Heinrich Hansjakob
Meine Madonna
Heinrich Hansjakob

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4.

Der junge Becke-Toweis hatte das Recht, ein Weißbeck, d. h. ein Brotmacher erster Klasse zu sein. Die Zünftler, welche das tägliche Brot, das Mark der Männer, in Althasle buken, teilten sich in Weißbecken und in Schwarzbecken. Die ersteren durften Brezeln, Mutscheln, Wecken und Weißbrot fabrizieren und verkaufen, die andern nur schwarzes »Kürnenbrot« und halbweiße Groschenlaible.

Unter dem Rathaus allmorgentlich ihre Waren feilhalten und am Sonntag auf den Dörfern vor der Kirche ihr Gebäck den Bauersleuten anbieten zu dürfen, das war ein weiteres Vorrecht der Weißbecken.

Märtyrer, d. i. arme Leute, waren trotzdem mehr oder weniger beide Sorten von Bäckern. In der ersten Klass' durften nicht jeden Tag alle, sondern nur abwechselnd je zwei backen; denn der Konsum war an Werktagen nicht groß. Die zweite Klasse aber brachte ihr Schwarzbrot nur spärlich an den Mann, weil dasselbe fast in jedem Hause selbst gebacken wurde.

Der Toweis war noch ein Glückskind unter seinen Zunftgenossen. Sein Bäckerhaus war dem Marktplatz und der Kirche zunächst gelegen, und das brachte ihm Kunden.

In jenen Tagen gingen nur die eigentlichen Buren ins Wirtshaus, wenn sie ins Städtle kamen; die Taglöhner und Knechte und die Wibervölker vom Land begnügten sich mit einem Wecken, zu dem die letztern sich im Winter von der Bäckerin eine Suppe kochen ließen.

Ich selbst sah in meiner Knabenzeit noch Landleute genug an Markt- und Sonntagen vor dem Rathaus stehen und ihren Wecken verzehren und dann heimgehen.

Zur Winterszeit kamen die Wibervölker in meine väterliche Bäckerstube, bestellten sich eine Milchsuppe mit Weißbrot und kauften dann noch einige Wecken, um sie mit heimzunehmen.

Das Haus des Toweis hatte noch einen weitern Vorteil: man konnte von zwei Seiten und von zwei verschiedenen Gassen in dasselbe gelangen, aus der »vordern Gasse« und aus der »Bachgasse«.

So kam es, daß er mehr Brot verkaufte wie die andern und an Markt- und Sonntagen seine Stube voll hatte von Landleuten. Die Magdalene und ihre Magd konnten nicht genug Milchsuppen kochen und Wecken verkaufen.

An die Stube stieß die Backstube, nur durch eine Türe mit Fenster von jener getrennt. Aegyptische Finsternis herrschte in ihr, und das Fenster in der Türe vermochte das tiefe Dunkel nicht zu erhellen.

Darum stand Sommer und Winter die Backstubentüre offen, und die Backmulde konnte alles sehen und hören, was draußen in der Stube vorging.

Neben ihr war die »Wirkbank«, ein großer Tisch, auf dem der Toweis den in der Mulde bearbeiteten Teig abwog und ihm die nötige Form gab. Das Abwägen besorgte in den ersten Jahren die Magdalena Es mußte gewissenhaft gemacht werden; denn die drei vom Rat aufgestellten Brotschauer kamen unverhofft und wogen beliebige Fabrikate ab, und der Rat diktierte dem Bäcker, dessen Ware zu leicht befunden worden, alsbald eine Geldstrafe.

Der Mulde gegenüber stand eine Sitzbank für die Gäste, die dem Toweis zuschauten bei seiner vormitternächtlichen Arbeit und mit ihm plauderten, bis die ersten Wecken aus dem Ofen kamen.

Sommers- und Winterszeit hatten die Bäcker solche Besuche, meist Freunde und Nachbarn, die nach ihrem Feierabend noch nicht ins Bett wollten und weder Lust noch Geld hatten, um ins Wirtshaus zu gehen.

Der erste nächtliche Gast, der zum Toweis kam, war der alte Förster Balzer. Er bekleidete neben seiner Waldhüterei auch das Amt eines Vormitternachtwächters, und am ersten Abend, da der Toweis buk, erschien er. Er hatte schon die elfte Stunde gerufen, und der Bäcker nahm eben das erste gebackene Brot aus dem Ofen, als der Balzer am Fenster klopfte und Einlaß begehrte.

