechtsstreit nach der Frau, als der Thäterin oder Anstifterin, auszuspähen. Cherchez la femme! Auf der Zeugenbank ward sie gefunden. Fräulein Olga Molitor. Schon sechsundzwanzig; aber hübsch, elegant, röthliches Haar und ein Gedichtbändchen auf dem Kerbholz; also sehr verdächtig. Neben ihr ist die Mutter getötet worden. Auf Olga war Frau Lina Hau eifersüchtig. Und der Angeklagte will um keinen Preis gestatten, daß sie in die Sache hineingezogen werde. Wenn sie gar nichts zu fürchten hätte, wäre er nicht so ängstlich. Mit solchem Vorurtheil läßt sich operiren. Hat Olga geschossen? War sie im Komplot? Wollte sie den Schwager, der Schwager sie töten und traf die Kugel in irrendem Lauf die Mutter? Schweigt Hau, um Olga zu schonen? Schwört Olga, um ihren Karl nicht allzu schwer zu belasten, sie habe den Mörder, der doch dicht hinter ihr war, nicht deutlich gesehen? Die Mitschuld des Fräuleins wird kaum noch bezweifelt. Dann entschließt Hau sich zum Geständniß der Unschuld. Er hat Olga geliebt; mit allen Wesensfasern sich an sie geklammert, doch kein Aederchen seines Gefühles ihr je enthüllt. Nur um sie vor seiner Rückkehr in die Neue Welt noch einmal zu sehen, kam er heimlich, vermummt, mit fremdem Haupt- und Barthaar, nach Baden-Baden. Da der Plan mißlang, ist er hastig auf den Bahnhof gelaufen und nach London abgereist. Da habt Ihrs! Liebe; von der salomonischen Sorte, die stark wie der Tod ist. Hau unschuldig oder Olga mitschuldig: alles Andere ist Prokuratorenblech. Kein Wunder, daß Frau Lina im Pfäffiker See Ruhe suchte. Die Schwester hatte ihr den Mann abgespannt. Eine nette Pflanze. Eine, die Verse macht, pikante Bücher liest, in pariser Tingeltangel stiefelt; was der Bürger so eine Emanzipirte nennt. Der ist Mancherlei zuzutrauen. Schon während der Verhandlung wurde das Fräulein täglich von Insulten verfolgt. Als das Urtheil gesprochen war, heulte die Menge: »Nieder mit der rothen Olga!« Zwei Compagnien des badischen Leibgrenadierregimentes mußten, da die Polizeimannschaft nicht ausreichte, die Straßen räumen und kehrten erst gegen drei Uhr nachts in die Kaserne heim. Das hatte, in der sonst ruhigsten Residenz, die Allweisheit Oeffentlicher Meinung gewirkt.

Sie vermochte noch mehr. Interviews, lange Depeschen, Gutachten, Ergebnisse der Lokalinspektion, kriminalpsychologische Untersuchungen. Dumme Schwarzwaldbauern, hieß es zuerst, haben das Urtheil gesprochen; Leute, deren Hirn die Feinheit dieses Falles gar nicht ermessen konnte. Die gewöhnt sind, um Neun die Decke über den Kopf zu ziehen, und um ein Uhr nachts nun judiziren sollten. Wollt Ihr Geschworene? Ja. Dann dürft Ihr die Männer nicht mäkeln, die von Staatsanwaltschaft und Vertheidigung nicht abgelehnt worden sind. Daß ihre Berathung nach Mitternacht begann, war der Wille des Angeklagten, der den Vorsitzenden bat, die Sitzung nicht noch einmal zu vertagen. Vielleicht (ich weiß es nicht) hat eine Bauernmehrheit ihn verurtheilt. Von Rechtes wegen. Eine Mehrheit, gegen die der Vertheidiger nichts einzuwenden hatte. Und die ihren Tadlern laut sagen könnte: »Wir haben den Angeklagten und die Zeugen vier Tage lang gesehen und gehört; Ihr habt nur Zeitungberichte gelesen und seid mit all Eurer Stadtweisheit hier deshalb schlechter dran als wir ungebildeten Schollenkleber.« Zweiter Angriff. Aus welcher Entfernung hat der Thäter geschossen? Nicht einmal diese Kardinalfrage hat das Schwurgericht ernstlich erörtert; solche Lücken hat dieses Verfahren. Wir (öffentlich Meinende) behaupten, daß schon die Prüfung des Geschoßkegels die Unschuld Haus beweisen würde. (Wobei angedeutet wird, daß nur Jemand, der neben Frau Molitor ging, geschossen haben könne.) Antwort: Das Gericht hat über diese Frage zwei Sachverständige gehört; einen Geheimen Medizinalrath, der die Leiche obduzirt hatte, und einen zur Untersuchung herangezogenen Büchsenmacher. Beide haben ausgesagt, die Waffe müsse dem Leib der Frau Molitor sehr nah gewesen sein; der Abstand sei auf höchstens zehn Centimeter zu schätzen. Blieb hier, trotz Leichenschauprotokol und Gutachten, eine Lücke, so ist der Vertheidiger, der sie klaffen ließ, grober Pflichtversäumniß schuldig; der Gerichtshof braucht den Angeklagten nicht sorgsamer zu schützen als der von ihm bestellte Wächter. Mit Alledem war nichts Rechtes anzufangen. Auch nicht mit einem freiherrlichen Zeugen, der gesehen haben wollte, daß Olga ihre Mutter erschossen hat, aber zu schweigen bereit war, wenn das Fräulein sich entschlösse, seine Baronin zu werden. (Dieses Gefasel eines Erpressers oder Verrückten, dem die Mitgift selbst eine Mörderin heiligt, wurde Tage lang mit eiferndem Ernst beschwatzt.) Blieb immer nur der noble Versuch, Haus hübsche Schwägerin anzuschwärzen. Die! Daß sie gern mit Schußwaffen hantirte und stets einen Revolver bei sich trug, weiß in Baden-Baden jedes Kind. Mancher Mannbare, daß ihre Sexualität sie ins Gerede gebracht hat. Und ihr unkindliches Benehmen gegen die Mutter! Und Linas Eifersucht! Und zwei Zeugen, deren Aussagen Hau entlastet hätten, sind nicht vernommen worden: ein Friseur und eine Ladenbesitzerin. Alles wurde prompt depeschirt und in Sperrdruck veröffentlicht. Alles erwies sich als unwahr. Das Fräulein hat nie eine Schußwaffe in der Hand gehabt, nie einen Revolver besessen. Olgas Wandel ist unbescholten. Nach dem Zeugniß ihrer Geschwister und Schwäger war sie eine gute, zärtliche Tochter; kam mit der Mutter nie in schlimmen Streit. Alle vor Gericht festgestellten Thatsachen sprechen gegen den Verdacht, Lina sei auf die Schwester ernstlich eifersüchtig gewesen. Was als Aussage der nicht vernommenen Zeugen verbreitet wird, ist belanglos. Thut nichts. Vier Wochen lang steht ein wehrloses Mädchen am Schandpfahl.

