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Die Künste und die Kultur

Geistige Leidenschaft, Zwang des Metiers und die Verlockung äußerer Erfolge haben Bahr alle die Zeit her beim Theater festgehalten. Aber seine stürmisch bewegliche Kraft hat sichs nie genügen lassen, etwa nur an Kritik und Komödie hingegeben zu werden. Es ist ihre erste Lust, überall einzudringen, aber es ist ihr innerstes Gebot, auch überall durchzudringen und den Gegenstand nur als vollendetes Erlebnis hinter sich zu lassen. Die Linie seiner Entwicklung führt auch hier von der lebhaften Auseinandersetzung mit den technischen Fragen und Tücken über die persönliche Bewältigung des Gegenstandes zur Aufschließung seines inneren Wesens und seiner kulturellen Werte.

Was das Theater unserer Kultur zu geben habe, wird ja jetzt von so vielen gefragt. Und manche sind, die es ganz und gar verachten. Was ist Theater? sagen sie. Ein paar nackte Bretter im wesentlichen, vollgeräumt mit Lügen. Und was ihr erlebt, ist doch nur die Suggestion der vielen, die Freude der anderen, der Schmerz von daneben. Und was euch bleibt, ist bestenfalls das Vergnügen, fremder Narrheit Narr gewesen zu sein: ein Spaß für Bescheidene im Geist! Denen, die so sprechen und das Theater verwerfen, muß man gar nicht antworten; denn sie haben recht. Sie gehören zu den Klugen, die immer recht haben, weil sie immer die Gründe wissen, aus denen sich nein sagen läßt. Es sind ganz feine Köpfe darunter und nicht zuletzt auch ein paar Kritiker von Rang, denen ihr Beruf schließlich nichts weiter mehr ist als ein Instrument, ihre müde gehetzten Nerven an dem Gegenstande ihrer ewigen Plage zu rächen. Es wäre vergebens, der Feindseligkeit dieser Ablehnenden und Gereizten irgendwelche Verteidigung entgegenführen zu wollen. Gründe gibt es hier wie drüben haufenweise; auf die kommt es nicht an. Unabweisbares Gefühl in guter Form zu befestigen, ist sicherer und ersprießlicher, als mit Abstraktem auf Abstraktes loszuschlagen. Wenn Leidenschaft für das Theater, indem sie sich leidenschaftlich auszusprechen strebt, aus dem Dämmer ungeklärter Empfindung in das gestaltende Licht einer bedeutungsvollen Sachlichkeit hervortritt, so hat sie ihr Recht und den Wert ihres Gegenstandes genugsam bewiesen.

