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Der Hauslehrer.

Die Verkäuferin eines Waarenhauses ist Mutter geworden. Trotzdem Emil ihr hundertmal lachend geschworen hatte, bei ihm habe sie nichts zu fürchten; er kenne den Rummel und sei nicht von gestern. Als keine Selbsttäuschung dann mehr half, als sie ihm das süße Geheimnis, wies im Romanstil heißt, ins Ohr flüstern mußte, ward der Übermüthige blaß; ein stiller Abend und eine frühe Trennung. Daß sein Vater in solchen Sachen keinen Spaß verstand und einstweilen deshalb nichts zu machen war, wußte sie ja. »Also Kopf hoch, Brust 'raus ... und so weiter! Faule Kiste; aber wir werdens schon fingern.« Alles war auch glimpflich abgegangen. Im Mai hatten die Mädel im Rayon die Köpfe zusammengesteckt. Enger ließ sich das Korset nicht schnüren; und eines Tages, bei starkem Fremdenandrang, gabs eine kleine Ohnmacht. »Die is dran!« Doch sie erholte sich schnell, that bis zum Geschäftsschluß stramm ihren Dienst und gestand, sie habe sich, zum ersten Mal, verleiten lassen, in Halensee bis nach Eins zu tanzen. Nach und nach kamen die bösen Zünglein zu Ruhe. Und Emil hatte einen famosen Einfall. »Wozu sind denn die blödsinnigen Reformkleider da? M. W. Façon Regentonne.« So gings; Und Ende August lag der vierzehntägige Urlaub gerade günstig. Fünf Tage Verspätung: der gemüthliche alte Doktor hatte die Verstauchung des linken Fußes gern bestätigt. Fräulein war emsig und die Kundschaft hatte nicht zu klagen. Das Kind war in dem Landstädtchen geblieben; bei der würdigen Dame, die es (»Diskretion Ehrensache«!) dem Schoß der Mutter entbunden hatte. Auf Emils Rath. »Sonst rennste jeden zweiten Tag hin, die Bande riecht Lunte und Du fliegst aufs Pflaster.« Die Haltefrau verpflichtete sich, jeden Monat mindestens einmal Bericht zu erstatten. »Sie sind doch an keine Engelmacherin nich gekommen.« Der Doktor verspricht, von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen. Auch lebt eine Freundin im Ort. Die meldet im Oktober, das Kleine sehe nicht besonders aus; sie wolle gewiß nicht hetzen, aber das ewige Wimmern könne Einem das Herz abdrücken und mit der Sauberkeit sei es auch nicht allzu weit her. Am selben Abend noch muß Emil sich hinsetzen und an den Doktor schreiben. »Damit die liebe Seele Ruhe hat: Eingeschrieben.« Antwort: Unsinn; mit dem Würmchen sei ja noch nicht viel Staat zumachen, aber wir haben schon kümmerlichere durchgebracht, und wer von Vernachlässigung rede, lüge in seinen Hals; die Freundin habe sich mit der Kostfrau verzankt und finde seitdem plötzlich keinen guten Faden mehr an ihr. »Na also! Wieder mal unnütz alarmirt. Sei friedlich und komm ins Apollo.« Der Novemberbericht lautet günstig. »Mein Oskar holt jeden Morgen die beste Milch; und überhaupt ...« Zwischen Weihnacht und Neujahr kommt die Todesnachricht; auf einer Postkarte: »Soeben sanft im Herrn entschlafen. Näheres brieflich. Bitten Anweisung für Begräbnißkosten; auch wegen dem Sarge. Wir sind Alle untröstlich.« Der junge Arzt, der während der Festwochen den alten vertritt, macht mit dem Totenschein Schwierigkeiten. Die Obduktion ergiebt: völlig ungenügende Ernährung, Mangel an nothdürftigster Reinlichkeit, Anwendung von Schlafpulvern; unmittelbare Todesursache: Zuführung verdorbener Milch und als Folge Brechdurchfall, den der geschwächte Organismus nicht mehr überstand.

Die Staatsanwaltschaft erhebt die Anklage auf Grund des § 222 StGB : »Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft. Wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war, so kann die Strafe bis auf fünf Jahre Gefängniß erhöht werden.« Die Haltefrau wird verhaftet. Sensation im Städtchen. Unter zweihundert Klatschereien wird der Behörde auch die Geschichte von dem Alarmbrief der Freundin zugetragen. »Sie haben die unverehelichte Runge also gewarnt?« »Jawohl, Herr Richter.« »Eindringlich?« »Jawohl, Herr Richter.« »Mit dem Hinweis auf die für Leib und Leben des Kindes drohende Gefahr?« »Jawohl, Herr Richter.« »Und trotzdem hat die Mutter nicht Veranlassung genommen, ihr Kind in Sicherheit zu bringen?« »Nein, Herr Richter, sie hat mir 'nen pikirten Brief geschrieben.« »Worauf führen Sie dieses unmenschliche Verfahren zurück?« »Gott, Herr Richter, Die ging mit Einem und da hatte sie wohl mehr ihr Vergnügen im Kopf; schon als Kind war sie mehr für Theater und so was.« »Da Sie Ihre Pflicht in vollstem Maß erfüllt haben, brauche ich Sie auf die Heiligkeit des Eides nicht ausdrücklich hinzuweisen. Es wird Ihnen, wie ich sehe, schwer genug, eine Jugendfreundin zu belasten. Gerichtsschreiber, nehmen Sie zu Protokoll: ›Ich kenne die unverehelichte Runge von Kindesbeinen an und wir sind bis zu dieser Stunde befreundet. Doch muß ich der Wahrheit die Ehre geben und, nachdrücklich auf die Heiligkeit des Zeugeneides hingewiesen, aussagen, daß sie schon in der Schulzeit durch bodenlosen Leichtsinn oft Aergerniß erregte und ich mich nicht wunderte, als sie sich in Berlin später einem lüderlichen Lebenswandel ergab. Als ihre Unzucht Folgen hatte, kam sie hierher und fand bei der Mohr Aufnahme, einer längst der Engelmacherei verdächtigen Frauensperson, die sie, ohne nähere Erkundigung einzuziehen, lediglich auf Grund eines Zeitunginserates, als Kostkinderpflegerin wählte. Ich muß hier noch betonen, daß die Runge sich nicht schämte, sich in unserer Stadt öffentlich im Zustande höchster Schwangerschaft mit dem Genossen ihrer Unzucht zu