Haus Vertheidiger hat gesagt, wenn sein Klient den Mord unter den von Ankläger und Gericht angenommenen Umständen ausgeführt hätte, müßte er ein Dummkopf sein, der sicher durchs »Raubmördervorexamen« gefallen wäre. Wir wollen uns nicht bei der Frage aufhalten, ob je ein Verbrechen ans Licht käme, wenn der Verbrecher nicht irgendwo von dem Pfad, den kluge Voraussicht ihm weisen mußte, gewichen wäre. Wir wollen nur fragen, wie die Intelligenz Olgas, wenn sie wirklich als Mörderin erkannt würde, eingeschätzt werden müßte. Könnte sie dann auch nur noch als zurechnungfähig gelten? Sie lebt mit der Mutter zusammen; Monate lang allein im Haus. Jeder mag sich ausmalen, was sie thun könnte, um eine alte Frau, die ihr im Weg wäre, sacht oder schnell aus der Zeitlichkeit zu spediren. Wir aber sollen glauben, sie habe die Mutter auf offener Straße niedergeschossen; sich also, als der That Nächste, verdächtig gemacht. Die Möglichkeit nicht erwogen, daß der Tod nicht sofort eintreten, die Sterbende mit Wort oder Geberde die Thäterin bezeichnen werde. Ein Laut noch, ein Gestus, ein Blick nur: Alles verloren. Wir sollen glauben, daß sie die grausige That, einen Muttermord, endgiltig beschlossen und ausgeführt habe, als Mamachen sie, wider Erwarten, aus einem Theekränzchen abgeholt hatte. Motive? Nicht das winzigste ist sichtbar. Haß? Mutter und Tochter lebten einträchtig mit einander. Liebe? Fräulein Molitor duzte den Schwager nicht einmal; verkehrte mit ihm in der Zone kühler Konvenienz. Nichts, was einen Roman ahnen, auch nur den kleinsten Verdachtsschatten aufkommen läßt; nichts (außer dem Gewink des Angeklagten). Trotzdem: ein Mädchen am Pranger.


Sind die Stützen des Schuldbeweises etwa so schwach, daß man an einen Fehlspruch glauben muß? Karl Hau war im November 1906 in enger Geldklemme. Hatte Linas Mitgift verthan, ein wiener Bankhaus um vierhundert Pfund zu prellen getrachtet und besaß nur noch ungefähr neuntausend Mark. Nicht viel für Einen, der mit Frau und Kind über den Ozean will und gewohnt ist, wie ein Dollarmillionär zu leben. Der die Frau mit Diamanten behängt, von feilen Paschas Osmanenorden erhandelt und den Leuten vorlügt, er werde als Delegirter der Vereinigten Staaten mit Coates auf die haager Friedenskonferenz gehen. Im Land raschen Gewinnes säckelt er wohl wieder was ein. Immerhin nicht so schnell, wie der deutsche Spießbürger glaubt, dem von Professur und Advokatur, von Riesengeschäften mit der russischen, peruanischen, türkischen Regirung die Ohren sausen. Ein Solicitor und Agent, wie es zwischen Pacific- und Atlantisküste Hunderte giebt. Eine Acquisition, Parteivertretung oder Agentenleistung bringt ein schönes Stück Geld; von zehn Schiffen, die gierige Hoffnung ausschickt, scheitern acht aber stets vor dem Hafen. Ein Prahlhans, der den Nabob spielt, ein Mädchen aus gutem Haus entführt, in den romantischen Plan eines Doppelselbstmordes geschwatzt, angeschossen, erst unter dem Zwang harter Drohung geheirathet und dem Kind dieser Ehe Syphilis vererbt hat. Der nur noch zweitausend Dollars besaß und dem ein Checkschwindel mißlungen war. Panzert des Wesens hehre Reinheit solchen Mann gegen jeden Verdacht? Er konnte das Vermögen der Schwiegermutter, den Erbtheil der Frau überschätzen; konnte hoffen, die sorglose Schwägerin werde ihm, Lina zu Liebe, das Ererbte ins rentable Geschäft geben. Oft haben minder starke Motive zu Mord und Totschlag getrieben. Weiter. Am sechsten November ist Frau Molitor in Baden-Baden getötet worden. Am sechsten November war Karl Hau in Baden-Baden. Heimlich. Seiner Frau hatte er das Ziel der Reise verborgen; sie verpflichtet, keinem Menschen zu sagen, daß er auf dem Kontinent sei. Für die Fahrt Kopf und Wangen mit falschem Haar bedeckt. In dieser Vermummung wurde er bei der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen. Er hat sich am Telephon für einen Postbeamten ausgegeben und die kränkelnde Frau Molitor, gegen ihren Willen, zu dem Wege genöthigt, von dem sie nicht wiederkam. Gleich nach dem Mord ist er mit dem nächsten Zug weggefahren; hat den Klebebart abgerissen, Perrücke, Hut