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Moritz Levy.

Konitz, die armsälige westpreußische Kreisstadt, hat im Jahr 1901, am sechzehnten Februarabend, ein die Gemüther der Mehrheit froh stimmendes Volksfest erlebt. Ein Mensch war verurtheilt worden, vier Jahre lang im Zuchthaus zu faulen und, wenn er lebendig herauskommt, danach vier Jahre der bürgerlichen Ehrenrechte beraubt zu sein; ein junger, noch nicht dreißigjähriger, bisher unbescholtener Mensch. Und seine Mitmenschen jubelten. Als der Verurtheilte heulend zusammensank, lachten sie laut; als er abgeführt wurde, riefen sie ihm zu, man sei noch zu mild mit ihm verfahren, viel zu mild, denn eigentlich habe er zwanzig Jahre Zuchthaus verdient. Die so thaten, waren Christen und gewiß nicht weniger fromm als der Vorsitzende und der Staatsanwalt, die den Lieben Gott recht oft in ihren Schwurgerichtssaal bemühten. Doch stärker als das mitleidige Regung heischende Christengefühl war in ihnen wohl der Haß gegen den Missethäter. Der war früher zwar im Städtchen beliebt gewesen. Eines jüdischen Schlächtermeisters Sohn, der dem Vater als Geselle half, beim Bierskat seinen Mann stand, durch gesellige Talente in der Kneipe und am Familientisch sich hervorthat und von den Mädchen, auch den rein arischen, recht gern gesehen ward. Diese behagliche Stellung verlor er erst nach der Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter. Auf die Schlächterfamilie Levy wurde seitdem mit anklagendem Finger gewiesen; sie habe, hieß es, Ernst Winter in ihren Fleischkeller gelockt und, um sich Christenblut zu verschaffen, nach allen Regeln des Ritus geschächtet. Und als nun in einem der konitzer Prozesse Moritz Levy als Zeuge vernommen und gefragt wurde, ob er Winter gekannt habe, da schwor er: Nein, ich habe ihn nicht gekannt. Noch zweimal wurde er unter dem Eide danach gefragt; immer wiederholte er: Nein; es ist nicht unmöglich, daß ich mit ihm, wie mit vielen Gymnasiasten, einmal gesprochen habe, bewußt aber habe ich ihn nicht gekannt. Der Schlächtergeselle wurde verhaftet, des dreifachen Meineides angeklagt und von den Geschworenen nach ganz kurzer Berathung schuldig gesprochen. Am Liebsten hätten die Konitzer illuminirt. Vielleicht thaten sies nur nicht, weil der Gerichtshof nicht auf das höchste zulässige Strafmaß erkannt hatte.