zeigen. Ihre Kleidung war so, wie man sie bei Lustdirnen finden soll. Sie wäre also in der Lage gewesen, auskömmlich für ihr Kind zu sorgen. Auf meinen Brief, der ihr meldete, das Kind sei in höchster Gefahr und werde nicht am Leben bleiben, wenn es nicht schleunig von der Mohr weggenommen werde, hat sie mir frech geantwortet: ich wolle nur wieder Stänkereien machen und ihr Angst einjagen; das Kind könne gar nicht besser aufgehoben sein. Da ich die Briefe der Runge meinem Bräutigam verheimlichen mußte, wurden sie gleich verbrannt und kann ich sie deshalb nicht an Gerichtsstelle schaffen. Ich muß aber versichern, daß sie auf mich den denkbar schlechtesten Eindruck machten und ich mir schon damals sagte, die Runge müsse nicht das geringste Muttergefühl haben. Namentlich ist mir peinlich aufgefallen, daß sie in der Antwort auf meine Warnung weitschweifig von einem mißvergnügten Abend erzählte, den sie mit ihrem Unzuchtgefährten in einem sogenannten Tingeltangel verlebt und in einer Kneipe beschlossen habe. Ich habe davon auch meiner Tante Mittheilung gemacht, der Wachtmeisterswitwe Päpke, die es beschwören kann. Mein Brief hat, obwohl er in den stärksten Ausdrücken abgefaßt war und an das Gewissen appellirte, nicht die Wirkung gehabt, die Runge zu der Aufmerksamkeit anzuhalten, zu welcher sie vermöge ihres Mutterberufes besonders verpflichtet war. Vielmehr hat sie mir in cynisch roher Weise geantwortet, ihre Pflicht auch ferner vernachlässigt und damit, wie ich fest überzeugt bin, aus bloßer Vergnügungsucht den Tod ihres Kindes verursacht‹ ... Einwendungen haben Sie natürlich nicht? Schön. Das Protokol ist also gemäß § 186 StPO vorgelesen und von der Zeugin unterzeichnet worden. Sie können gehen.« Der Assessor bringt dem Staatsanwalt selbst die Akte. »Habe 'ne feine Nummer abgezogen und hoffe, im nächsten Bericht Einen raufzukommen. Kegeln Sie abends?« Und erzählt beim Frühschoppen schmunzelnd, in der Sache Mohr werde es noch Überraschungen geben. Am nächsten Tag wird auch die Runge verhaftet; vom Ladentisch weg. Da die Hausordnung für solche Fälle sofortige Entlassung vorsieht, weiß sie, daß sie nicht zurückkehren und der Grund der Entlassung im Abgangszeugniß vermerkt werden wird. Sie ist dringend der fahrlässigen Tötung, begangen am eigenen Kinde, verdächtig; und aus aktenkundig gemachten Thatsachen (ihrem unzüchtigen Verhältnis zu dem Buchhalter Emil Schirmer) ist zu schließen, daß sie Spuren der That vernichten und Zeugen zu einer falschen Aussage verleiten werde; auch ist Fluchtverdacht vorhanden. Gemäß § 112 StPO war also ein Haftbefehl zu erlassen; die Runge darf nicht auf freiem Fuß bleiben.

Hauptverhandlung in der Strafsache wider Mohr und Runge ... »Selbst dieses verthierte Weibsbild aber, Hoher Gerichtshof, kann als strafmildernd noch für sich anführen, daß es in drückender Armuth lebte und von der Sorge um sein eigenes Fleisch und Blut, von der schweren Arbeit für Mann und Kinder in Anspruch genommen war. Wir haben gehört, daß die Schlafpulver gegeben wurden, weil der Ehemann Mohr, der Ernährer des Hauses, sonst um seine Nachtruhe gekommen und nicht im Stande gewesen wäre, das für den Haushalt Unerläßliche zu verdienen; und ferner ist thatsächlich festgestellt, daß der jüngste Knabe der Angeschuldigten Mohr ohne dauernde Schädigung mit der selben Milch genährt worden ist wie das Kostkind. Das entschuldigt nichts, erklärt aber Manches. Doch wie soll ich Worte finden, um den Leichtsinn, die Gewissenlosigkeit, die himmelschreiend niedrige Gesinnung der Runge zu schildern, die, um ihr Lasterleben ungestört fortsetzen zu können, zur Rettung ihres Kindes nicht einen Finger rührte? Ihres eigenen Kindes. Das ist der wesentlichste Unterschied. Wir haben gelernt, daß zu den elementarsten Empfindungen des Weibes das Muttergefühl gehört. Mehr noch: wir wissen, daß sogar im Thierreich die Mutter Blut und Leben freudig für ihr Junges opfert. Das Geschöpf, das hier vor Ihnen sitzt und (auch darauf bitte ich zu achten!) im Verlauf dieser Verhandlung noch keine Thräne vergossen hat, ist unter die Stufe der Thierheit hinabgesunken. Entsetzten Blickes sehen wir das Bild ihres Lebens sich vor uns entrollen. Ich erinnere an die Aussage des Fräuleins Eppler, einer Jugendfreundin der Angeklagten Runge, und der Witwe Päpke, einer echten, kernigen Soldatenfrau. Diese Zeuginnen, die ja offenbar bemüht waren, so weit es die Eidespflicht irgend gestattet, aus christlicher Nächstenliebe die Runge zu entlasten, haben im ganzen Gerichtsaal ohne Zweifel den Eindruck der Treue, ehrenwerther Zuverlässigkeit und strengster Wahrhaftigkeit gemacht. Und dennoch ergab auch ihr Zeugniß, daß die Runge geradezu frevelhaft gehandelt hat. Sie war gewarnt und schlug die Warnung in den Wind. Sie wurde für leichte Arbeit überreichlich bezahlt, hatte (die Ziffern, die der durchaus glaubwürdige Zeuge Schirmer uns vortrug, sind nicht einmal von der Vertheidigung bestritten worden) von ihrer Unzucht einen Ertrag, der ihr einen weit über ihre Verhältnisse gehenden Luxus ermöglichte, und ließ ihr Kind, die Frucht ihrer Lüste, in Schmutz und Elend verkommen. Aufgedonnert wie eine öffentliche Dirne, schritt sie, am Arm ihres Buhlen, als habe sie kein Auge zu scheuen, am hellen Tag mit den sichtbaren Zeichen der Mutterschaft durch die Straßen eines vom Spülicht der Großstadt, Gott sei Dank, noch verschonten Ortes. Und während ihr Kind sich in Krämpfen wand, saß sie unter