und Mantel in den Aermelkanal geworfen. (Ein paar Tage vorher hatte er die alte Dame, deren krankem Herzen jähe Aufregung verhängnißvoll werden konnte, mit einer gefälschten Alarmnachricht bei Nacht und Nebel nach Paris gelockt.) Als er verhaftet wird, stellt er sich wahnsinnig, leugnet dann Alles und läßt sich erst von der Nothwendigkeit zu halbem Geständniß drängen. Das Alles ist erwiesen. Motiv? Liebe. Ein mit allen Yankeesalben geschmierter Agent fährt von London maskirt in den Schwarzwald, um von der heimlich Angebeteten Abschied zu nehmen. Er könnte ihr auflauern, sie getrost auf dem Weg zum Vesperthee ansprechen. Nein. Er scheucht ihre Mutter aus dem Haus. Will er etwa hinein? Der Diener würde ihn erkennen; mindestens die Maskerade merken. Und Olga wäre in der Wohnung nicht zu finden. Aber nehmen wir an, er fände sie. Sein Plan gelänge. Er spräche mit Olga, während Frau Molitor im Postbureau ist. Dort erführe sie, daß kein Beamter sie gerufen habe; auch, wie der Mann aussah, der sich ihr am Telephon für einen Beamten gab. Mit dieser Kunde käme sie zurück: und müßte von Olga hören, daß der Vermummte ihr lieber Schwiegersohn war. Das Fräulein hätte nicht den geringsten Grund, die freche Täuschung der Mutter zu verschweigen. (Zwiefache Täuschung: denn der Telephonfälscher war nun ja auch als Depeschenfalscher entlarvt.) Die Postdirektion würde den Vorgang der Staatsanwaltschaft anzeigen. Paragraphen 132 und 360 11 des Strafgesetzbuches. Anmaßung eines Amtes und Grober Unfug. Vernehmung der Damen Molitor. Skandal, der das süße Geheimniß in Aller Mund und den verliebten Fant ins Gefängniß oder Haftlokal brächte. So konnte es kommen, wenn der Plan gelang; mußte. Dazu Perrücke und Mastixbart? Das sollen wir glauben? Dem Luetiker, der am fünften Novemberabend, wenige Stunden vor dem ersehnten Wiedersehen, den Hotelportier nach Lustmädchen fragt, zutrauen, keusche Herzenswallung habe ihn über den Kanal gejagt? Dieses läppische Märchen einer Gouvernantenseele soll uns bethören? Kinder und welke Jungfern. Ein Indizienbeweis kann kaum stärker sein als der in Karlsruhe erbrachte.

Monate lang hat er Allen genügt. Drei der Familie Molitor Angehörige hielten, in verschiedenen Städten, ohne die Möglichkeit einer Verständigung, Hau von vorn herein für den Thäter. Das allein gäbe zu denken. Ueberlegt, wie das Wesen eines Schwagers auf Euch gewirkt haben müßte, dem Ihr, ehe noch irgendwelche Indizien gegen ihn zeugen, die Ermordung seiner Schwiegermutter zutraut. Frau Lina war von Haus Schuld überzeugt und drängte den angeklagten Mann zum Selbstmord. Weil er getändelt hatte? Deshalb wollte diese Frau, deren Umsicht und Wesenstüchtigkeit von jedem Wort ihrer Briefe und ihres Testamentes erwiesen wird, nur deshalb ihn in eine That treiben, die den letzten Zweifel an seiner Mörderschuld beseitigen und ihrem Kind, einem kranken Mädchen, den Vater nehmen mußte? Lina bat die Schwester, vor Gericht nicht auszusagen. Warum, wenn sie den Mann nicht für schuldig hielt? In dem selben Brief der Frau steht der Angstruf: »Wenn er nur um Gottes willen nicht den Schuß gesteht!« Sie weiß: er hat geschossen; hofft aber noch, der Beweis werde nicht zu führen sein. Drei Monate nach der That; als sie Karl im Gefängniß gesehen und gesprochen hat. Eifersüchtig auf Olga? So eifersüchtig wie manche mit krankem Uterus alternde Frau auf die jüngere Schwester, deren Leib frischer, deren Geist beweglicher ist. Da fällt wohl einmal ein spitzes Wort. (Ueberlegt, liebe Damen, ob Ihr nie zu Eurem Männchen gesagt habt: »Die gefällt Dir wohl besser als ich? Mit Der lasse ich Dich nicht allein. Der machst Du ja ganz höllisch den Hof.