Heinrich Hansjakob
Meine Madonna
Heinrich Hansjakob

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2.

Es ist ein trüber, aber warmer Novembertag des Jahres 1901, da ich, in der Karthause am Fenster sitzend, hinausschaue ins herbstliche Dreisamtal. Graue Nebel haben den Wald in einen dichten Schleier eingehüllt. Auf den Matten am Flusse hin blühen die letzten Herbstzeitlosen. Kein Windhauch geht durch die Bäume und kein Menschenkind über die Straße unten im Tal.

Ueberall Bilder des Spätherbstes und Vorboten des Winters. In mir selbst ist längst Winter, Winter des Lebens und Winter der Lebensfreude. Mir blühen nicht einmal mehr Herbstzeitlosen, und Nebel legen sich über meine Seele, nicht wie die duftigen Schleier in der Natur, sondern wie kalter Reif. Die Zukunft heißt Tod – Tod für die Natur. Tod für mich.

»Schau in die Vergangenheit, wenn dir Gegenwart und Zukunft so trübe sind,« also sprach in mir an diesem Tage mein Geist und fuhr fort: »Setze dich jetzt vor deine Madonna und laß dir von ihr erzählen aus der Vergangenheit, auf daß du vergissest die Gegenwart und die Zukunft.«

Ich folgte diesem Rat. Der Kleine ging mir helfend zur Seite, und schnell hatten wir uns in Rapport gesetzt mit dem gotischen Madonnabild, das in goldenem Mantel und rotem Kleide seit vierzehn Tagen in meinem »Salon« stand.

Ich lauschte aufmerksam, und bald waren Herbst und Winter in und außer mir vergessen, denn das Bild erzählte aus dem Lande meines Jugendglücks, aus dem Paradiese meiner Knabenzeit.

Ich bin, also hub es zu reden an, eine Holzmadonna, nicht wie alle andern aus Lindenholz, sondern aus Buchenholz, das bekanntlich ob seiner Sprödigkeit von Bildhauern sonst nie bearbeitet wird.

Wie die Aeste eines Baumes seine Arme und das Laub dessen Haare sind, so war ich der Rumpf einer Buche, die am sonnigen Rande des »Urwalds« von Hasle stand.

Die Sicht auf Städtle und Tal und Fluß, welche ich von meinem Standort aus genoß, werde ich nie vergessen. Und du wirst als »Haslemer« das begreifen. Du kennst jenen Blick vom »roten Kreuz« aus und bist gewiß oft entzückt dort oben gestanden, wo ich schon lange stand, ehe dein Großvater, der Eselsbeck, auf der Welt war.

Hier lernte ich die ersten Haslacher kennen, da sie unmittelbar vor meinen Augen ihre Bergfelder bebauten. Im Frühjahr säeten und setzten sie, und im Sommer und Herbst ernteten sie ihre Halm- und Hülsenfrüchte. Erdäpfel gab es damals noch keine im Kinzigtal.

Wenn die Leute von ihrer Arbeit rasteten, setzten sie sich mir zu Füßen, holten aus einer Quelle, die drüben in einem stillen Grunde rieselte, einen Trunk Wasser, aßen Brot dazu und sprachen von Leid und Freud, wie sie das Leben im Städtle drunten mit sich brachte.

Ich war nie allein an meinem sonnigen Waldrand auf der Höhe. Waren keine erwachsenen Menschen da, so kam die Jugend. Im Herbst hüteten die Knaben drüben im grünen Grunde und sangen bei Wies' und Quelle ihre Hirtenlieder. Wenn dann der Reif sie heimtrieb ihrer Tiere wegen, kamen die Kinder erst recht zu mir. In hellen Scharen zogen sie den Berg herauf und suchten im Laub die Buchnüsse, die ich und meine Gefährtinnen samt dem goldenen Laub hatten fallen lassen.

Und wenn endlich der Winter ins Land gezogen war und sein Leichentuch ausgebreitet hatte über Berg und Tal, wenn die Tannen ächzten unter der Schneelast und die Kristalle auf der Schneedecke glänzten im Sonnenlicht, da keuchten die Knaben abermals den Berg herauf mit ihren Handschlitten und fuhren mit Windeseile zu Tal.

So fand ich meine Freude und meine Unterhaltung bei euch Menschen, groß und klein, zu allen Zeiten des Jahres, und ich glaubte, es gäbe nichts Schöneres, als ein Mensch sein und friedlich seinen Acker bauen, sein Vieh hüten, Buchnüsse lesen und Schlitten fahren zu können.

Eines Tages nun, es war im Frühjahr des Jahres 1755, sollte meine Freude arg getrübt werden.