anderen Freudenmädchen und lachte über die plumpen Späße der Clowns, über die Zoten bemalter Frauenzimmer. Das geschah, nachdem sie eben erst von der Freundin dringend gewarnt und die Lebensgefahr ihres Kindes ihr zur Kenntniß gebracht worden war. Ich vermuthe wohl nicht ohne Grund, daß sie schamlos in den Armen der Wollust lag, als der Todesengel dem kleinen Bett nahte. Wenn jemals, so hat hier Fahrlässigkeit unter erschwerenden Umständen den Tod eines menschlichen Wesens verursacht. Fahrlässigkeit ist die pflichtwidrige Nichtkenntnis der verursachenden Bedeutung des Thuns oder Unterlassens. Daß die geistigen Fähigkeiten der Angeklagten hinreichten, um den Erfolg als Wirkung des Unterlassens vorauszusehen, kann nicht bezweifelt werden. Wir haben nicht ein stumpfsinniges Dienstmädchen vor uns, sondern eine gebildete, ja, raffinirte Person, deren Scharfblick einen Mangel an Kausalitätvorstellung ausschließt. Trotzdem ich felsenfest überzeugt bin, daß sie gleich nach der Geburt den Vorsatz hatte, ihr uneheliches Kind, als ein Hemmnis ihre lüderlichen Treibens, aus dem Wege zu räumen, erlaubt der Buchstabe des Gesetzes leider nicht, hier § 217 StGB anzuwenden. Um so mehr aber sind wir verpflichtet, die volle Strenge des Gesetzes gegen diese unsittliche Person walten zu lassen. Giebt es einen ernsteren Beruf, ein heiligeres Amt als das einer Mutter? In meiner langen Praxis ist mir kein Fall vorgekommen, der so alle Kriterien des § 222 StGB, Abs. 2, deckt wie dieser; keiner, der die mattherzige Unzulänglichkeit unserer von falscher Humanität eingegebenen Strafgesetze so deutlich zeigt. Humanität! Gottes Ebenbildern wollen wir sie, auch wenn sie irrten, niemals verweigern. Dieses entmenschte, jeder natürlichen Regung bare Wesen aber ....« »Die Strafkammer hat, entsprechend dem Antrag des Herrn Staatsanwaltes, gegen die Angeklagte Runge auf das höchste Strafmaß von fünf Jahren Gefängniß erkannt.« Von Rechtes wegen.


Der Herr Kommerzienrath Rudolf Koch, Direktor der Deutschen Bank in Berlin, sucht für seine Söhne Heinrich und Joachim, Knaben von dreizehn und elf Jahren, einen Hauslehrer. Auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege des Inserates. Er würde einem nicht Jahre lang vorher erprobten Manne nicht für eine Viertelstunde den Kassenschlüssel anvertrauen, würde in die Effektenabtheilung der Bank selbst zu untergeordneter Arbeit nie einen Menschen aufnehmen, der nicht klipp und klar bewiesen hätte, daß er zuverlässig und in seinem Beruf tüchtig ist. Wenn er seinen Kindern einen Erzieher sucht, begnügt er sich mit einem Inserat. Er könnte, mit einem Jahreseinkommen von durchschnittlich zweihunderttausend Mark, einen reifen Mann engagiren, einen Doktor oder Professor gar: er fahndet nach einem Studenten. Vierzig Offerten laufen ein. Wären in der Annonce etwa »glänzende Bedingungen« verheißen worden, dann hätten sich, statt der vierzig, vierhundert Bewerber gemeldet. Die Wahl fällt auf den Studiosus Dippold, »weil er die besten Empfehlungen hat«. Woher? Danach wird nicht ängstlich gefragt. Dippold hat im ersten Semester wüst gebummelt, die Nächte mit Prostituirten verbracht, sich einer Lehrerstochter verlobt, den Vater der Braut um zweitausendsechshundert Mark angepumpt und das Geld mit gemietheten Weibern verlüdert. Als der Darleiher davon hörte, hob er die Verlobung auf. Dippold ließ sich dann in Berlin immatrikuliren, arbeitete aber auch hier wenig und war unter den Kommilitonen als ein roher, jähzorniger, fast größenwahnsinniger Lümmel verrufen. Nicht fähig, einen lateinischen Satz ohne grobe Fehler zu bilden. Verlumpt und verlogen. Dabei ein Frömmler. Des Morgens bei dem Branntewein, des Mittags bei dem Bier, des Abends bei den Mädchen im Nachtquartier; in der Zwischenzeit schrieb er Briefe über den gottseligen Wandel des Christenmenschen. Einzige Leistung: ein paar Nachhilfestunden, die ihm nicht einmal die Fortsetzung des Studiums ermöglichten; also ohne Doktorhut Kehrt. Aber er hatte »die besten Empfehlungen« und bekam, als er knapp ein halbes Jahr in der Reichshauptstadt war, die Stelle, für die Hunderte redlicher Jünglinge, Hunderte gereifter Pädagogen zu haben gewesen wären. Nach kurzer Zeit schon wird dem Unbewährten, fast noch Fremden gestattet, mit den Zöglingen nach Ziegenberg bei Ballenstedt überzusiedeln. Das ist ein Gut des Herrn Bankdirektors und Kommerzienrathes. Da haust er ohne jede Kontrole mit den Knaben. Papa ist von Geschäften zu sehr in Anspruch genommen und kann sich um die Erziehung der Kinder nicht kümmern. Mama hat nicht das geringste Verständniß für die Kinderpsyche, nicht die dunkelste Ahnung von den Grundsätzen moderner, halbwegs moderner Pädagogie und glaubt einfach blind, was der Hauslehrer sagt. Ihre Jungen sollen lernen, vorwärtskommen, Renommirsöhne sein. Gehts ohne Prügel nicht, so muß eben geprügelt werden. Dieses Elternpaar, das einen Thiergartenpalast bewohnt und ein stattliches Landgut hat, sorgt nicht einmal dafür, daß Heinz und Jojo (Kosenamen gehören auch in solcher zärtlichen Familie zum Thiergartenstil) so gut genährt werden wie der Sohn ihres Hausdieners oder Pförtners. Die Knaben hungern und frieren; eine mit Mus beschmierte Semmel ist für sie ein Leckerbissen und sie werden auf Reisen in die Vierte Wagenklasse gepfercht. Wie sollten Papa und Mama daran denken, in Ziegenberg jeden Monat mindestens revidiren oder sich etwa gar jede Woche den Küchenzettel vorlegen zu