« Ueberlegt, obs furchtbar ernst gemeint war und wie in der Akustik eines Schwurgerichtssaales die Wiedergabe wirken würde.) Von leidenschaftlicher Eifersucht kann nicht die Rede sein. Der Rivalin, vor der sie aus dem Leben flieht, würde eine Frau nie ihr Kind vermachen. Linas letzter Wille bestimmt: Olga soll des Kindes Mutter sein; das Kind soll den Namen des Vaters ablegen, nie in der Familie leben, aber den Verurtheilten, wenn er nach fünfzehn Jahren aus dem Gefängniß komme, mit kleinen Beträgen unterstützen. (Daß Hau sich mit dem Rest seiner Kraft gegen die Verlesung dieses Testamentes wehrte, ist leicht zu verstehen.) Linas letztes Wort sprach der Schwester Olga herzlichen Dank aus. Genügts? Lina hat sich vergiftet und ertränkt, weil sie in ihrem Mann den Mörder ihrer Mutter sah und nicht den Muth fand, »die Schmach zu überstehen, die über mich und mein Kind gebracht worden ist«. Das ist bewiesen. So fest ist das Gebälk, das den Spruch trägt. Noch mehr ward erwiesen. Fünf Monate nach dem Mord hielten zwei zum Gutachten berufene Psychiater, hielt auch der Vertheidiger den Angeklagten für schuldig. Als im Gerichtssaal behauptet wurde, der Vertheidiger habe am zwölften April Haus Sache für aussichtlos erklärt, weil das Gutachten des Professors Hoche die Hoffnung enttäuscht habe, kam der Rechtsanwalt aus dem Häuschen. Unerhört! Dieses Gutachten habe er ja erst am siebenzehnten Mai erhalten; konnte also am zwölften April noch nicht Schlüsse daraus ziehen. Wirklich nicht? Am zwölften April hat er an Frau Lina geschrieben: »Das Gutachten des Geheimrathes Hoche wird, wie er mir bereits mittheilte, dahin ausfallen, daß er Karl Hau für vollständig zurechnungfähig halte; und ich kann nur hoffen, daß die von uns zusammengetragenen Momente in der Verhandlung so viel ergeben, daß eine verminderte Zurechnungfähigkeit angenommen werden kann, wobei ich auf Professor Aschaffenburg rechne, und daß dann entweder die Geschworenen die Ueberlegung verneinen, so daß nicht eine Verurtheilung zum Tode, sondern nur zu einer Freiheitstrafe erfolgen kann, oder doch wenigstens der sichere Boden für eine Begnadigung geschaffen wird.« Am letzten Verhandlungtag sagte der Vertheidiger, sein Klient habe auf jeden Erbanspruch verzichtet und dürfe schon deshalb nicht als ein geldgieriger Mörder verurtheilt werden. Wann hat Hau verzichtet? Sechs Monate nach dem Mord; als er im Untersuchungsgefängniß saß und seine Sache für verloren hielt. Am selben Tag erzählte der Vertheidiger, Professor Aschaffenburg habe niemals, nicht eine Minute lang, an Haus Unschuld gezweifelt. Professor Aschaffenburg hat am zwölften April, also im fünften Monat der Untersuchunghaft, an Frau Lina geschrieben: »Es würde für Sie zweifellos eine außerordentliche Erleichterung sein, wenn Sie an Ihren Mann mit dem Bewußtsein zurückdenken könnten, daß er die furchtbare That in Folge seiner geistigen Erkrankung begangen hat.« Als er diesen Brief schrieb, hatte Professor Aschaffenburg an Haus Schuld also keinen Zweifel. Am zweiundzwanzigsten Juli nannte der Vertheidiger die Anklage ein jämmerliches Kartenhaus, das der schwächste Windstoß umwerfen müsse. »So kläglich, so traurig war noch nie ein Indizienbeweis wie der vom Staatsanwalt hier versuchte. Wenn Sie, meine Herren Geschworenen, auf Grund dieses Indizienbeweises als Schöffen meinen Klienten wegen unerlaubten Schießens zu drei Mark Geldstrafe verurtheilen sollten: Sie würden dem Amtsanwalt ins Gesicht lachen, Sie müssen den Mann freisprechen. Mit dem Leben eines Menschen darf man nicht so spielen, wie es hier geschehen ist.« Am zwölften April hat der selbe Vertheidiger, der den Angeklagten oft gesehen und seit fünf Wochen auch die Zeugenprotokole durchstudirt hatte, an Frau Lina geschrieben: »An eine Freisprechung ist nach der heutigen Sachlage nicht zu denken. Ihr Mann giebt sich natürlich über den Ernst der Situation keiner Illusion hin. Das Gefühl, daß seine Angehörigen und Freunde, trotz Allem, was geschehen ist, ihn nicht im Stich lassen, fängt allmählich an, einen günstigen Einfluß zu üben. Man kann damit rechnen, daß ihm nach Ablauf einiger Jahre die Freiheit wiedergegeben wird; und bei seiner Jugend und seinen Fähigkeiten wird er dann doch wieder in der Lage sein, sich eine Existenz zu schaffen.« Nicht der leiseste Zweifel an Haus Schuld. Nur die Hoffnung, die Verurtheilung zum Tod hindern und nach ein paar Jahren vom Großherzog Begnadigung erwirken zu können. Das ist das jämmerliche Kartenhaus der Anklage. So sieht der Vertheidiger die Sache. Genügts endlich?