Es war ein heller, lichter Märzentag; die Sonne hatte den Reif längst weggeküßt von den Feldern zu meinen Füßen. Die Knechte des Sonnenwirts Fideli Fackler hatten Haber gesäet und rasteten eben bei Schnaps und Schwarzbrot am Waldrande. Zu ihnen trat, aus dem Walde kommend, der städtische Waldhüter oder, wie er damals hieß, der Förster – Balthasar Mauser.

Der »Balzer«, wie er im Volksmunde genannt wurde, war trotz seines stolzen Förstertitels ein armer Burger, der alljährlich in seinem Amte bestätigt werden mußte. Schuhmacher seines Gewerbes, konnte er das Sitzen nicht wohl ertragen und hatte sich vor Jahren schon um die Försterstelle gemeldet und sie erhalten.

Bei der im Jänner eines jeden Jahres vorgenommenen Aemterbesetzung durch den Stadtrat ward sie dem Balthasar Mauser jeweils aufs neue übertragen worden mit dem Beisatz, »er solle sich auch dieses Jahr wieder fleißig und getreu einstellen.«

Sein Lohn waren zehn Gulden und vier Klafter Holz. Bei solchem Lohn blieb der Balzer auch als Förster das, was er vorher war – ein armer Mann. Drum nahm er an jenem Morgen die Einladung der Knechte zu einem Schluck Schnaps und einem Stück Schwarzbrot gerne an.

Während nun die drei so beisammen saßen, kam ein junger Mann den Hohlweg herauf. Bei seinem Anblick meinte der Waldhüter: »Das ist der junge Briemel. Was mag der wollen? Er hat doch keine Felder da oben!«

Eigentlich hieß der Ankömmling nicht Briemel, sondern Hansjakob; aber sein Vater, der ein Weber und Krempler war, hatte seine Kremplerei mit Eiern, Butter, Mehl, Bohnen und andern Hülsenfrüchten von den Erben des Hans Briemel, der auch ein Weber gewesen war, gekauft und damit, wie es im Volksmund üblich war, auch dessen Namen übernommen. Denn beim Briemel kauften die ärmeren Leute von Hasle ihre Eier, ihren Butter, ihr Habermehl, ihre Nüsse viele Jahre lang; darum hieß eben der Hansjörg Hansjakob, als er den alten Briemel ablöste, auch so. Und sein Sohn blieb der junge Briemel, bis er ein ander Geschäft begann, als Bäcker sich auftat und dann nach seinem Vornamen Tobias genannt wurde der »Becke-Toweis«.

»Was suchst du da oben, Toweis?« rief der Waldhüter dem jungen Mann zu, als dieser den Hohlweg überwunden hatte und nun vor den Frühstückenden stand.

»Ihr kommt mir g'rad recht, Balzer,« gab der Toweis zurück. »Ihr wißt, daß ich in der »vorderen Gasse« ein Bäckerhaus gekauft habe und mich zünftig niederlassen will. Ich bin nun dran, meine Backstube neu einzurichten, und such' eine glatte, schöne Buche zu einer Backmulde. Da kann mir aber niemand besser Auskunft geben als der Förster. Mein Vetter, der Färber und Waldmeister, hat mir gesagt, ich solle nur eine Buche aussuchen: das übrige wolle er dann, im Rat' schon ausmachen. Ihr habt also nichts zu riskieren, Balzer, wenn ihr mir etwas behilflich seid.«

»Da brauchen wir gar nicht lang zu suchen,« gab der Angeredete zurück; »die schönste Buche weit und breit steht gerade hier.« Bei diesen Worten deutete er auf die Buche, deren Holz als Madonna vor dir, dem Schreiber, steht.

Damit war mein Los entschieden. Ich sollte sterben und eine Backmulde werden.

»Sobald du,« fuhr der Waldhüter zum jungen Briemel zu reden fort, »vom Rat die Erlaubnis hast, die Buche zu fällen, schick' ich zwei Holzknechte, die eben droben beim ›heiligen Brunnen‹ das Holz fürs Rathaus machen, herab und laß dir die Buche niederhauen.«

»Sie gefällt mir,« antwortete der angehende Bäckermeister. »Was wird der Rat wohl dafür verlangen?«

»Die bekommst du sicher für einen Gulden; mehr kostet ja ein Klafter aufgemachtes Buchenholz wirklich nicht.«

»Soviel bezahl' ich gern und geb' dem Balzer noch einen Batzen Trinkgeld,« meinte der Toweis und schickte sich an zum Fortgehen. Die Knechte des Sonnenwirts erhoben sich auch zu neuer Arbeit. Der Balzer verschwand wieder im Wald; der Mann aber, der schuld war, daß ich Buchenkind sterben sollte, schritt bergab dem Städtle zu.