Bahr hat es wiederholt versucht, die Welt des Theaters künstlerisch zu fassen; und hat damit manches starke Dokument für die Schönheit und Fruchtbarkeit dieser besonderen Welt gegeben. Die einfache Schilderung von Zuständen hätte da nicht genügt; so etwas würde in das Gebiet der sozialen Kritik gehören und für den Anteil des Theaters am Aufbau einer höheren Geistigkeit noch nicht viel zu sagen haben. Eine Darstellung von bedeutenderem Ausdruck, gleich intensiv an innerlichem wie an äußerem Leben, kann natürlich nur das Geschenk einer Künstlerschaft sein, die zu hoher Reife des Sehens und Verstehens gediehen ist und von dem ersten Brausen ihrer Jugend doch noch das rhythmische Gefühl, intensive Leidenschaft und eine große Liebe für die heißen Zonen dieses Daseins zurückbehalten hat. Hermann Bahr ist unter den wenigen Künstlern unserer Zeit, denen es geglückt ist, so jugendlich zu reifen. Und kaum einer hat, so wie er, die Schönheiten und die Schrecken, alles Grauenhaft-Niedrige und alles Unfaßbar-Sublime des Lebens auf dem Theater künstlerisch herzugeben vermocht. In der Zeit, da er um die neue Form der Wiener Komödie bemüht war, erschien auch sein Roman »Theater«, worin er die spukhaften Zauber dieser Atmosphäre vor aller Augen sichtbar macht. Da sind die Gestalten aus einer hingerissenen Stimmung, die doch immer ihres künstlerischen Gleichgewichtes mächtig bleibt, hervorgebracht; oft grotesk bis zur Unglaublichkeit und doch wieder so elementarisch, so voll vom naturkräftigen Walten und Treiben ungebrochener Instinkte, daß es gerade ihre Absonderlichkeit, ja ihre scheinbare Unglaubwürdigkeit ist, aus der die unumstößliche höhere Wahrheit, das atmosphärisch Echte kommt. Gleich einem wüsten Traum, mit wachen Augen geträumt, stürzt die Reihe dieser Gebilde vorüber, Menschliches und Tierisches auf eine gemeine und doch wieder erhabene Art mit Göttlichem vermischend. Der Künstler hat, von seinem Stoff besessen und trotzdem in voller Herrschaft über ihn, dem leidenschaftlichen Leben in diesem Romane so sehr den Zug und die Größe kosmischer Gewalten mitzugeben vermocht, daß selbst alle menschlichen Schicksale, die sich dabei offenbaren, vor diesem höheren Geheimnis klein und gleichgültig erscheinen. Als Auszug und Grundgehalt des Buches bleibt dem Genießenden immer der sinnlich lockende Schauer vor einer Welt, die ganz anders ist als andere Menschenwelten. So anders, daß in ihr die gewohnten und sonst leicht unterscheidbaren Züge von Liebe und Ingrimm, Herzlichkeit und Betrug, Niedertracht und Aufopferung, Leidenschaft und Leere des Gemüts unaufhörlich zu neuen, grauenhaft und bestrickend seltsamen Formungen ineinanderfließen. Hier sind die Umrisse und Grundlinien dieses verwirrenden Lebens gültig aufgezeichnet. Der Boden ist hingebreitet, aus dem seine Gestalten, gespenstisch und dennoch greifbar, aufsteigen.

 