Nein, sagt der Herr Anwalt des Rechtes. Was ich damals schrieb, beweist gar nichts; denn damals kannte ich eben Haus Beziehungen zu Olga noch nicht. Gut, Herr Rechtsanwalt. Aus Ihren Aprilbriefen muß der Unbefangene herauslesen, der Angeklagte habe Ihnen seine Schuld nicht gehehlt. Kein Wort deutet an, daß er sie leugne. Er giebt sich keiner Illusion hin. Ist seiner Frau »für die Güte und Liebe, gegen die er sich so schwer vergangen hat, von Herzen dankbar.« Ruhiger, seit er weiß, daß Verwandte und Freunde, »trotz Allem, was geschehen ist«, ihn nicht im Stich lassen. Sie selbst sagen, an Freisprechung sei nicht zu denken; hoffen nur auf die Hilfe der Psychiater, die das Urtheil mildern und nach nicht zu langer Frist die Begnadigung ermöglichen werde. Die werde der Staatsanwalt freilich wohl erst empfehlen, wenn »ein glattes Geständniß vorliegt«. Hofften Sie auch darauf? So scheints. Sie wissen ja, daß gegen den Widerspruch der Staatsanwaltschaft die Anwendung des Gnadenrechtes kaum je zu erwirken ist. Sie schreiben: »Darüber, wie das Verhalten Ihres Mannes in der Hauptverhandlung einzurichten sein wird, sind wir noch nicht im Reinen.« Seltsam. Das Verhalten eines unschuldig des Mordes Angeklagten kann doch keinen Tag lang zweifelhaft sein. Sind sie nachher ins Reine gekommen? Waren die Rollen etwa so vertheilt, daß der Mandant den verschwiegenen Amoroso zu mimen, der Mandatar mit keckem Winkwort aufs Ganze zu gehen hatte? Das dürfen wir nicht annehmen. Auch nicht, daß Sie ein »glattes Geständniß« gehört haben. Das ist selten. Schweigen kann sehr beredt sein; und schließt doch keine Thür, die ins Freie führen könnte. »Sie haben mein Schweigen, meine Seufzer und Thränen für ein Schuldbekenntniß genommen? Das war ein Irrthum. Ich habe mit dem Verbrechen nichts zu thun.« Dann citirt der Herr Vertheidiger leise seinen Ulpian: »Cogitationis poenam nemo patitur«; und freut sich der Zollfreiheit seiner Gedanken. Wenn der Klient, der schlaue Kollege aus Washington, unter vier Augen auf Ehre und Gewissen aber seine Unschuld betheuert hätte: wäre Ihnen dann im fünften Monat des Vorverfahrens die Sache so hoffnunglos erschienen? Hätten Sie dann der Frau des Angeklagten gesagt, an Freisprechung sei nicht zu denken? Doch ich habe nicht das Recht, einen Indizienbeweis gegen Sie zu führen; weder Beruf noch Lust. Zurück zu den Hammeln des Kollegen Patelin. Voilà. Sie kannten Haus Beziehungen zu Olga im April noch nicht. Kennen sie aber jetzt. Was ist damit? Einstweilen wissen wir nur, daß Frau Lina auf die Schwester nicht immer gut zu sprechen war; sich neben der sechs Jahre jüngeren Olga verwittert fand; dem Mann, dem sie ihren kranken Leib längst versagen mußte, Flirtgelüsten zutraute; und einmal geschrieben hat: »Olga ist ein netter Käfer. Sie ist hübsch und kann sehr interessant sein. Ich habe ein Bischen Angst vor ihr.« Das ist nicht viel. Nicht mehr, als täglich in den besten Familien vorkommt. Sie müssen ganz Anderes wissen. Sonst dürften Sie nicht auf das Fräulein als auf eine des Mordes Schuldige oder Mitschuldige deuten. Worauf stützt sich Ihr Verdacht? Sicher nicht auf die morsche Laienmeinung, Olgas (zweimal beeidete) Aussage, sie habe den Schützen nicht deutlich gesehen, müsse falsch sein. Sechs Uhr abends im November. Die Damen plaudern. Der Mörder schleicht oder springt heran. Ein Schuß: die Mutter stürzt. Ists nicht natürlich, daß die Tochter zuerst auf die Verwundete, Sterbende blickt? Und kann nach diesem Augenblick der fliehende Mörder nicht schon so weit weg sein, daß nur der Kontur im Dunkel noch zu erkennen ist? Könnte die unklügste Haltung, das wirrste Wort Olgas in der Minute solchen Erlebens auffallen? Ein Mädchen, das neben sich die Mutter verbluten sieht: und man fordert Ueberlegung, heischt bedachtsames Handeln! Ihr Glaube, Herr Rechtsanwalt, ruht gewiß auf festerem Grund. Um die Prozeßsensation zu verlängern und, nach der im Schwurgerichtssaal erlittenen Schlappe, Ihrem Namen geschwind ein Weltrühmchen zu haschen, können Sie an dieser Schändung ja nicht mitgewirkt haben. Kennen Sie D'Aguesseau? Reformator des französischen Rechtes; hat die Bulle Unigenitus und Laws Aktienschwindel bekämpft; als Antipapist und Antikapitalist also Ihr Mann. Der hat gesagt: »Die Advokatur ist so alt wie das Richteramt, so rein wie die Tugend, so nothwendig wie die Gerechtigkeit.« Kennen Sie Beaumarchais? Der ließ, zwanzig Jahre nach dem Tode des Kanzlers D'Aguesseau, seinen Figaro einem Rabulisten vor Gericht zurufen: »Continuez à déraisonner, mais cessez d'injurier! Lorsque, craignant l'emportement des plaideurs, les tribunaux ont toléré qu'on appelât des tiers, ils n'ont pas entendu que ces défenseurs modérés deviendraient impunement des insolents privilégiés. C'est degrader le plus noble institut.« Wie denken Sie über die Advokatur im zwanzigsten Jahrhundert, gefeierter Herr Rechtsanwalt?