lassen? Wozu hat man denn schließlich einen Hauslehrer? Und Mama hatte sich ja anfangs wirklich selbst nach Ziegenberg bemüht. Dippold berichtet Fürchterliches. Beide Knaben treiben Tag und Nacht Manustupration und sind durch keine Ermahnung von diesem Laster abzubringen. Sie sind ungeberdig, faul, frech, ohne die leiseste Spur sittlichen Gefühles. Der Aelteste hat gestohlen; zuerst im Elternhaus, wo er die Kasse des Vaters erbrach und Edelsteine bei Seite brachte, dann in Restaurationen und Läden. Er hat mit Falschmünzen Automaten geplündert, in Kreditvereinen allerlei Waaren gekauft, ohne zu zahlen, und das erschwindelte und erstohlene Geld benutzt, um (ein Dreizehnjähriger) heimlich mit Prostituirten zu verkehren. Denen hat er Goldringe geschenkt und das Luderleben erst aufgegeben, als er von den Frauenzimmern syphilitisch angesteckt war. Das Alles gesteht er selbst. Zweifel? Hier ist seine Namensunterschrift. Papa ist von Geschäften in Anspruch genommen. Und Mama glaubt, »tief erschüttert«, Alles, was Herr Dippold berichtet. Sie kennt ihre Kinder so gut, daß sies glauben kann. Sie erkennt, mit dem Falkenblick wachsamer Mutterliebe, den Lehrer so genau, daß sie ihm schreibt: »Ich bedaure nur, daß Gott Sie nicht zwei Jahre früher in unser Haus geführt hat; manches Herzeleid wäre uns dann erspart worden.« Eines Tages wird ihr gemeldet, Dippold habe die Knaben grausam geschlagen. Er leugnet auch nicht. Die Züchtigung sei unbedingt nothwendig gewesen, er werde sie aber nicht wiederholen, denn sie reiche aus, um den Jungen das ewige Masturbiren endlich abzugewöhnen. Wenn der Schimmel sich an einer Glasscherbe verletzt hätte, wäre »eine Autorität« gerufen worden. Doch Kinder muß man streng halten. Und Papa, der jetzt gerade Bilanzsitzungen hat, darf nicht beunruhigt werden. Ich dachte, sagt die Frau Kommerzienrath, »einen Augenblick daran, die Knaben nach der harten Züchtigung von einem Arzt untersuchen zu lassen, that es aber nicht, weil Herr Dippold davon abrieth. Ich wollte auch wegen der ›geheimen Sünden‹ einen Arzt zu Rath ziehen, unterließ es aber, weil Herr Dippold sagte, er habe selbst Medizin studirt, sei viel in Krankenhäusern gewesen und verstehe die Sache eben so gut wie ein anderer Arzt.« Ob diese Angabe wahr ist, wird nicht geprüft. In einem Haushalt, der sich für Zeit und Ewigkeit geschändet fühlen würde, wenn ein Kutscher einmal bei Tisch mitserviren müßte, wird die Erziehung, Ernährung, Körperpflege, ärztliche Behandlung der Kinder einem verbummelten Studenten anvertraut. Dippold mißhandelt die Knaben. Dippold wird vernommen und erklärt, die Mißhandlung sei nöthig gewesen, eine ärztliche Untersuchung Heinzens und Jojos würde ein Fehler sein und auf Therapie, Hygiene und Prophylaxis verstehe er sich wie irgendein Doktor. Dippolds Wort entscheidet und Mama reist, beruhigt, getröstet, entzückt, nach Berlin zurück. Durch Gottes Fügung ward ein Juwel ihrem Hause gewonnen.

Weihnachten sind die Knaben bei den Eltern in Berlin. Papa ist offenbar auch während der Feiertage von den Geschäften ganz in Anspruch genommen. Und Mama weiß zwar, daß Dippold ihre Kinder lahmgeprügelt hat, kommt aber nicht auf den Einfall, sie jetzt wenigstens vom Hausarzt untersuchen zu lassen; sieht sich nicht einmal selbst die kleinen Körperchen an. Ihre mütterliche Sorge beschränkt sich auf die Nachforschung, ob die Kinder wirklich onaniren. Wenn sie Dippolds Angabe glaubte, war sie zehnfach verpflichtet, eine »Kapazität« um Rath zu fragen; denn daß Knaben von elf und dreizehn Jahren täglich zwölfmal, fünfzehnmal oder noch öfter thun, was Judas Sohn Onan (1. Mose 38, 9,10) mit dem Leben büßt, ist am Ende kein gleichgiltiger Alltagsvorgang. Frau Rosalie Koch ist anderer Meinung. Wahrscheinlich hält sie sich selbst für eine Kapazität; und sie bringt dem gewählten Beruf Opfer, die fast über die Menschenkraft gehen. In einer Nacht, spricht sie stolz, »bin ich wohl fünfmal in das Schlafzimmer der Knaben gegangen, bin dicht an ihre Betten herangetreten und habe zu ihnen gesprochen; ich gewann die Ueberzeugung, daß Beide fest schliefen. Nachher sagte mir Heinz, sie hätten sich blos verstellt.« Das komplizirte den Fall. Entweder log der Hauslehrer frech oder die Jungen betrogen die Mutter mit Gaunerkniffen. Frau Kommerzienrath Koch fand sich nicht bewogen, die Sache zu untersuchen, und ließ, le coeur léger, die Kinder mit dem Lehrer wieder gen Ziegenberg ziehen. Warum nicht? »Unser Gut ist sehr idyllisch gelegen.« Neue Warnungen kommen. Ein Brief: »Dippold ist ein Schweinekerl, denn er frißt das Fleisch mit den Händen vom Teller herunter; er ist ein Saukerl, denn er hat sich besoffen; er ist ein gemeiner Kerl, denn er hat unsittlichen Verkehr mit vielen Frauenzimmern. Dippold ist ein Schuft, ein Spitzbube, ein Schurke. Dich, Mama, nennt er eine hochmüthige Trine, Karl (Kochs Sohn aus erster Ehe) nennt er einen hochnäsigen Kerl, der Vaters Geld verprasse. Heinz Koch. Gelesen: Jojo Koch.