Was in diesem Buche ganz Milieu, Stimmung, Atmosphäre ist, verdichtet sich in einem späteren Werke Bahrs zu einer einzigen grandiosen Persönlichkeit. Dieser Roman: »Die Rahl« (1908) handelt nicht mehr vom Theater allein: mit ihm begann Bahr eine (noch nicht vollendete) Reihe von Romanen, deren Sinn und Zusammenhang es ist, daß sie nach genau vorgezeichneten Grundsätzen ein Abbild der ganzen Menschheit geben wollen, wie sie sich, in einzelnen, leicht faßlichen Typen erkennbar, innerhalb unserer Kultur bewegt. Als ein Gipfel und blendender Ausdruck dieser Menschheit ist nun in dem ersten Buche der Reihe eine Schauspielerin hingestellt, die alles Zarte und alles Brutale, alles Erhabene und alles Fragwürdige des Theaters, wie es Bahr in jenem früheren Romane gezeigt hat, mit wunderbar suggestiver Kraft in sich vereinigt. In ihr wird offenbar, wie das künstlerische Wesen dieser Menschen hinter unscheinbaren Formen des Alltags wie hinter einer Maske lauert, sich verhält und verbirgt, sich gleichsam tot stellt und durch nichts zu erwecken ist als nur durch den Funken aus dem spannungsreichen Dunstkreis des Theaters. Diese Frau hat zweierlei Leben. Aber das eine wäre ohne das andere nicht denkbar und beider Schönheit wird erst durch ihren Gegensatz offenbar. Ihre Herrschaft über das Leben und ihre Herrschaft in der Kunst sind von derselben Wurzel, aber von verschiedenem Ausdruck. Im Alltag, als Dame, versteckt sie ihren Willen zur Macht in kleine, sorglos hinspringende Launen, verteilt ihn sozusagen auf Stunden und Minuten, ergreift und verwirft ohne Plan und ohne Verantwortung. Ihre Seele erkennt sich nicht, und der gewaltige Trieb, zu schaffen und voll Macht zu sein, stößt im Dunklen an allerlei Kleines und Nichtiges, wirft es um, verändert, erhebt, zerschmettert es ohne bedeutende Lust, ohne aufreißenden Schmerz, in einer unausgesprochenen Ungeduld, nur dieses bedeutungslose Leben in Langeweile, Heiterkeit oder verliebter Laune hinzubringen, bis das Höhere, das Eigentliche kommt. Wie dies nun als ein scheinbar Fremdes und von außen Wirkendes herantritt, nicht etwa als entfaltete Begeisterung aus ihrem Inneren wirkend, sondern eher wie ein böser Zauber, wie eine unwiderstehliche Dämonie, das gibt auf das wunderbarste ein Gefühl von dem elementaren Weben, Wetterleuchten und Blitzen in dieser Atmosphäre. Was in jenem früheren Buche aus Beobachtung, Schilderung und Darstellung einzelner Menschen herausströmte, erscheint nun konzentriert zu einer Gewalt, die nicht so sehr in einer Persönlichkeit als vielmehr über ihr mächtig wird. Dem Bereich des gewöhnlichen Wollens entrückt, auf eine fast überirdische Art, vollzieht sich in ihr die Umwandlung vom Niedrigen zum Erhabenen, von vielfältiger und zusammengesetzter Lüge zur geklärten und verklärten Wahrhaftigkeit – die Wandlung, die eigentlich den wirkenden Zauber des Theaters ausmacht. Hier erscheint er als ein besonderer Segen der Kunst über einer einzelnen Person, ideal erhöht, aber doch festumgrenzt und in alle Wirklichkeit und Sachlichkeit des Lebens eingesetzt; so lebt er in menschlicher Gestalt vor unseren Augen und als bedeutendes Symbol in unserem Gefühl. Die Erkenntnis leuchtet auf, daß das Theater als ein Sinnbild und gedrängter Inhalt aller Kunst und alles höheren Menschendaseins angeschaut und ausgelegt werden kann. Und dieses Buch, das die Reihe bedeutsamer Bilder aus dem typischen Bestand unserer Kultur beginnen soll, gibt zunächst als seinen wertvollsten Inhalt die tiefbewegte und stolzbewußte Aussprache eines Künstlers mit der Kunst.