Er wollte, so meinte er, auch die schöne Buche einmal begucken, die er dem Bäcker angewiesen, und schauen, ob sie einen guten Platz habe.

Der Toweis hieß den Alten gerne willkommen, da er ihm ohnedies noch ein Trinkgeld schuldig war, bat ihn aber, zu warten, bis er vollends das Brot »aus dem Ofen geschossen« habe.

Nachdem dies geschehen, löschte er die »Blashölzle« im Ofen, nahm seine Oellampe und zündete dem Förster in die Backstube mit den Worten: »Da schaut, Balzer, was für eine schöne Mulde aus der Buche geworden ist.«

Diese aber hätte beim Anblick des Waldhüters laut aufschreien mögen, wie eine Fürstentochter, die jemand im Palast ihres Vaters kennen gelernt hat und nun in einem dunkeln Gefängnis wieder findet.

Sie dachte, die Mulde, als sie den Balzer wiedersah, an ihr Leben in Gottes freier Natur, an ihre Jugendzeit in Gottes Wald und unter Gottes Sonne, an die Zeit, da der Waldhüter an ihr, der Glücklichen, vorüberging, und an die vielen Stunden, da arbeitsame, zufriedene Menschen Schutz und Ruhe suchten unter ihren hellgrünen Zweigen.

An all das erinnerte sie sich beim Anblick des alten Balzer und sie ächzte vor Weh so hörbar, daß der Bäcker meinte: »Das Holz schafft immer noch.« Er hatte keine Ahnung, daß dies Leben und Regen herber Schmerz war.

Der Waldhüter aber, der seine Bäume Wohl kannte, sprach die schönen Worte: »Der Geist weicht nie ganz aus dem Holz; selbst wenn man Mark und Herz den Bäumen ausbohrt, reißt's und schafft's noch in ihnen. Sie haben ein weit zäheres Leben als wir Menschen.«

Dann erzählte er dem Toweis, wie die Weibsleute ihn verschimpft hätten, weil er ihm die Buche ausgelesen, und wie er sich habe verteidigen müssen.

Dies hörte die Mulde, und es war ihr ein Trost, daß es noch mitleidige Menschen gebe, und auch sie erkannte wie ihr Geschichtschreiber, daß der bessere Teil der Menschheit die Wibervölker seien.

Der Toweis nahm den Balzer nun in die Stube und schenkte ihm für drei Batzen neugebackenes Weißbrot.

Fortan kam er noch manchen Abend zum Bäcker, der greise Nachtwächter und Waldhüter, bis der Sensenmann ihm seine Wächterrufe und seine Waldhut abnahm und ihn zu den Toten legte.

Wenige Tage nach seinem Tode sprach niemand mehr vom Balzer. Daß er aber in diesem Büchlein nach anderthalb Jahrhunderten wieder aufersteht, verdankt er der Buche, deren Unglück er verschuldet. –

Die meisten Besuche in der Backstube hatte der Toweis von seinen Jugendfreunden, dem Schuster Josef Heim und dem Glaser Hans Kürnberger. Beide wohnten in der Gasse, die an der Rückseite des Bäckerhauses hinzog, und kamen über den Stadtbach von hinten ins Haus. Zahllose Abende saßen sie in der Backstube und diskurierten altes und neues. Der Schuh-Sepp kam allzeit im langen Rock und im Dreispitz, in kurzen Hosen und Schnallenschuhen, während der Glaser-Hans im Alltagshäs – alte Kniehosen, Schlappen, Kittel und weiße Zipfelkappe – erschien. Eine weiße Zipfelkappe trug ständig auch der Toweis.

War der Bäcker gen Mitternacht fertig mit seiner Arbeit, so setzten sich alle drei noch in die Stube zu frischem Brot und einem Krug Wein und rauchten und schnupften dazu.

Der Glaser-Hans war ein gewaltiger Raucher; den Bäckern und Metzgern aber war Rauchen und Schnupfen in ihren Werkstätten vom Rat aus verboten. Gleichwohl übertraten die Metzger dies Verbot gerne; sie rauchten selbst beim Fleischaushauen und mußten immer und immer wieder obrigkeitlich vermahnt und gestraft werden.