« Wahr oder unwahr: aus diesem Kinderbrief spricht so wilder Haß, so leidenschaftliche Rachsucht, daß kein Vater, keine Mutter, in deren Herzen auch nur ein Funke ernster, vorsorgender Elternliebe glomm, fünf Minuten vor dem Entschluß zaudern durfte, die Kleinen aufzusuchen und dem unhaltbar gewordenen Zustand ein Ende zu machen. Selbst wenn Alles erlogen war, was die Knaben schrieben, war der Erzieher nicht länger zu brauchen, der so wenig verstanden hatte, ihr Kindergefühl an sich zu ketten. Eine Proletarierin hätte nach solcher Kunde den Nothpfennig genommen und sich in der nächsten Freistunde auf die Eisenbahn gesetzt. Frau Rosalie Koch schreibt einen Brief. Von Berlin sind fünf, sechs Stunden Fahrt; auch die Kosten eines Extrazuges wären in dem Budget des Bankdirektors kaum wahrnehmbar. Frau Koch schreibt einen Brief. Antwort, wie zu erwarten war: Alles erfunden. Heinz sei überhaupt nicht mehr zurechnungfähig; doch hoffe der Lehrer, cand. jur. Dippold, ihn zu heilen, »Wir wollen Alles in die Hand des Allmächtigen legen, der es sicher zum Guten lenken wird.« Dann folgen Briefe, die melden, daß die Knaben an Schwindelanfällen leiden, Folgen der Masturbation. Traurig, denkt Mama; thut aber nichts. Unter ihrem Zeugeneid hat sie später ausgesagt, als sie von der Selbstbefleckung der Knaben gehört habe, sei ihr erster Gedanke gewesen, nur der Lehrer könne Heinz und Jojo zu solchem Laster verleitet haben. Nur ihr erster Gedanke. Ihr letzter scheint gewesen zu sein: Was Dippold thut, ist wohlgethan; drum herrsche auch hinfüro sein Wille.

Im Januar 1903 war Mama ein Weilchen in Ziegenberg. Sah nichts und hörte nichts. Auch Papa kam; erfuhr, Dippold sei (gerade an diesem Tag) mit den Jungen auf den Brocken geklettert, und reiste, ohne sie gesehen zu haben, vergnügt wieder ab. »Wenn sie solche Tour machen können, müssen sie ja kerngesund sein.« Ungefähr drei Wochen danach klopft im Morgengrau auf dem »idyllisch gelegenen« Gut eine zitternde Kinderhand an das Fenster der Gärtnerwohnung. Heinz. Fünf Uhr früh. Eiskälte. Der Knabe halb angezogen. Wimmert um Hilfe. Der Lehrer habe ihn und seinen kleinen Bruder aus tiefem Schlafe geweckt und einen dicken Stock an ihren Leibern zerschlagen; er werde sie gewiß noch umbringen. Heinz hat auf dem Rücken, den Armen große blutige Wunden; Wangen, Augen und Hände sind angeschwollen. Das Würmchen bettelt um Hilfe, um einen Bissen Brot; denn es ist von Hunger entkräftet. Bald darauf holt Dippold seinen Schüler zurück. Der Gärtner fährt nach Ballenstedt und erzählt dem Bürgermeister das grasse Erlebniß. Der telegraphirt an den Herrn Bankdirektor und Kommerzienrath Rudolf Koch, Berlin, Thiergartenstraße 7 A. Und nun ists aus mit der Qual. Nun wird dem Hallunken das Handwerk, das schmähliche Handwerk gelegt und noch am selben Tage sitzen die Kinder sicher im prunkenden Elternhaus und werden mit Liebe gepäppelt. Nicht wahr?

Nein. Herr Rudolf Koch hats nicht so eilig. Neunundzwanzigster Januar. Mitten in der Hochsaison. Vielleicht Gäste zu Tisch. Vielleicht zu Gwinners Majestät geladen. Aufsichtrathssitzung. Irgendein neuer Concern zu bilden. Schließlich ists ja kein Fall, der Eltern zu schleuniger Reise drängen müßte. Herr Rudolf bespricht die Sache mit Frau Rosalie. Das Beste wird sein, den Schwiegersohn hinzuschicken. Rittmeister a. D. Hat also immer Zeit. Famoser Einfall. Und Frau Rosalie thut noch ein Uebriges. Sie bittet Herrn Dr. Vogt, einen Gehirnanatomen, Schüler Forels und Günstling Krupps, nach Ziegenberg zu fahren. Sagt ihm aber nichts von der rohen Mißhandlung. Mehr kann doch wirklich kein Gerechter verlangen. Der Schwiegersohn hats eiliger als der Schwiegerpapa. Er muß schnell nach Berlin zurück, sieht den verspätet eintreffenden Hirnschnittmacher nur noch zwei Minuten und benutzt die Frist, um ihm zuzurufen: »Der Dippold ist entweder ein Schuft oder ein Idealmensch!« Diese wundersame Alternative des Reitersmannes hätte manchen Kontroleur wohl zum Mißtrauen gestimmt. Herrn Dr. Vogt nicht. Ein Doktor vom Lande hätte den Jungen befohlen, sich auszuziehen, und dann die Spur der Mißhandlung, die Wunden und Eiterbeulen, am Leib der Geschundenen entdeckt. Mit solchen Rückständigkeiten giebt der moderne Direktor einer Hirnschnittmustersammlung sich nicht ab. Untersuchung? Veralteter Blödsinn. Herrn Dr. Vogt genügt ein Gespräch mit dem Kandidaten Dippold. Der sagt, eine ärztliche Untersuchung würde seine Autorität bei den Schülern mindern. Alles komme von der ewigen Masturbation. (Was den Arzt nicht etwa veranlaßt, sich wenigstens mal die Genitalien der Kinder anzusehen.) Züchtigung sei nöthig, doch werde nur der dafür geeignetste Körpertheil manchmal mit einer dünnen Gerte bearbeitet. Der Arzt antwortet, sehr vernünftig, Prügeln nütze nicht und die üble Folge der Onanie werde von Laien beträchtlich überschätzt. Läßt sich Dippolds Erziehungmethode schildern, verschreibt ein Schlafpulver, räth, Heinz und Jojo jeden Monat einem Neurologen vorzuführen, und dampft ab. Gemeinsame Meldung des Ritt- und des Schnittmeisters: Alles in schönster Ordnung. Der Lehrer hält mit den Schülern sogar weihevolle Andachtübungen und ihr Wohl, er sagt es ja selbst, liegt ihm Tag und Nacht am Herzen. Herr Dr. Vogt schließt seinen Bericht (in dem weder von Kontrole noch von Neurologie mit einer Silbe die Rede ist) mit der Frage: »Wie sind Sie, Frau Kommerzienrath, nur zu diesem idealen Menschen gekommen?« Frau Rosalie ist selig. Wenn ihr Dippold, der neulich den Wunsch aussprach, wie Christus am Oelberg zu ruhen, nur erhalten bleibt! Er drohte, den Dienst zu kündigen. Mama sendet ihm »tausend Dank und fünfhundert Mark Extrahonorar als Anerkennung Ihrer großen Aufopferung«. Um dieses Resultat zu erreichen, war Heinz früh um Fünf, blutend, halb nackt, halb verhungert, dem Haus entlaufen, der Gärtner nach Ballenstedt gefahren, vom Bürgermeister an die Eltern telegraphirt worden.