Als ein gefällig leichtes, aber nicht minder scharf gesehenes Gegenbild – gleichsam als satirisches Spiel neben dem gewichtigen Pathos – ist um dieselbe Zeit die Komödie von der »Gelben Nachtigall« entstanden. Sie hält sich ganz in den vom Tag beleuchteten Sphären dieser Welt; zeigt die tollen Sprünge der Laune, den Übermut machttrunkener Gelüste, den Witz des Zufalls; daneben wohl auch das leise Grauen des Übermütigen vor seiner Macht, die Schleichwege und Zauberkünste des Erfolges, der doch immer mit dem starken Willen geht; zeigt wieder, in ihrer spaßig höhnischen Art, hinter dem Irrsinn des Theaters den Sinn der Kunst.

 

Der Sinn der wirkenden Kräfte hinter dem Irrsinn des Betriebes: das ist es ja, was Bahr auch in seiner kritischen Arbeit ausfinden will. Darum allein bemühen sich seine zahllosen Versuche, die Erscheinungen des Theaters gedanklich zu bestimmen und einzuordnen. Ja, die Bücher selbst, in denen er diese Versuche sammelt, haben oft erst den Sinn ihres Daseins aus dem Irrsinn des Betriebes retten müssen; denn Bahr war lange Jahre Kritiker an einer großen Tageszeitung – und wie Theaterkritik heute an den Tageszeitungen gemacht werden muß, das ist an sich schon widersinnig genug. Oben spielen sie Theater. Unten, zwischen den vielen Harmlosen, Gleichgültigen und Begeisterten, sitzen ein paar, die sind verpflichtet, es besser zu wissen. Sie haben die Aufgabe, nachher zu sagen, wie es gemacht worden ist und wie es vollkommener wäre. Und augenblicklich, ohne nachzudenken, müssen sie das sagen. So einer sieht und hört nicht für sich selbst, sondern für die andern, zu denen er morgen sprechen wird. So einer stürzt, wenn der Vorhang noch nicht zum letztenmal die Rampe berührt hat, aus dem Hause, zu seinem Schreibtisch, an die Feder. Die Minuten rinnen weg, es ist ihm keine Frist gegeben. Keine Frist, den Eindruck zu ordnen, das Gefühl, das vielleicht aus irgendeinem Grunde allzupersönlich angesprochen ist, schärfer auf die Sache einzustellen; nicht einmal die Nerven zu beruhigen, die etwa vom Schauen, vom Hören, von äußerer und innerer Anstrengung, aber auch vom Hasten, vom Hunger, von einer üblen Nachricht gereizt sein können. Nun ist es alles eins; irgendwo muß ein Schlußpunkt sein, dann eine Chiffre. Am nächsten Morgen ist es gedruckt. Es sieht ganz anders aus, als er wollte, im Gefühl, im Gedanken, im Wort. Hauptsächlich im Wort. Jetzt ließen sich etwa bessere, leichtere, genauere finden. Zu spät. Aber was tut's? Um Mittag weiß niemand mehr davon, außer höchstens die Schauspieler, die geärgert worden sind. Das ist Nachtkritik. Ein unbequemes Handwerk für die Routinierten, eine sorgenvolle Bangnis für die Gewissenhaften, eine moralische Gefahr für die Leichtsinnigen. Jeder weiß, wie die Nachtkritik der Kultur des Theaters, wie sie allem auf der Bühne, was zart und geistig ist und der Schonung bedarf, gefährlich werden kann. Sie dient der Neugierde; aber die Neugierigen erfahren nicht, was ihnen zu wissen am meisten not täte. Sie dient der ewigen Kunst; aber ihr Amt erlischt zwischen heute und morgen. Sie will eingehende, sorgsam erwägende Betrachtung sein, aber im Nu. Sie ist der vollkommenste innere Widerspruch, hebt sich fortwährend selbst auf, in jedem einzelnen Fall aufs neue, und bedeutet nichts weiter, als eine schlechte Gewohnheit unserer Zeitungen. Und gerade diejenigen unter den Journalisten, die der Kunst mit ehrlicher Leidenschaft ergeben sind und einen Beruf zur Kritik in sich zu spüren meinen, sind am meisten davon bedrückt, wenn sie so über Nacht, in Zwang und Unrast, sagen müssen, was sie doch lieber noch ein paar Stunden lang nachdenkend bei sich getragen und mit sich durchgesprochen hätten.

 

Dieses Metier der Nachtkritik hat Hermann Bahr viele Jahre lang getrieben. Er hat frühmorgens aus der Zeitung zu den Leuten gesprochen, wenn am Abend vorher irgend etwas Neues, Großes, Fremdes, Erstaunliches oder auch nur Interessantes auf irgend einer Wiener Bühne gezeigt worden war. Aus diesen Kritiken sind dann im Laufe der Jahre ein paar Bücher geworden, jedes einzelne ein paar hundert Seiten stark. Ihre Titel sind: »Wiener Theater« (1899), »Premieren« (1902), »Rezensionen« (1903), »Glossen« (1906). Dicke Bücher voller Nachtkritiken: das Flüchtige verewigt; das rasch in den Tag Hineilende zur Dauer gezwungen; das hastig in Minuten für Minuten Erzeugte auf Jahre befestigt; der in sich zerfallende Widerspruch durch einen noch größeren aus seiner Natur gejagt, festgehalten durch den Widerspruch des Widerspruchs!