Die Berichte über die Hauptverhandlung waren lesenswerth. Ein Kulturbild und ein Bild deutscher forensischer Sitten am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In Konitz scheint den Gymnasiasten der Studentenrang eingeräumt worden zu sein. Da werden diese Knaben in Wirthshäuser mitgenommen, zum Bier und zum Kartenspiel, da bändeln sie mit unbescholtenen und bescholtenen Mädchen an und Niemand wundert sich, wenn er hört, daß Tertianer oder Untersekundaner in dichten Grüppchen allabendlich die Thür eines Nähmaschinengeschäftes belagern, wo ein auffallend hübsches Ladenfräulein angestellt ist. Dieser Heldenschaar Flügelmann war Ernst Winter. Der körperlich sehr entwickelte, geistig zurückgebliebene Schüler soll mit Christen- und Judenmädchen geschlechtlich verkehrt haben und den paar Winkelprostituirten der Kreisstadt ein guter Kunde gewesen sein; sicher ist, daß er die Gewohnheit hatte, ein sittenpolizeilich kontrolirtes Frauenzimmer auf der Straße zuerst zu grüßen. Wäre er lebend je irgendeines Vergehens beschuldigt worden, dann hätte der Ankläger ihn wahrscheinlich einen faulen, lüderlichen, moralisch verkommenen Burschen genannt, der auf seines ehrbaren Vaters greises Haupt Schmach und Schande häufe. Nun ist er tot; und nun tauchte im Plaidoyer sein Schatten als der eines »unschuldigen Jünglings« auf. Dieses Plaidoyer war überhaupt merkwürdig. Die Preußenfeier und der Hohe Orden vom Schwarzen Adler wurde darin erwähnt; Lord Roberts, der Hofgast, zwar nicht, aber um so öfter der Herrgott. Auch von sich selbst sprach der Erste Staatsanwalt ungewöhnlich viel. »Was in meinen bescheidenen Kräften steht, will ich versuchen, um dieses Verbrechen aufzuklären.« »Ich bin ein völlig unparteiischer Mann und decke diese Dinge auf, gleichviel, ob sie von jüdischer oder von der entgegengesetzten Seite kommen.« »Ich führe eine kühne Sprache und weiß genau, daß ich alle möglichen Angriffe zu gewärtigen habe.« »Ich führe den Kampf mit regulären Waffen, nicht gemeinsam mit jenen Schlachtenbummlern.« »Die gegen mich und die Behörde gerichteten Angriffe, von welcher Seite sie auch kommen mögen, weise ich zurück.« »Ein Königlich Preußischer Staatsanwalt kennt keine Furcht.« Und so weiter. Kein Wort streift die dem Angeklagten günstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme; der Staatsanwalt muß sie also für unerheblich halten. Auch der Vorsitzende verbirgt nicht, daß er in Levy einen Schuldigen, schon Ueberführten sieht. Es ist der selbe Landgerichtsdirektor, der den jetzt Angeklagten als Zeugen verhaften ließ. Er hält die Vertheidiger fest im Zügel. Von ihrem Fragerecht dürfen sie nur den allerbescheidensten Gebrauch machen und jedes auf Wahrnehmungen, Eindrücke und Kritik deutende Wort wird ihnen als »nicht hierher gehörige Deduktion« abgeschnitten. Der Vorsitzende aber läßt die vor ihm sitzenden Laienrichter seine Eindrücke deutlich sehen. Dreier Zeuginnen Aussagen sind nicht zu vereinen. Zwei Judenfräulein beschwören, sie seien nie mit Winter und Levy zusammengewesen; ein christliches Dienstmädchen beschwört, es habe Winter und Levy in der Gesellschaft dieser beiden Jüdinnen gesehen. Alle Drei bleiben unerschütterlich bei ihren Aussagen. Nach langem Hin und Her fragt der Vorsitzende die Christin (nur sie), ob sie unter Anrufung des allmächtigen und allwissenden Gottes noch immer behaupten könne, die Wahrheit gesagt zu haben. Antwort: Ja. Wirkung auf die Geschworenen: der im Saal höchste Richter hält die Aussagen der Jüdinnen für unglaubhaft. Winters bester Freund, der Gymnasiast Hans Boeck, wird vernommen und bekundet, er habe nie irgendeinen Verkehr zwischen Winter und Levy gesehen; Winter habe ihm, trotzdem sie Levy sehr oft trafen, auch nie angedeutet, daß er den Schlächtergesellen kenne. Dieses Zeugniß eines christlichen Schülers, einer der »unbefangenen kindlichen Seelen ohne Falsch«, auf deren Bekundungen der Staatsanwalt das Hauptgewicht legen möchte, ist der Anklage ungünstig. Der Staatsanwalt erhebt sich und fragt: »Können Sie bestimmt behaupten, daß Sie Winter und den Angeklagten niemals zusammen gesehen haben, oder wollen Sie sagen, daß Sie sich nicht daran erinnern?« Der Schüler, der eben ganz bestimmt ausgesagt hatte, wird schon ein Bischen ängstlich, antwortet aber noch, er halte für ausgeschlossen, daß er jemals Winter mit dem Angeklagten zusammen gesehen habe. Wieder fordert der Staatsanwalt eine ganz bestimmte Antwort; diesmal in schärferem Ton. Durch das Hirn des verschüchterten Schülers zuckt der Gedanke, was aus ihm werden solle, wenn morgen vielleicht zehn, zwanzig Zeugen beschwören, daß sie ihn im Verkehr mit Winter und Levy gesehen haben. Er sagt nun: »Ich erinnere mich nicht mehr.« Das ist bequemer; ist ungefährlich. Und nun resumirt der Vorsitzende: »Sie sagen also, Sie haben einen Verkehr zwischen Winter und Levy nicht wahrgenommen, geben aber die Möglichkeit eines solchen Verkehrs zu?« Antwort: »Jawohl«. Jeder gewissenhafte Mensch müßte diese Möglichkeit zugeben. Die wichtige, dem Angeklagten anfangs höchst günstige Aussage des dem Ermordeten befreundetsten Zeugen ist aber für den Entlastungbeweis nicht mehr zu brauchen. Als ein großer Theil der Belastungzeugen aufmarschirt ist, fragt der Vorsitzende den Angeklagten, ob er unter dem Eindruck so vieler einwandfreien Zeugenaussagen nicht lieber ein offenes Geständniß ablegen wolle. Wirkung auf die Geschworenen: der Vorsitzende sieht den Schuldbeweis als geführt an.