Das Schnupfen ging in jenen Tagen in Hasle noch flotter als das Rauchen, besonders nachdem die Stadt selber mit fürstlicher Erlaubnis eine Tabakstampfe mit Wasserbetrieb eingerichtet hatte.

Daß der Schuh-Sepp allzeit elegant auftrat, kam daher, weil die Schusterzunft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus auch die eleganteste war im ganzen Städtle.

Ihr Zunftbrief, der 1718 die landesherrliche Bestätigung gefunden hatte, war der ausführlichste von allen Zünften und zeugte durchweg vom Stolz der damaligen Meister Knieriem.

Sie nahmen keinen Lehrling in ihre schwarze Zunft auf, außer er war von frommen, ehrlichen Leuten und im Stande der heiligen Ehe geboren.

Kein Meister durfte mehr als drei Stühle in seiner Werkstätte besetzen, damit seine Konkurrenz nicht zu groß würde. Wenn die Zunft auf der Herberge beisammen war, mußte jeder Meister, Knecht und Junge anklopfen und mit dem Gruß eintreten: »Mit Gunst, ihr ehrlichen Meister und Gesellen.« Wer eines oder das andere unterließ, zahlte acht Kreuzer Strafe in die Zunftlade.

Wer vor versammeltem »Handwerk« etwas zu sagen hatte, mußte aufstehen und sprechen: »Mit Gunst, ihr ehrlichen Meister und Gesellen« – und mit dem gleichen Gruß sich setzen. Wer's übersah, wurde mit dem gleichen Betrag bestraft.

Jedes Mitglied der Zunft, so vor dem Handwerk erschien und nicht die drei obern Knöpfe oder Haften am Rock zu hatte, mußte eine »Kante« Wein bezahlen.

Wer Wein verschüttete, hatte so viele Kanten zu zahlen, als der ausgelaufene Wein Spannen Raum einnahm.

Wer übermäßig trank, bezahlte ein Pfund Wachs in die Kirche.

Welcher Meister oder Knecht ohne Halstuch, Hut und Handschuhe ausging, büßte mit zwölf Kreuzern Strafe.

Welcher Schuhknecht ein Mägdlein unanständig berührte, bezahlte einen halben Wochenlohn in die Zunftlade.

Wer den andern einen Bärenhäuter nannte, zahlte acht Kreuzer Strafe.

Wer einem andern von der Zunft einen Uebernamen gab, mußte eine Kante Wein ponieren. Wer von der Zunft auf der Gasse Brot, Aepfel oder Birnen verzehrte oder gar an einem öffentlichen Brunnen trank, den traf die gleiche Strafe.

Wer als Schuhknecht blauen Montag machte, hinterließ einen halben Wochenlohn.

Wer zechen wollte, mußte es in der Herberge tun oder im Wirtshaus, nie in einem Privathaus.

Am Fest der Patrone, der Heiligen Crispinus und Crispinian, zogen Meister und Meisterinnen, Knechte und Jungen paarweis in die Kirche, wo das Strafwachs angezündet wurde. –

Wir sehen, das war eine noble Zunft, und der Schuh-Sepp sprach darum mit Stolz von den ehrlichen und vornehmen Artikeln seines Handwerks.

Der Glaser-Hans machte dagegen immer wieder geltend, daß auch seine Zunft, zu welcher die Schreiner und Schlosser noch gehörten, eine rechtschaffene sei und in einem Punkte über den Schustern stehe. Es dürfe nämlich in ihr kein Meister die Tochter eines Mühlknechts, eines Stadtknechts, eines Schinders (Abdeckers) oder Scharfrichters heiraten.