Keineswegs. Denn Bahr, den man zu jener Zeit wohl einen Journalisten nennen durfte, wenn man den Begriff, vom Staub und Schweiß der atemlosen Sekunde gereinigt, in die höchsten Ehren einsetzt, die er verdienen kann – Bahr hat doch den ärgerlichen Selbstbetrug der nächtlich beschleunigten Enderkenntnisse kaum jemals im Ernste mitgemacht. Das ist aus seinem ganzen Wesen zu erschließen, und aus den Seiten dieser Bücher wird es vollends klar. Nichts ist darinnen Nachtkritik, als höchstens manchmal noch die paar Zeilen, die, spielend und ohne Schwere, das verfliehende Ereignis der Bretter selbst abtun. So viel für den Abonnenten zum Frühstück. Alles andere aber, in den Kämpfen und Wandlungen eines Lebens erworben, aus dem wunderbaren Reichtum eines nie befriedigten Geistes mit Bedacht heraufgeholt, von den Kräften und Künsten einer ganz persönlichen Sprache zur Dauer geformt, wendet sich vom Zufall des Anlasses mit trotziger Absicht weg, ins Weite, Bedeutende, Ewige hin. In diesen Kritiken ist wohl von Dichtern und Dramen, von Schauspielern und Direktoren die Rede, aber sie sind nicht eigentlich Gegenstand, sondern nur Anlaß der Aussprache, sind Beispiele oder Beweise für das, worüber ein Urteil ergeht. Dies aber ist immer unser eigenes Leben, unsere Zeit, unser Gewissen (als ein Wissen von uns selbst), der Mensch, der jetzt lebt, und die Welt, in der er sich einrichtet. Da setzen sich schöne und wichtige Bücher zusammen, in ihren Teilen und Abschnitten mannigfaltig wechselnd. Und jeder, der hineinsieht, muß darin irgendwo sich selbst in irgend einem Zug abgespiegelt finden. Es sind Bücher der Sehnsucht. Dieser ruhelose Geist, der den Kreis unserer Kultur genießend und betrachtend umschritten hat, sucht fernere Ziele, schönere Hoffnungen, will die Gewißheit einer Entwicklung zum Neuen. Die Menschen sind der Stoff, den er bilden möchte. Das Theater hilft ihm dabei nur als ein Abbild und Vorbild. Kaum, daß er da und dort einmal ein Drama analysiert, einordnet, gegen gleichartige abwägt. Das, was es ihm zu unserer ganzen Kultur zu sagen erlaubt, lockt ihn immer weit weg. Er gibt also keine sachliche, keine objektive Kritik, nein. Sie haben ihn auch oft genug darum gescholten: so dürfe man nicht kritisieren, das sei gegen Pflicht und Tradition, das heiße die Leute narren und den Theatern unrecht tun. Mag sein. Es hat sich wohl auch, ich erinnere mich, zwischen den verstorbenen Stadträten und eingefangenen Raubmördern oft sonderbar genug ausgenommen. Komisch fast; denn die Tageszeitungen haben sonst ein ganz anderes Gesicht. Aber jetzt, im Buch, wo eines sich zum andern fügt, der Teil an das Ganze schließt, Gedanke zu Gedanken spricht, jetzt leuchtet das alles in befreiter Helle, löst sein Profil klar und stark vom Hintergrunde unserer ganzen Gegenwart.