Schnell wieder ins Sachliche. Wollt Ihr, daß Morde gesühnt werden? Ja. Laden die Herren Mörder Zaungäste an den Ort der That? Nein. Soll der Grundsatz der freien Beweiswürdigung weitergelten, das Gericht, Gelehrte und Laien, über das Ergebniß der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung entscheiden? Ja. Oder wollt Ihr wieder Beweisregeln schaffen, Normen, die bündig bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Thatsache als erwiesen anzusehen sei? Den Paragraphen 260 der deutschen Strafprozeßordnung etwa durch die Vorschrift der Karolina ersetzen, die den nicht geständigen Angeklagten durch den Augenschein oder durch »zwei oder drei glaubhaftige gute Zeugen, die von einem wahren Wissen sagen«, überführt sehen will? Nein. Habt Ihr erfahren, daß der direkte Beweis (durch das Zeugniß fehlbarer Menschen) eben so große Mängel hat, eben so leicht trügen kann wie der Indizienbeweis? Ja. Bleibt also auf dem Boden unseres Kriminalrechtes? Dann sind wir einig. Keiner von uns kann beschwören, daß Karl Hau seine Schwiegermutter gemordet hat. Doch ungemein starke Indizien weisen auf seine Schuld. Geldmangel, Prahlsucht, Hang zur Lüge und zu üppigern Leben; heimliche Reise, falsche Depesche, falscher Bart, falscher Telephonruf; er ist an der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen worden; war vermummt und hat Frau Molitor auf den Weg gelockt, wo die Kugel sie traf; hat dann simulirt und geleugnet. Die Frau hielt ihn für schuldig, ging aus der Schmach in den Tod und sorgte mit letzter Kraft für die Tilgung jeder Gemeinschaft zwischen diesem Vater und seinem Kind. Schwägern und Schwägerinnen gilt nur er als der Mörder. Daß ers ist, dünkt selbst seinen Vertheidiger fast ein halbes Jahr lang völlig gewiß. Was er zur Erklärung seines Handelns vorbringt, ist ein schlechter Toggenburgroman; zu schlecht und kindisch für solchen Schlaukopf. Wäre aber als ein feines Gespinnst zu loben, wenns das Haupt eines Schuldigen schützen sollte. Denkt Euch für fünf Minuten in dessen Lage. Eitelkeit hat ihn (der sich der Ehefrau für den Sohn eines Millionärs ausgab) über den eigenen Reiz, die eigene Geltung im neuen Familienkreis getäuscht. Ihn, dünkelts in seinem Hirn, wird Keiner verdächtigen. Die Alte hat ein schweres Herzleiden; vielleicht wirft schon die Schreckdepesche (»Olga erkrankt; schnell nach Paris kommen«) sie um. Noch nicht? Dann muß man derber nachhelfen. Kein Mitwisser. Kein ernstlich zu fürchtender Belastungzeuge. Die Familie sucht sicher auf anderer Spur; und Linas Liebe kämpft tapfer wohl wider jeden Zweifel. Gelingts, dann hat Karl wieder Betriebskapital und kann in Pennsylvania Avenue weiterprotzen. Und muß es nicht gelingen? Olga ist zum Thee geladen. Die Alte geht also allein. Warten, bis die Luft rein ist; nach vollbrachter That durch den Novembernebel rasch in den frankfurter Zug. Undenkbar, daß es ans Licht kommt. Kommt aber. Alle Hoffnungen schmelzen im ersten Schnee. Was bleibt? Nur der Versuch, sich in ein Erotenmysterium zu retten. Klarheit ist Tod; nur im Dunkel der Kopf zu bergen. Ein verliebter Narr, den, da er die Traute beschleichen wollte, das Schicksal mit grausamer Tatze in blutrothe Wirbel stieß. Was blieb sonst? Geständniß? Dann endet er auf dem Block oder, mit verseuchtem Leib, früh im Zuchthaus. Starres Leugnen? Wirkt nicht. Noch muß er auch fürchten, daß Olga, die wider Erwarten mitging, ihn erkannt hat. Der schmeichelts wohl ein Bischen, wenn sie als keusch angeschwärmtes Idol so vor der Nachbarschaft stolziren darf: und sie zeigt sich an der Barre freundlich. Und er hat ja keine Wahl. Versteht Ihr ihn? Jetzt stimmt Alles. Wird auch der Wunsch begreiflich, die Nacht vor der Blutarbeit im Arm eines gemietheten Mädchens zu verbuhlen. Der beau geste des diskreten Ehrenmannes. Die ganze Taktik vor und nach dem Geständniß der Unschuld. Er war »über seine Haltung im Reinen«. Ist Euch dieser Indizienbeweis zu schwach, dann bescheidet Euch, von zehn Morden neun ungesühnt zu lassen.