Noch mehr wird erreicht. Dippold erklärt, nur bleiben zu wollen, wenn er mit den Knaben nach Drosendorf, in seine Heimath, übersiedeln dürfe. In Ziegenberg, wo Gärtner und Dienstboten ein Erziehungsystem beschwatzen, das sie nicht verstehen, sei nichts Rechtes zu machen; namentlich nicht mit Heinz, der moralisch ganz verkommen sei. Der Lehrer brauche volle Ruhe; »die Kontrole durch Herrn Dr. Vogt wolle er sich gern gefallen lassen« (was man ihm nachfühlen kann). Frau Kommerzienrath willigt ein. Herr Kommerzienrath schreibt an seine Söhne, er billige Alles, was Dippold anordne, der sie zu tüchtigen Menschen erziehen werde, wenn sie ihm aufs Wort gehorchten. Also auf nach Drosendorf, das auch »idyllisch liegt«. Am siebenzehnten Februar 1903 wird die Reise angetreten. Von Ballenstedt bis Hof Vierter, von Hof bis Nürnberg Dritter Klasse. Acht Tage danach schreibt Frau Rosalie an den »idealen Lehrer«; »Nun ist Alles geschehen, um Ihren Willen zu erfüllen. In Drosendorf wird Niemand Sie stören, am Wenigsten Jemand aus unserer Familie«. Worauf Kommerzienraths fröhlich nach Nizza reisen; denn auch ein unter der Last der Geschäfte fast zusammenbrechender Bankdirektor, der »die Sorge für die Kinder seiner Frau überlassen muß«, hat die Pflicht, den März an der Riviera zu verrepräsentiren. Das kann die Bank, kann die Gesellschaft von ihm fordern.

Am zehnten März liegt Heinz Koch tot im Bett. Der Lehrer hatte den Sterbenden, der flehentlich bat, liegen bleiben zu dürfen, mit Fußtritten in Bewegung gebracht, zu Turnübungen und in ein eiskaltes Bad gezwungen. Als Heinz schlecht turnte, mußte Joachim ihn mit einem Stock prügeln. Als er zweimal ohnmächtig wurde, brüllte Dippold: »Das Luder verstellt sich blos!« Dem Verröchelnden wird ein Knebel in den Mund gestopft. Beim Entkleiden und Säubern der Leiche muß Jojo helfen. Dann wird der Bezirksarzt gerufen; »zu einem Schwerkranken«. Dippold schildert ihm zwei Stunden lang die Verruchtheit der Familie Koch. Der Arzt will den Kranken sehen. Ist schon tot. Ergebniß der Leichenschau: der ganze Körper zerschlagen; überall blutige Striemen und eiternde Wunden; von Syphilis oder onanistischer Ausschweifung keine Spur. Auch Joachim wird nun endlich untersucht. Gesicht, Brust, Rücken, Beine, Arme mit Blut unterlaufen. Das Kind, das vom Scharlach her ein Ohrenleiden hat, ist durch Schläge am Kopf arg verletzt, konnte gerettet werden, stand aber vor der selben Gefahr, der sein Bruder erlag. Das war der Befund am zehnten März. Zwölf, dreizehn Tage vorher hatte Mama an den Hauslehrer geschrieben: »In Drosendorf wird Niemand Sie stören, am Wenigsten Jemand aus unserer Familie.«

Unter dem dringenden Verdacht, durch »Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges« den Tod Heinzens herbeigeführt zu haben, wird Dippold verhaftet. § 226 StGB: Zuchthaus oder Gefängniß nicht unter drei Jahren. Der Erste Staatsanwalt des bayreuther Landgerichtes versichert, die Sektion habe den entsetzlichsten Anblick geboten, den er sich vorstellen könne. Schwurgerichtssache. Voruntersuchung und Hauptverhandlung bringen Thatsachen ans Licht, die in einem Pfennigkriminalroman wie alberne Übertreibungen wirken müßten. In mancher Nacht hat der Lehrer sechs dicke Stöcke an den Schülern zerprügelt. Die Knaben mußten die Schläge laut zählen; bis zu fünfzig. Dazu kamen Fußtritte und Faustschläge auf Gesicht, Schädel, Genitalien. Nachts mit Stricken auf den Tisch oder die Matratze gebunden. Oft mußten die Jungen im kalten Zimmer Stunden lang nackt vor dem Bett stehen; barfuß, mit Frostbeulen, durch den Schnee laufen; einem im raschestem Tempo fahrenden Wagen nachrennen, bis sie athemlos zusammenbrachen; mit entblößtem Unterkörper turnen oder Herrn Dippold, der sich auf dem Sofa räkelte, Küßchen geben; in ihren Betten wurden fast täglich breite Blutflecke gefunden. Der Lehrer legte sich Splitternackt zwischen die Schüler, mißhandelte sie und redete ihnen so lange ein, sie hätten Manustupration getrieben, daß sies endlich zugaben. Alles gaben sie zu. Onanie, Diebstahl, Betrug; um nur ein Bischen Ruhe zu haben. Einmal bedrohte Dippold den älteren Knaben mit offenem Messer; mehr als einmal schlug er den jüngeren mit einer Eisenstange. Zwei Schuldfragen: vorsätzliche Körperverletzung mittels gefährlichen Werkzeuges (Joachim), das Selbe mit tötlichem Ausgang (Heinrich Koch); beide Fragen werden von den Geschworenen bejaht, mildernde Umstände nicht als vorhanden angenommen. Sämmtliche Sachverständige (zu ihnen gehört, trotz der ziegenberger Leistung, auch Herr Dr. Vogt) erklären, »die freie Willensbestimmung des Angeklagten sei nicht ausgeschlossen gewesen«. Keine Phantasie vermag einen gräßlicheren Fall zu erträumen. Der Gerichtsspruch aber bleibt um sieben Jahre unter dem höchsten zulässigen Strafmaß. Herrn und Frau Kommerzienrath Koch werden vor, während und nach ihrer Zeugenaussage Mitleidsovationen bereitet und Trauerkränze gewunden. Kein noch so sanft mahnendes, vorwerfendes Wort. Und der Vertreter der Staatsanwaltschaft beginnt seinen Schlußvortrag mit den Sätzen: »Im großen Publikum war der Glaube entstanden, das Ehepaar Koch sei an dem Tode des Kindes mindestens moralisch mitschuldig. Die öffentliche Verhandlung hat diesen Glauben gründlich zerstört. Der Angeklagte hatte die Frechheit, zu behaupten, die Eltern kümmerten sich nicht um ihre Kinder. Die Verhandlung hat ergeben, daß die Eltern nicht die geringste Schuld trifft.« Das war eines Prokurators Glaube.