Wenige Tage darauf kam der Balzer wieder aus dem Wald und mit ihm zwei wildaussehende Holzknechte. Ich hatte sie manchen Winter in den Wald ziehen sehen, um Bäume zu morden, aber daß es auch einmal an mich kommen würde, dachte ich nicht.

Ich war ja glücklich am sonnigen Waldrand und im Hinabschauen auf Gottes schöne Erde. Und im Glück denkt kein Geschöpf ans Sterben.

Sterben ist – wer vermag's zu beschreiben – hart, doppelt hart aber, wenn man nicht am Alter oder an einer Krankheit, sondern eines gewaltsamen Todes sterben muß. Und dieser Tod ward mir zuteil zu einer Zeit, da eben die Lebenssäfte sich wieder anschickten, neu durch meine Adern zu ziehen, zu einer Zeit, da mein Blut wieder Sprossen treiben wollte.

Doch ihr Menschen kennt ja kein Erbarmen, keines gegen euch selbst und noch viel weniger gegen euere Mitgeschöpfe. Darum mußte auch ich mitten im Leben sterben. Im Angesichte von Berg und Tal im jungen Frühlingssonnenschein sank ich ächzend zum Tode.

Wer hätte aber in meiner Sterbestunde gedacht, daß ich eine solche Auferstehung feiern und eines Tages in verklärter Madonnagestalt wieder erstehen würde! –

Ganz tot war ich nicht. Mein Blut lebte und regte sich noch lange, während ich am Waldrande als Baumleiche lag.

Und als es vollends Frühling geworden war und die Wibervölker vom Städtle heraufkamen, um Bohnen zu setzen und das Unkraut aus den Saaten zu jäten, da klagten sie über meinen Tod.

Und als sie erfuhren, wer mich habe töten lassen und zu welchem Zweck, schimpften sie weidlich über den Balzer und über den jungen Briemel.

»Der Balzer,« so meinte das Weib des Seilers Johannes Hornauß, »gibt alles her um ein Trinkgeld, und der junge Briemel ist ein Hansjakob, und dieses Geschlecht wirft alles um mit seinem bösen Maul, selbst Buchenbäume.«

»Unsereins muß,« fiel die alt' Sundthoferin, des Kuhhirten Ehehälfte, ein, »da oben hacken und jäten und schorfen für sechs Kreuzer den Tag, und doch hat man einem nicht einmal die Buche stehen lassen, unter deren Schatten wir ausruhen konnten von der harten Arbeit. Aber um die armen Leut' nimmt sich kein Mensch an. Selbst der Schatten der Bäume wird ihnen vergunnt.«

»Es ist nicht einmal gewiß,« nahm die alte Seilerin wieder das Wort, »daß alle Ratsherren schuld sind am Tod unserer schönen Schattenbuche. Der alte Färber Hansjakob, der auch Burgermeister gewesen, war ebenfalls ein gewalttätiger Mensch. Ich erinnere mich noch wohl, daß er vor Jahren im Wald einmal eigenmächtig vorging. Als sein Sohn Tobias, der jung Färber, sein Farbhäusle auf den Graben beim oberen Tor stellte, hat ihm sein Vater, ohne den Rat zu fragen, erlaubt, zehn Tannen und zwei Eichen zu hauen, und er mußte zur Straf nur ein Pfund Heller (drei Mark) erlegen.«

»Und sein Bruder, der Hansjörg Hansjakob, der schon lange tot ist, war auch nicht sauber. Er hat einmal seinen Gartenhag aufs städtische Almend gesetzt und so seinen Garten vergrößert. Wer Rat nahm einen Augenschein, und ums Haar war' er eingetürmt worden wegen Versetzen der Lochen (Marksteine).«

»Da kömmt der Balzer,« sprach jetzt eine Magd des Metzgers Vetter, der eben erst vom Rat gestraft worden, weil er dem Förster »in die Haare geraten war und ihn gedrosselt hatte.«

Vom »Pfaffen-Kähner« her schritt richtig der Förster auf die Wibervölker zu, die ihn mit einem Schwall von Vorwürfen überschütteten, daß er ihre Schattenbuche gefällt habe.