Das Motiv zum Mord scheint dem Betrachter nicht stark. Schien oft, bei manchem überführten Verbrecher, noch viel dünner. Beispiele bei Feuerbach, im Pitaval und in den Zeitungen. Beginnt mit diesem Fall eine neue Aera der Kriminalistik? Wird fortan ein Motiv verlangt, das ruhig wägender Vernunft genügt? Dann muß es Freisprüche regnen. Vor der erbrochenen Ladenkasse eines Grünkramhändlers wird ein Mann gefunden; in seiner Tasche ein Stemmeisen. Festgestellt wird, daß er zwei Stunden vor dem Einbruch den Bart abgeschnitten und das Haar gefärbt hat. Einbrecher? »Ich bin Chauffeur, verdiene hundert Mark im Monat: und sollte Freiheit und Ehre auf dieses Nickelhäuflein gesetzt haben?« Sprecht den Mann frei. Oder entschließt Euch, wie bisher die indicia auch ohne zureichendes Thatmotiv gelten zu lassen. Ein Blinder, meinten allerlei Zaunkriminalisten, müsse ja merken, daß Hau ein Geheimniß verberge. Daß er den Schein schuf, ist gewiß. Ob er wirklich eins verbarg, kann ich niemals errathen. Muß ichs denn, um mir ein Urtheil zu bilden? Nein... Ja! Wer ruft mir? Eine Stentorstimme. Des Vertheidigers. Der hebt nun wieder an. »Mit diesem Klienten war es eben nicht wie mit den alltäglichen. Der wollte nicht sich retten, sondern einen Anderen decken. Der verbot mir die besten Entlastungbeweise. Verbot, die wichtigsten Sachverständigen noch einmal vernehmen zu lassen. Und da er die Tragweite seiner Beschlüsse und Verbote klar erkannte und wußte, daß es um seinen Kopf ging, ließ ich ihn gewähren.»Mit Recht. Denn: Alles spricht gegen den Mann. Sein Handeln am sechsten November und nach der Verhaftung. Das Zeugniß der Lebenden und Toten. Und er will nicht entlastet sein. Aber auch nicht verurtheilt. Man soll seinem ehrlichen Gesicht glauben, daß er am sechsten November ein fast beispielloses Pech gehabt hat, unschuldig ist und einen Anderen deckt. Den nennt er aber nicht. Läßt Alles im schwärzesten Dunkel. Diskretion Ehrensache. Das kann ungeheuer edel sein. Aber auch ungeheuer bequem. Der ungeheuer Edle mußte sich auf ein Todesurtheil gefaßt gemacht haben. Ihr Klient findet das Urtheil unbegreiflich. Und beantragt die Revision. Ist die Geschichte nicht zu dumm? Man opfert sich oder wehrt sich seiner Haut. Hier ist Einer, der sich opfern will, aber staunt, da man ihm, dem des Mordes Beschuldigten, mehr zumuthet als neunmonatige Untersuchunghaft. »Todesurtheil? Ich bin ja unschuldig. Mein Geheimniß nehme ich mit ins Grab. Gebe Euch aber nicht das Recht, mich ins Grab zu stoßen. Ich will leben, in Freiheit, versteht sich, will schweigen und frage den Teufel nach Eurer verschimmelten Jurisprudenz und Eurem altmodischen Sühnbedürfniß.« Ecce Hau. Ein Vierschrötiger geht mit einer Frau in einsamen Wald und kehrt allein zurück. Der Leichnam der Frau wird gefunden. Der Vierschrötige verhaftet. Er hat Blutflecke an den Hosen und im Portemonnaie den Trauring der Frau. Mörder? Wo denkt Ihr hin? »Ich gebe zu, daß ich verdächtig scheine, bin aber unschuldig. Ich habe der Frau kein Haar gekrümmt. Hatte nicht den geringsten Grund, sie aus der Welt zu schaffen. Mehr sage ich nicht.« Würde nicht jeder Gerichtshof den Mann verurtheilen ? Seine Diskretion für eine Nothausflucht halten? Noch in der Marxistengesellschaft; jeder.

Hexenhammer.

Herr Karl Hau soll mit anderem Maß gemessen werden. Ist Solicitor, heißt Professor gar und kommt aus der Weißen Stadt Washingtons und Roosevelts. Davon kann man träumen. Und dann war Liebe im Spiel. Ein süßes, schmerzlieh süßes Geheimnis. Meinetwegen. Ich bin nicht neugierig. Ich sehe, daß hier judizirt worden ist, wie im Deutschen Reich täglich judizirt wird. Sehe einen ungewöhnlich starken Schuldbeweis, der nur entkräftet werden könnte, wenn ein Mädchen des Mordes schuldig befunden würde. Hau ein ritterlicher Held, Fräulein Olga Molitor Mörderin, Anstifterin, Helferin: vor diese Wahl stellt man uns. Bis hierher war die Geschichte dumm; hier wird sie gemein. Hundert Indizien deuten auf Hau. Gegen das Fräulein ist nirgends ein haltbarer Verdacht vorgebracht worden. Von Keinem. Noch am letzten Morgen der Hauptverhandlung mußte Jeder glauben, Haus Vertheidiger wittere in dem Diener Karl Wieland den Mörder. Hatte sein Mandant ihm seitdem Neues anvertraut, so mochte es für die Wiederaufnahme des Verfahrens verwerthet werden. Wars nur für den Busen des Beichtigers bestimmt, dann mußte der Herr Rechtsanwalt es da lassen. Das Gewink und Gemurmel ist eine Schmach. Erspart uns die Haubiographien und Hauhymnen, makulirt ohne Säumen Eure Psychologenversuche: und sorgt dafür, daß ein Mädchen nicht mißhandelt, bis aufs Hemd entkleidet und von schmutzigen Mäulern bespeichelt werde. Das Geheimniß des Herrn Hau konnte mich erst kümmern, wenn er die Gnade hatte, es zu entschleiern; bis dahin mußte ich vermuthen, daß es eine Flunkerfinte sei. Die Mädchenschändung aber ist für Jeden, der eine Frau oder