»Aber eure Zunft verwandelt alle Strafen in Wein und euch ist's dabei nur ums Saufen,« meinte der Toweis, als der Glaser-Hans eines Abends die Zunftartikel mitgebracht und verlesen hatte. »Wenn ein Meister dem andern seine Kunden abschwätzt, kostet es vier Maß; ebensoviel, wenn einer dem andern seinen Gesellen wegspannt.«

»Wer ausschwätzt, was in der Zunftstube verhandelt wird, hat das gleiche zu zahlen.«

»Wer auf der Herberge schwört, flucht oder unsittlich redet, zahlt je nachdem vier, sechs, acht Maß.«

»Da sind wir die Frömmsten,« fuhr der Toweis fort, »wir Bäcker und Müller. Wir legen alle Strafen in Wachs an, und wenn wir am Zunfttag in die Kirche einrücken und der Jungmeister die vielen Kerzen anzündet, da meint man, unsere Kirche sei der Himmel, so glänzt's und glitzert's.«

»Bei uns ist die Zunftlade ein Heiligtum. Sobald sie geöffnet wird, muß alles schweigen, und wer flucht oder schwört, so lange die Lade offen ist, der wird mit dreißig Kreuzern gestraft.«

Die empfindsamste Zunft war aber die der Schmiede. Von ihr erzählte in der Backstube ein anderer Freund des Toweis, der Hufschmied Josef Fideli Sandhas. Bei seiner Zunft durfte kein Meister an dem Karren des Schinders etwas machen, ehe derselbe im fließenden Wasser gewaschen war. Und kein Hufschmied durfte ein Pferd beschlagen, wenn der Schinder dem Tiere dabei das Bein aufheben wollte.

Dieser Hufschmied Sandhas ließ zuerst den Geniegeist der von mir in den »Wilden Kirschen« geschilderten Familie Sandhas aufleuchten.

Er machte in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts den Haslachern eine neue Feuerspritze mit von ihm erfundenen Verbesserungen. Die Kunde davon drang bis zum Fürsten Josef Wenzel. Er ließ den Mann, welchen der Obervogt Lamberger in Hasle aufs höchlichste als Erfinder gepriesen, nach Donaueschingen kommen und bestellte bei ihm eine Feuerspritze für seine Residenz, die zur vollsten Zufriedenheit ausfiel und 700 Gulden kostete.

Die für Haslach gefertigte sah ich noch in meiner Knabenzeit im »Spritze-Hüsle« neben dem »Narrehüsle« stehen. Sie hieß »die Alt« und war ganz zinnoberrot angestrichen. –

Die alten Zünfte waren in katholischen Gegenden zugleich religiöse Bruderschaften. Der Patron der Zunft war stets ein Heiliger der christlichen Kirche. Sein Fest war ein Feiertag für Meister, Gesellen und Jungen und für Weiber und Kinder der ersteren.

Leid und Freud begingen und trugen alle Mitglieder der Zunft gemeinsam und allzeit unter dem Segen und Trost der Religion.

Sonntagsheiligung stand bei allen obenan, und selbst die Bäcker durften am Sonntag nur dann backen, wenn am andern Tag ein Jahrmarkt war.

Auch in der Richtung kann man von der guten, alten Zeit reden. –

Einer gemeinsamen Zunft mußten alle Handwerker alsbald, nachdem sie sich bürgerlich niedergelassen, sowie ihre erwachsenen Söhne, beitreten – der Schützenzunft, die eine Art Nationalgarde war.

Die alte Schützengilde war erst 1749 wieder aufgerichtet und vom Fürsten Josef Wilhelm Ernst bestätigt und mit neuen Satzungen versehen worden.

Die Franzosen hatten zu Anfang des Jahrhunderts bei der Einäscherung der Stadt auch das alte Schützenhaus auf dem Mühlengrün verbrannt, und ein neues war jetzt wieder gebaut worden.

Am ersten Sonntag nach Georgi, wenn der Frühling ins Land gekommen war, zogen die Schützen hinaus auf den Grün, und es wurde von da ab jeden Sonntag geschossen.

Mit Trommeln und Pfeifen und Fahne rückten die Schützen aus, alle Mannen vom 19. bis zum 40. Lebensjahr umfassend. Nur wer mit »Leibesgebresten« behaftet war, wurde von der allgemeinen Vorschrift, wenigstens sechs Tage im Jahre zu schießen, dispensiert.

Alljährlich petitionierten dann die Schützen beim Fürsten um eine »milde Schützengabe«, die jeweils zwischen sieben und elf Gulden schwankte.

Aber alljährlich mußten die Tapferen, die sich im Schießen übten, damit sie in gefährlichen Zeiten das kleine fürstenbergische Vaterland verteidigen könnten, um die Erlaubnis fragen, ob sie ihr Schießhaus wieder öffnen dürften.