Der Fall Runge ist erfunden, kann aber morgen in jedem Landgerichtsbezirk Wirklichkeit werden. Der Fall Koch-Dippold hat sich in der ersten Oktoberdekade des Jahres 1903 am Rothen Main vor Alldeutschlands entsetztem Auge abgespielt. Alldeutschland hat seitdem wieder einen Oger. Einen wirklichen, der in der Geschichte der Sexualpsychopathie fortleben wird. Bald ist ein Halbjahrtausend verstrichen, seit Gilles de Rays hingerichtet wurde, der Marschall von Frankreich, der achthundert Kinder, hundert in jedem Jahr, geschändet, unter wollüstigen Schauern getötet und die hübschesten Köpfchen zum Andenken aufbewahrt hatte. Genau hundert Jahre, seit Donatien Alphonse François Marquis de Sade auf Bonapartes Befehl nach Charenton geschleppt und bis an sein Lebensende in die Irrenzelle gesperrt wurde. Gilles de Rays hatte sich an suetonischer Gräuelmalerei berauscht. Der célèbre Marquis gab den Parästheten des Geschlechtsempfindens die Histoire de Justine ou les malheurs de la vertu und die Histoire de Justine ou les prospérités du vice, die berühmtesten, berüchtigtsten Teufelsbibeln sexueller Perversion. De Sade, der Schaffende, war interessanter als De Rays, der Anempfinder. Revolutionär bis ins Mark der Knochen; überzeugtes Mitglied des Pikenklubs, wo er dem Angedenken des unermeßlichen Tribunen Marat eine Weiherede hielt; Tod den Tyrannen und Haß dem Herrgott seine Losung; seine Weltanschauung sieht ein amoralisches, von bösartigen Molekeln bewegtes Menschenmaschinenreich; sein Hauptvergnügen war, während der Paarung Frauen die Adern zu öffnen oder stark blutende Fleischwunden beizubringen; war solche Lust nicht zu haben, so begnügte er sich, seine Tischgäste mit Kanthariden zu vergiften. Wo Grausamkeit sich der Wollust gesellte, sprach die französische Literatur schon seit dem Jahr 1810 von Sadismus; und nicht den Namen zwar, doch die Anomalie hat, von indischen Mythologen bis auf Novalis, Görres, Kleist, Blumröder, Feuerbach, Lombroso, mancher Künstler und Gelehrte gekannt. Richard von Krafft-Ebing gab 1886 die erste umfassende Kasuistik und schränkte zugleich den Begriff des Sadismus ein, zu dessen Erklärung er zwei konstitutive Elemente anführt: in überreizbaren Wesen entsteht im sexuellen Affekt der Drang, dem Gegenstande der Begierde Schmerz zu bereiten, um so die Macht der Einwirkung zu deutlichstem Bewußtsein zu bringen; die Erobererlust des Mannes wird unter pathologischen Bedingungen zum Verlangen nach schrankenloser Unterwerfung und mitleidloser Peinigung des Weibes. Im zweiten Bande von Feuerbachs Sammlung »Merkwürdiger Kriminalrechtsfälle« steht die grause Geschichte von Andreas Bichel, dem Mädchenschlächter; und der »Königlich Bayerische Wirkliche Frequentirende Geheime Rath«, der den Bichel nicht gerädert, sondern enthauptet sehen wollte, leitet sie mit den Sätzen ein: »Eine menschliche Seele ohne alles menschliche Gefühl, Verbrechen, die an Grausamkeit, Tücke, Kaltblütigkeit das Höchste erreicht haben, was des Menschen Wille zu erreichen vermag: Diese sind der Gegenstand dieses Vortrages. Ich bedarf aller Kräfte der Selbstüberwindung, um bei dem empörten Gefühl schwer beleidigter Menschheit jene Ruhe zu bewahren, welche die Pflicht des Amtes von mir fordert.« Fast besser noch als auf den von Lombroso mitgetheilten Fall des Verzeni, auf den Frauenmörder von Whitechapel und auf Krafft-Ebings Knabengeißler passen diese Worte auf Dippold, den Bauernsohn und Priesterzögling, der nach verfrühter, wüster und langer Ausschweifung konträre Sexualempfindung sadischer Neigung vereint. Ein Lehrer, der seine Schüler schändet und sie dabei noch, um sein Lustgefühl zu steigern, langsam zu Tode martert: Priapos selbst hat Gräßlicheres am Hellespont niemals erschaut. Penthesilea und Messalina erröthen schamhaft in solchem Anblick; und Katharina von Medici, die das Auge an den gepeitschten Gliedern ihrer Hofdamen weidete, steht wie ein harmlos lüsternes Jüngferchen neben dem Bayern aus Drosendorf, der vornan in die Gräuelreihe der De Rays und De Sade gehört.