Mutter, Schwester oder Tochter liebt, eine verdammt ernste Sache. Sind wir wirklich, wie Fromme oft zetern, bis zur Verthierung herabgekommen? Tiefer? (Im Thierreich werden die Weibchen ja beschützt.) Im Prozeß Peters ist, auf Anordnung eines Hohen Gerichtshofes, eine Dame gezwungen worden, die intimsten Herzensangelegenheiten ihrer ersten Jugend dem lieben Götzen »Oeffentlichkeit« preiszugeben; unter ihrem Eid über Gefühle und Beziehungen auszusagen, die nicht das loseste Fädchen an den Prozeßstoff band. Von Rechtes wegen. Niemand hat die unnützliche Härte solches Verfahrens gerügt. In und nach dem Prozeß Hau wird eine Dame, die beschworen hat, nichts für die Thatfrage Erhebliches verschwiegen zu haben, beschnüffelt, bespien, eines Kapitalverbrechens verdächtigt. Ein Brite hat in einem Buch über Deutschland neulich gesagt, in diesem Reich behandle man die Frau schlechter als anderswo; die noble Empfindung der Ritterzeit sei nur im Offiziercorps und in einem Teil der Studentenschaft zu spüren. Fräulein Olga Molitor hat Arges erlebt. An ihrer Seite ist die Mutter gemordet worden. Die Schwester hat sich ertränkt. Der Vater des siechen Mädchens, das Lina der Schwester hinterlassen hat, soll geköpft oder auf Lebenszeit ins Zuchthaus gesperrt werden. Eine Katastrophe, die nur ein kräftiger Körper und ein starkes Herz überstehen kann. Das Fräulein hat geschworen: Ich habe mit all diesen furchtbaren und traurigen Dingen nichts zu thun. War mit Schwager Karl nie irgendwie intim. Nannte ihn Mr. Hau. Sah in ihm stets den Mann meiner Schwester. Wußte nichts von seiner heimlichen Reise. Weiß nichts von dem Mordplan. Zweimal hat sies beschworen. War ihre Aussage fahrlässig oder gar wider besseres Wissen unwahr? Der Beweis ist nicht einmal versucht worden. Aber der Pöbel johlt: »Nieder mit der rothen Olga!« Droht ihr mit Knüppeln ins Wagenfenster und ängstet sie hinter eine Polizistenhecke. Die Gebildeten treibens sanfter; doch auch gefährlicher. Auf allen Lippen, in allen Blättern: Olga Molitor. Ob sie noch hübsch ist. Schlank oder rund? Hüften? Roth oder blond? Sinnlich oder jungfernhaft kühl? Was man unter Pastorstöchtern so »frei« nennt? Schlimme Bücher hat sie ja gelesen; mindestens also gern mit dem Feuer gespielt. Und ihre Gedichte! Gar nicht druckbar. Ob sie selbst geschossen oder den Schwager angestiftet hat? War er ihr erster Flirt? Ist ihr die That oder Mitwisserschaft zuzutrauen? Jedes Zufallswörtchen, das im Wohnzimmer oder in der Gesindestube je über sie gesprochen wurde, wird jetzt weitergetragen; meist wohl vergröbert. Wohin sie geht: ihr Name ist bekannt; ist gevehmt. Jeder kennt die Bilanz ihres Vermögens, ihres Erlebens. Weiß sogar, daß sie erst seit dem Tod ihrer Mutter seidene Unterröcke trägt. Wer führt ein so weltbekanntes Bürgerfräulein (das höchstens sechstausend Mark Rente hat) zur Ehe ins Haus? Auf die Gefahr, überall, im Salon und im Theater, hinter seinem Rücken zischeln zu hören: »Ach, die Molitor?«... Ists noch nicht genug? Ein Verbrechen wäre mit dem Schicksal eines unter giftigem Anhauch alternden Mädchens fast schon gesühnt. Dem Pöbel ist Olga das Scheusal von den Lindenstaffeln. Der guten Gesellschaft eine vielleicht recht interessante, doch mit Vorsicht zu genießende Dame. Warum? Weil sechs, acht große Meinungdresseurs dem geilen Hundstagshunger einen Jungfrauenleib in den Käfig geworfen haben.


Herodot erzählt: »Wenn der Skythenkönig erkrankt, läßt er die angesehensten Wahrsager ins Schloß kommen und fragt sie nach der Ursache seines Leidens. Die nennen dann Einen, der beim Herde des Königs falsch geschworen und so die Krankheit herbeigerufen habe. Dieser Mensch wird allsogleich verhaftet. Leugnet er den Meineid, so läßt der König neue Wahrsager kommen. Spricht die Mehrheit den Angeklagten schuldig, so wird er geköpft. Zeugt die Mehrheit für ihn, so werden die Wahrsager hingerichtet, die zuerst zum Urtheil berufen waren.« Graues Alterthum roher Skythen. Karl der Große sah die Welt schon aus hellerem Auge. Er hat den Beschluß der Synode bestätigt, die für Recht erkannt hatte: »Wer, vom Teufel verblendet, ein Weibsbild für eine Hexe und Menschenfresserin hält und deshalb verbrennet, soll des Todes sein.« 785. Nach tausend Jahren sind wir viel weiter. Der Hexenhammer gilt nicht mehr. Hexenbad und Hexenwage sind des Landes nicht mehr der Brauch. Höchstens noch die Thränen- und die Nadelprobe. Eine, der auf der Folter das Auge trocken bleibt und deren Haut nicht blutet, wenn die Male und Narben ihres nackten Leibes mit spitzen Nadeln durchstochen werden: Die ist gewiß eine Hexe. Wir sind modern. Die Kirche ist machtlos. Der König hinter goldenem Gitter. Die Folter abgeschafft. Der Henker ein Popanz. Ueber uns waltet, allmächtig, doch mild, nur die Oeffentliche Meinung. Und morgens und abends labt uns ihr Segen den Sinn.


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