Das war weise von der Regierung, welche, so oft ein revolutionärer Geist in den Haslachern sich zeigte, das Schießhaus schloß und das Schießen einstellen ließ. Das Volk in Waffen hätte sonst gegen das eigene Vaterland aufstehen können.

In friedlichen Zeiten schossen die Mannen um friedliche Lorbeeren: um die »milde Gabe« des Fürsten und um große Brezeln, um Zinnteller etc. – In den ersten Jahren kam zum Toweis auch noch allwöchentlich zweimal sein alter Lehrer, um ihn zu rasieren; denn ein Bäcker durfte in jenen Tagen, wenn er Brot verkaufen wollte, keinen Bart tragen.

Das war ein Original, der Hans Michel Isemann, Balwierer und Schulmeister in Hasle. Eines Burgers Sohn und später selbst Burger, hatte er das Baderhandwerk studiert beim Klosterchirurgen in Gengenbach. Im Kloster hatte er aber nebenbei auch Lesen, Schreiben, Rechnen und das Orgelschlagen erlernt. Und als das Balwieren sich nicht mehr rentierte, teils wegen der Konkurrenz, teils weil die meisten Bürger den Bart selber schabten, bewarb er sich 1716 um den Dienst des Schulmeisters, natürlich ohne sein Metier aufzugeben.

Bis 1743 bekleidete er den Schuldienst schlecht und recht, aber mehr schlecht als recht. Er saß oft im Wirtshaus oder ging aufs Rasieren und ließ die Kinder in der Schule allein toben, so daß sie, wie der Rat dem Schulmeister öfters vorwarf, weder in der Gottesfurcht, noch im Lesen, Schreiben und Rechnen Fortschritte machten.

Wenn der Pfarrer mit dem Allerheiligsten zu einem Kranken mußte, sollten der Schulmeister und sämtliche Kinder mitgehen und den Rosenkranz beten. Das unterließ und übersah der Hans Michel öfters und wurde darüber vom Rat zur Rechenschaft und Strafe gezogen.

Aber ein praktischer Pädagoge war er doch, was allein aus dem folgenden hervorgeht. Der Rat der Zwölfer in Hasle verurteilte Feld- und Gartendiebe jeweils zur Strafe der öffentlichen Ausstellung am Rathaus, wobei ihnen eine Tafel an den Hals gehängt wurde mit der Inschrift: »Du sollst nicht stehlen.«

Sobald nun der Hans Michel von seiner Schulstube aus einen solchen Verbrecher ausgestellt sah, kam er mit allen Schulkindern und führte sie paarweise an dem Delinquenten auf und ab, um ihnen das siebente Gebot Gottes an der Strafe des Ausgestellten einzuprägen.

Daß er selber dabei oft von dem Sträfling beschimpft wurde, genierte ihn nicht. Einmal war der Hans Michel Sundthofer, der Ochsenhirt, ausgestellt, weil er am Sonntag »unter der Kirch bei 's Pfarrers Käppele Nüsse geschwungen«.

Als nun sein Namensvetter mit den Kindern kam, beschimpfte ihn der Ochsenhirt und warf mit Steinen nach ihm.

Er wurde dafür mit »Beturmung bedacht«, der rasierende Schulmeister aber ermahnt, seine Prozession in Zukunft ob des Sundthoferschen Frevels ja nicht zu unterlassen. –

Der Rasierer war aber auch ein unparteiischer und demokratischer Lehrer. Das mußte er jedoch büßen. An einem Aschermittwoch hatte er vor dem Abendgottesdienst »Miserere« dem unartigen Söhnlein des Obervogts Schelm gesagt und ihn an den Haaren gezogen.

Der Vater Pascha klagt beim Rat, und dieser verurteilt den braven Schulmeister zu zwölf Stunden Turm und zur Abbitte beim Obervogt. –

War die Schulzeit aus, so führte der Hans Michel seine zwei Geißen auf die Weide. Das amtliche Geißenmaidle war zeitweilig abgeschafft worden, weil der Rat meinte, die Geißen seien schädlich in Wald und Hag. Darum hütete der Hans Michel die seinigen selber, wurde aber öfters gestraft, weil sie an fremdem Gras »gefrezt« hätten.