»Ihr Weibsleut' müßt mich nicht auch noch plagen,« verantwortete sich der Balzer. »Ich bin schon geplagt genug. Erst gestern wurde ich in Straf' genommen, weil ein Bur aus dem Bärenbach nächtlicherweile im Stadtwald einen Wagen voll Holz geholt hat und ich ihn nicht erwischt habe.«

»Der Strolch hat sich dann selber angezeigt, um besser davon zu kommen; ich aber soll ein Pfund Heller in die Stadtbüchs bezahlen. Dafür hab' ich aber jetzt den Pfarrer von Mühlenbach denunziert, weil seine Kühe immer auf der Stadt-Allmende weiden. Warum predigt er seinen Bauern nicht, daß sie kein Holz stehlen sollen!«

»Was eure Buche betrifft, so hat mir ein Stadtknecht vom Amtsburgermeister Hansjakob, der den Wald unter sich hat, die Meldung gebracht, die Buche dem Toweis Briemel auszuliefern.«

»Ich will für euch Weibsleut' aber eine Hütte aus Tannenreisig machen, damit ihr da Unterstand habt und den alten Balzer, der ein armer, geplagter Mann ist, in Ruhe laßt wegen der Buche.«

Deß waren die Wibervölker alle zufrieden. Sie gingen an ihre Arbeit und der Balzer in den Wald. Ich aber, der Buchenbaum, blieb gefällt. Mir konnte niemand mehr zum Leben verhelfen. Wenige Tage später kam der junge Bäcker mit einem Fuhrmann und dessen Roß. Ein Eisen wurde in meinen Leib geschlagen und eine Kette daran befestigt. An der Kette schleifte mich das Roß bergab, fort vom Wald, fort von der lichten Höhe, fort von der Familie der Buchenbäume, fort, hinab ins Städtle – ins Menschenleben.

Vor dem Hause des Krummholzen Jakob Gernhard in der Vorstadt hielten meine Peiniger an und übergaben mich dem Meister, um aus mir eine Backmulde zu machen. Er müsse aber bald an die Arbeit, hieß es, so lange das Holz noch im Saft sei.

Stück für Stück schlug nun der Krummholz (Wagner) das Fleisch aus meinem Leib, bis ich ausgehöhlt war wie ein Totenbaum. Dann lud er mich auf einen Karren, fuhr der »vordern Gass'« zu und hielt vor einem kleinen, hellen Häuslein.

Der Toweis erschien unter der Türe und lobte den Gernhard, daß er so bald und so schön aus dem Buchenbaum eine Mulde gemacht. Gemeinsam trugen sie mich ins Haus und in einen großen, dunkeln Raum. Hier stellten sie mich auf das Gestell, so meine Vorgängerin eingenommen. Ich war nun in der Backstube und an dem Platze, welchen ich mehr denn ein Jahrhundert nicht mehr verlassen sollte.

Was soll ich sagen über mein Los? Von der höchsten Himmelshöhe am Urwald in die Finsternis einer Backstube versenkt, ist wahrlich ein herbes Geschick.

Doch bald fand ich Trost. Ich war selten allein in meiner langen Backstubenzeit. Ich lernte euch Menschen kennen, und euer viel größeres Elend verkleinerte das meinige.

Und als eines Tages der Kapuziner-Pater Mathias, der Sohn des Metzgers Kröpple von Hasle, kam und das ganze Haus einsegnete, ehe der Toweis Hochzeit hielt, da trat er auch in die Backstube und besprengte mich unter Segensworten mit heiligem Wasser. Dann sprach er zum jungen Bäcker: »So eine Backmulde gleicht einem Totenbaum. Aber aus diesem Totenbaum sproßt Leben, kommt Brot, das Mark der Männer, der Menschen erste Speise, ihr Dasein zu fristen.«

Diese Worte waren mein größter Trost und machten mich stolz auf meine Bestimmung.

Heute aber, da ich vor dir, dem Urenkel des Toweis, stehe als Madonna, den Heiland der Welt, das Brot des ewigen Lebens, auf dem Arm, heute vergesse ich alle meine Leiden und bin voll süßer Freude über mein glänzendes Los, das ich ehrlich verdient habe im langen Dienste, den Menschen Brot und Leben zu schaffen. –

Doch nun will ich schweigen und es dir überlassen, von mir abzulesen und wiederzugeben, was ich gehört und gesehen und erlebt habe in der Backstube deines Urgroßvaters.

Vergiß aber nicht, daß eine Madonna vor dir steht; bleibe allzeit bei der Wahrheit und übertrete nicht die Gebote christlicher Liebe. Mach' nicht zu viele Schlenkerer und laß die Frauenwelt in Ruh; sei hübsch brav und fromm und demütig, wie es sich geziemt im Angesicht der Gebenedeiten unter den Weibern und der Königin aller Heiligen.


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