Und dennoch ... Trotz dem Ersten Staatsanwalt am bayreuther Landgericht will die Frage noch nicht verstummen, ob Dippold allein schuldig ist. »Wer eine wegen jugendlichen Alters hilflose Person, die unter seiner Obhut steht, in hilfloser Lage vorsätzlich verläßt, wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten bestraft. Wird die Handlung von leiblichen Eltern gegen ihr Kind begangen, so tritt Gefängnißstrafe nicht unter drei Monaten ein. Wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, tritt Zuchthausstrafe nicht unter drei Jahren ein.« Unzählige Mütter hat dieser § 221 schon ins Zuchthaus gebracht; und nicht immer wards mit dem »Vorsatz« gar so genau genommen. Von einem Vorsatz kann in unserem Fall nicht die Rede sein; doch der nächste Paragraph, der nicht nur im fingirten Fall Runge angewandt wurde, bedroht Eltern, deren Fahrlässigkeit den Tod eines Kindes herbeiführt, mit der Maximalstrafe von fünf Jahren Gefängniß; und auch die fahrlässige Körperverletzung wird besonders streng an Denen geahndet, die »vermöge ihres Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders zu der Aufmerksamkeit verpflichtet waren, welche sie aus den Augen setzten«. Die Nichtanspannung der Aufmerksamkeit, sagt Geheimrath von Liszt, erscheint als Willensschuld; und er fügt hinzu, der Mangel an Voraussicht erscheine auch als Verstandesschuld, wenn die Frage nach dem geistigen Können des Thäters bejaht werden müsse. »Fahrlässigkeit ist die pflichtwidrige Nichtkenntniß der verursachenden Bedeutung des Thuns oder Unterlassens; pflichtwidrig ist die Nichtkenntniß, wenn der Thäter sie hätte erlangen sollen und können.« Nach dieser Norm werden Leute eingesperrt, die nicht bedacht hatten, daß in der Tasche des Ueberrockes, den sie in der Theatergarderobe abgaben, eine Schußwaffe stecke, die sich entladen und einen Menschen verletzen könne. Sollte und konnte das reiche Ehepaar Koch, nach Allem, was warnend vorausgegangen war, Kenntniß davon erlangen, daß ihrer Kinder Leben unter der unumschränkten, unkontrolirten Herrschaft eines durch Lüderlichkeit aus dem Gleis geworfenen Burschen gefährdet sei? Sollte und konnte das kluge Paar Kenntniß vom Vorleben Dippolds erlangen? Einem frömmelnden Rechtskandidaten die ärztliche Behandlung zweier Kinder anvertrauen, deren psychische und physische Gesundheit es zerrüttet wähnte? Sollte, konnte, mußte festgestellt werden, allerspätestens nach der Depesche des Bürgermeisters von Ballenstedt, wie in Ziegenberg und im nicht minder idyllisch gelegenen Drosendorf das große Wort Hippels gedeutet wurde: »Erziehen heißt: wecken, was schläft, kühlen, was brennt, mit Schnee reiben, was erfroren ist«? .. Unsere Rechtspflege kann in guten Stunden auch mild sein. Wir haben, nur wir, noch Staatsanwälte und Richter, die an die altmodische Mär von den bis zu völliger Erschlaffung überbürdeten Bankdirektoren inniglich glauben und von Hupka und Kaiserhof, von den Logengästen der Luxustheater, von Spielchen und anderer Klublust, von den kleinen und großen Diners nicht mehr gehört haben als der neue Pharao einst von Joseph. Und wir haben kein Femgericht, das solche spottbillige Ausrede mit Friedlosigkeit straft und den Sündern wider die einfachste, kaum schon als Menschenprivileg zu betrachtende Elternpflicht das Gastrecht auf Wasser und Feuer abspricht. Aqua et igne interdictus. Lang ists her. Nicht einmal das sanftere Recht des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich tritt unbarmherzig stets, ohne Ansehen der Person, in Kraft, Da steht im § 1666: »Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht oder das Kind vernachlässigt, so hat das Vormundschaftgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen.« Das gilt, nach § 1686, auch für die elterliche Gewalt der Mutter. Wo aber wäre Jojo besser aufgehoben als unter der Obhut von Papa, der die Söhne aus erster Ehe zu »erstklassigen Menschen« erzogen, und von Mama, die dem Schinder »für seine Aufopferung ein Extrahonorar von fünfhundert Mark« geschickt hat? Jetzt wird sich im Hause Thiergartenstraße 7 A für den zufällig überlebenden Knaben ja vielleicht sogar ein Unterrichtszimmer freimachen lassen. Und am Ende entbürdet die Deutsche Bank den allzu geplagten Papa bald beträchtlich ... Wir sind human. Wohin nun das Auge blickt: Mitleid, Theilnahme, judenchristliche Menschenliebe. Und das Leitmotiv: Furchtbar, daß eine so vornehme Familie ohne die Spur eigenen Verschuldens so grausam heimgesucht ward. Es ist eine Lust, zu leben.


In einer Mußestunde sollten die Mitleidigen einen Gelehrten fragen, ob der unverehelichten Runge die Muttergewalt nicht geschmälert worden wäre, wenn ihr Kleines den Brechdurchfall überstanden und die Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung dennoch Erfolg gehabt hätte. Inzwischen wollen wir Ungelehrten uns ausmalen, wie es in Bayreuth gekommen wäre, wenn ein rauherer Gerichtshof Herrn oder Frau Koch oder Beide der Fahrlässigkeit dringend verdächtig gefunden und (wegen Gefahr der Kollusion mit Jojo und anderen kommerzienräthlicher Macht unterstellten Zeugen) in Untersuchunghaft genommen hätte. Dann wurden sie nicht beeidet, waren also auch nicht »durchaus glaubwürdig«, hätten gegen allerlei beschworenen Dienstbotenklatsch zu kämpfen und vielleicht manches unzärtliche Wort herunterzuschlucken gehabt. Und der Vertreter der Anklage hätte dann im Schluß Vortrag von der gewaltigen sozialen Lehre dieses Prozesses gesprochen, der in blutrothen Schriftzeichen die alte Wahrheit erneue, daß sorgende Elternliebe allein reichen wie armen Kindern sichere Häuser baut.


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