Während er den Toweis rasierte, sprach er mit diesem gerne von dessen Schulzeit. Er sei sein bester Schüler gewesen, könne schöner schreiben als er, der Lehrer selbst, und werde unzweifelhaft noch in den Rat berufen.

Die jetzigen Abbés Schwab und Wüst, zwei geborene Haslacher, seien auch bei ihm in die Schule gegangen, aber so gut wie diese oder noch besser hatte der Toweis auch den Studien obliegen können. Aber er erzählte seinem Schüler unter den Ohren seiner Backmulde auch viel von dessen Vater, dem Hans Georg Hansjakob, den der Sohn nicht mehr gekannt.

Er erzählte ihm namentlich von den tapfern Reden des Vorstadtwebers bei der Revolution der zwanziger Jahre.

Oefters klagte der Hans Michel auch über den Rat, der ihm schon 1743 den Schuldienst gekündigt und ihn so gezwungen habe, mit zitternder Hand noch dem Balwieren nachzugehen.

Aber die Strafe dafür sei über die Kinder der undankbaren Väter gekommen. Sein Nachfolger als Schulmeister, Franz Josef Faller von Gottenheim im Breisgau, der sei ein Trinker und Spieler gewesen. Keine zwei Jahre habe er ausgehalten.

Dem jetzigen, dem Franz Antoni Bechtiger, wolle er nicht nahe treten; der sei ein rechter Mann und guter Schulmeister, aber im Orgelschlagen komme er ihm, dem Hans Michel, nicht bei.

Und ob er so lange als Schulmeister wirke wie er, der Hans Michel, sei eine Frage.

Alle besseren Burger, die meisten Ratsfreunde seien seine Schüler gewesen. Freilich habe er deß' wenig Dank geerntet. Die Zwölfer hätten ihn nicht bloß abgesetzt, sondern ließen sich auch nicht einmal mehr von ihm balwieren.

Die beste Kundschaft hätten die Chirurgen Dimmeler und Wüst; aber in all ihren Hantierungen und selbst im Latein nehme er es auf mit ihnen.

Dem Dimmeler sei es passiert, daß er vom Kreuzwirt Engler nichts bekommen habe für Behandlung seiner Tochter, weil nicht er, der Dimmeler, sondern die Muttergottes in der Mühlenkapelle geholfen habe.

Trotzdem beide Chirurgen ihm das Brot wegnähmen, wo sie könnten, komme doch keiner auf einen grünen Zweig. Die welschen Medizinalwarenhändler, der Miccoli und der Zannier, hätten schon mehr als einmal bei Rat und Gericht geklagt, daß sie kein Geld bekämen von ihnen.

Und der Sonnenwirt beim Turm im Gutachertal habe noch von dem Dimmeler das Geld zu gut für ein Schwein und sei klagend vor den Zwölfern erschienen. Der Rat habe dem Beklagten gedroht, wenn er nicht in Kürze bezahle, dann solle der Sonnenwirt sich auf des Chirurgen Kosten in ein Wirtshaus zu Hasle legen und liegen bleiben, bis er bezahlt sei.

In Hasle komme überhaupt kaum ein rechter Chirurg fort; ein approbierter Arzt, der die hohe Schule zu Freiburg gänzlich absolviert, halte es gar nicht aus.

Der einzige Stadtarzt, der seines Gedenkens hier gewesen, der Lorenz Hall, habe nebenbei noch den Ratschreiberdienst übernehmen müssen, um leben zu können. –

So und ähnlich erzählte der greise Hans Michel oft seinem Schüler Toweis, und er erlebte es noch, daß dieser 1763 Vorsprech wurde. Bald darauf nahm der Tod dem Alten das Rasiermesser aus der zitternden Hand. Aber lange, lange noch sprachen seine Schüler vom Schulmeister Hans Michel Isemann, dem letzten, unstudierten Haslacher, der das Lehramt in seiner Vaterstadt verwaltet hatte.

Die Backmulde hörte aber nicht immer so friedliche Klagen, wie der alte Rasierer sie ausstieß. Sie hörte auch erzählen von Revolten und erlebte Zeiten, in denen die Haslacher Burger anstürmten gegen ihre allergnädigste Herrschaft.


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