Friedrich Hebbel schrieb einmal in sein Tagebuch: »Indem ich eben im Neuen Pitaval die Gräuelgeschichte vom Magister Tinius lese, drängt sich mir eine Betrachtung auf, die der Kriminalist, wie mir scheint, kaum genug beherzigen kann. Wie viel hängt bei solchen Prozessen von den Zeugenaussagen ab, – und bei den Zeugenaussagen wie viel von genauer Ermittelung und Feststellung solcher Dinge, über die vielleicht kein Mensch in Wahrheit etwas Bestimmtes anzugeben vermag! Wenn ich nun, zum Beispiel, über eine einzige der vielen Personen, mit denen ich auf meiner letzten Reise zusammenkam, ja, über einen meiner intimsten Freunde angeben solllte, zu welcher Zeit an einem gewissen Tage ich ihn gesehen habe, wie er bekleidet gewesen sei, und Aehnliches mehr: ich würde unfähig sein, es zu thun.« Ein Spürergenie spricht. Solche Skrupel und Zweifel plagen die guten Konitzer nicht; weder Richter noch Laien. Ein Eid ist ihnen ein Eid und ihr Gedächtniß leistet mehr als das des Dichters der Nibelungen. Ernst Winter war fast ein Jahr schon tot. Noch am Tag der Verhandlung gegen Levy aber können einunddreißig Zeugen, Schüler, Lehrlinge, Handwerker, Nachtwächter, »Höhere Töchter«, Dienstmädchen und Dirnen, beschwören, daß sie an dem und dem Tage um die und die Stunde den Gymnasiasten, der damals doch sicher nicht eine interessirende Persönlichkeit war, im Gespräch mit dem Schlächtergesellen gesehen haben. Kein Freund und kein Lehrer Winters weiß von solchem Verkehr, keiner hat je nur davon gehört, doch jeder muß die »Möglichkeit« zugeben. Und die Zeugen sind standhaft. Zwar haben sie anfangs, als sie von Kriminalkommissaren vernommen wurden, nichts von dem Verkehr gewußt; jetzt aber erinnern sie sich. Zwar giebt es in Konitz drei junge Leute, die Winter ähneln; aber die Zeugen sind doch nicht blind und ein Irrthum ist bei ihnen ganz ausgeschlossen. Zwar hat ein Gymnasialprofessor mit eigenen Ohren gehört, wie die Hauptzeugin auf offener Straße zu einem Bekannten sagte: »Wir müssen Moritz Levy meineidig machen.« Das war aber gewiß nur Mädchengeschwätz. Ein Eid ist ein Eid; und wenn zwei Menschen über die selbe Thatsache unter dem Eid nicht genau das Selbe aussagen, muß Einer einen Meineid geschworen haben. Das sei nicht nöthig? Jeder von Beiden könne seine Aussage in gutem Glauben beschworen haben? Und man müsse auch die Macht der Suggestion und das Walten der Phantasie wägen, besonders sorgsam in einer Stadt, wo zwei Fanatismen aufeinanderstießen und nur Wenige sich die ruhige Klarheit des Auges bewahrten? Unsinn! Mit solchen modernen Schrullen haben wir nichts zu thun. Es giebt nur eine Wahrheit und nur einen allwissenden, allmächtigen, allgütigen Gott. Zu Dem beten wir. Dem müssen wir helfen, damit der Verbrecher endlich gefaßt und bestraft wird. Wir sind überzeugt, daß Moritz Levy, wenn er nicht selbst der Mörder war, dem Mörder Beihilfe geleistet hat. Und diese Ueberzeugung hat unser Gedächtniß so gestärkt, daß wir uns jetzt ganz genau erinnern, Winters Verkehr mit Levy gesehen zu haben ...

Möglich bleibt, daß der Schlächtergeselle dreimal einen Meineid geschworen hat. Er und sein Vater war von den konitzer Judenfeinden des Mordes beschuldigt worden. Moritz konnte sich sagen: Gebe ich überhaupt zu, daß ich Winter kannte, dann bin ich, ist mein Vater verloren; dann schlagen die zornigen Christen uns auf offener Straße tot; oder, im besseren Fall, wird vor Gericht von uns der Beweis verlangt, daß wir Winter nicht gemordet haben. So schwor er zum ersten Male. Trieb ihn zur strafbaren Handlung dann nicht »eine unwiderstehliche Gewalt oder eine Drohung, die mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib und Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war«, und mußte er deshalb, nach dem zweiundfünfzigsten Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches, nicht straflos bleiben? Als er zum zweiten und dritten Mal schwor, war er durch den ersten Eid gebunden. So kann es gewesen sein; daß es so gewesen ist: dafür geben die Aussagen der einunddreißig Zeugen dem modernen Kriminalisten nicht die geringste Gewähr. Wo aber sind diese modernen Kriminalisten? Sie schreiben dicke Lehrbücher, deuten den Studenten das geltende Recht und merken gar nicht, daß die Strafrechtspflege jeden Zusammenhang mit der Wissenschaft und der Weltanschauung unserer Tage verloren hat. Wenn sie, statt am Schreibtisch zu sitzen, in die Gerichtssäle gingen und hörten, wie »thatsächlich festgestellt«, argumentirt und judizirt wird, dann würden sie ihres Lebens Ziel nur in der Erfüllung der einen Forderung noch sehen: die Gerechtigkeitpflege möge auf völlig neue Fundamente gestellt werden. Möge nicht ferner »festzustellen« streben, daß die Thatbestandsmerkmale allenfalls »zur Verurtheilung ausreichen«, sondern ein anderes Ziel, mit der Seele, suchen: die Feststellung der Umstände, unter deren Einwirkung ein Mensch geworden ist und bisher gehandelt hat und deren unbefangene Deutung (nicht die Gewißheit zwar, doch) den guten Glauben festmörteln kann, daß dieser bestimmte Mensch in diese That schreiten, gleiten, straucheln mußte.


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