Der heiße, schwere Atem unserer Zeit atmet in jedem dieser Bücher. Von uns handelt es, uns sucht es, uns will es, uns weist es. Zu uns drängt es, ob seine Erkenntnisse nun von den alten Griechen ausgegangen sind, oder von den klassischen Deutschen, von Jetzigen oder Gewesenen, von Realisten oder Stilisten, von Spielern oder von Denkern. Es drängt hinauf, hinweg aus diesem engen und verfälschten Leben, in ein größeres, dessen Wahrheit sich in uns vorbereitet. Diese gilt ihm vor allem anderen. Das Wichtigste ist ihm, womit er sein Bild einer neuen Kultur ausgestaltet. Wo er solches nicht findet, da geht er rasch vorüber. Gleichsam im ungeduldigen (wenn auch meist sehr höflichen) Ton des Berichtes schon anzeigend: Dies mag euch unterhalten oder beschäftigen. Aber worin kann es euch schließlich vorwärts bringen? Es ist unnütz, sich da betrachtend zu verweilen. – Vorwärts bringen! Wo immer man aus diesen Schriften einen Willen liest, ist es dieser. Der Mensch, die Kunst, die Welt muß neu werden. Mit unserer Seele fange es an. Das lehren, wie sie in diesen Büchern ausgedeutet sind, am Ende alle starken Geister. Da ist Ibsen, da ist Wedekind, Strindberg, Tolstoi, da ist der junge Hauptmann, da sind heutige Franzosen. Was zeigen sie euch? Einen Übergang. Unsere Seelen sind alt und verwittert, was wir von ihnen zu wissen glauben, hat längst keinen Bestand mehr. Seht her, sie lösen euch auf und weisen euch, was ihr jetzt seid: ein Schein, die Idee eines fliehenden Augenblickes. Und doch aus so unendlich vielem zusammengesetzt, daß ihr es nicht fassen könnt! Sie zeigen euch das Chaos und sie zeigen euch den Weg. Er führt durch die Sehnsucht nach dem unendlichen All-Gefühl: das gibt euch Maeterlinck, das gibt euch Ibsen, das gibt euch Novelli (von Bahr gesehen). Er führt durch die Befreiung und das große Anschauen eurer Leidenschaften: das gibt euch Goethe (Tasso), das gibt euch Schiller (in einer prachtvoll kühnen Hypothese wird versucht, die ursprüngliche Idee des Don Carlos wiederherzustellen), das gibt euch wieder der alte Ibsen und mein Novelli, das gibt euch Kainz, die Duse, das geben euch die perikleischen Griechen und Hofmannsthal, wenn er es unternimmt, die griechische Seele dem heutigen Erkennen aufzuschließen. Der Weg führt endlich durch das erneute Gewissen der Menschheit, das dem Charakter, dem in Grenzen befestigten Ich, abgeschworen hat und nur den Trieben der Guten und Hohen vertraut, deren Gefühl in das All hinausreicht; das gibt euch Shakespeare und wieder Goethe und Shaw und wieder Ibsen, und viele, die nach Ibsen kommen. Die Künste aber seien dann nicht mehr ein abgetrenntes Vergnügen für den müßigen Abend, vom Leben fortgerückt, »damit es die Gewohnheiten erschöpfter Handelsleute nicht störe«; sie werden ein hohes Fest dieses ganzen neuen Lebens selbst, ein harmonisch brausender und singender Zusammenklang seiner edelsten, vom Allzuirdischen befreiten Töne. Das ist, jedes einzelne Mal und im ganzen, der innerste Sinn dieser Kritiken. Was verschlägt es daneben, ob die Meinungen, Erkenntnisse, Berichte auf diesen Blättern heute noch gelten, ob sie damals gelten konnten? Denn was die kritische Leistung an sich betrifft, so können diese Bücher, wie jede andere vernünftige Arbeit dieser Art, doch immer nur die eine gute Wahrheit bekräftigen: daß der Kritiker einzig sich selber zu erziehen hat – zur herzlichen Mitfreude am Schaffen und am Geschaffenen; daß Kritiktreiben nicht etwa Lob und Tadel austeilen heißt, sondern persönliche Kultur gewinnen aus der künstlerischen Kultur der Zeit.

In so hoher Bedeutung erscheint ihm vor allem das Wesen der Schauspielerei und der einzelne große Schauspieler selbst. Das schönste Dokument hierfür ist seine Monographie über Kainz (1905). Da ist dieser eine Künstler plötzlich zum sozialen Kämpfer erhoben, zum leidenschaftlichen Anti-Bourgeois und machtvoll triebhaften Zerstörer bürgerlicher Feigheit und Selbstverachtung. Josef Kainz, der in unserer Welt der Lügen wie in Gefangenschaft ist und nur auf die Bühne springt, um endlich frei, um endlich er selbst zu sein, das Feuer seiner Seele zu entbinden. Darum sein vulkanischer Erfolg, darum die Raserei der Jugend für seine jugendlichen Gestaltungen. Darum auch in seinen späteren Rollen die Schärfe und kalte Vehemenz; denn jetzt hat er das Böse in der Welt erkannt und zeigt es in spielender Wollust. Aber schon ist ihm das Spiel für die Sehnsucht seiner reifen Männlichkeit nicht mehr genug. Der Glaube an seine erlösende Kraft verweht. Und leise klingt immer als Unterton der Schmerz mit, der sich über den Schein hinaussehnt, ins Leben, in die Tat! Das alles spielt sich in der Phantasie Hermann Bahrs ab, sowie der Name Kainz sie in Bewegung setzt; und es ist wunderschön, wie da einem Künstler diese innere Hoheit, dieses Feuer zum Wahren, diese verklärende Bedeutung für seine ganze Epoche, weit über den Inhalt seiner Kunst hinaus, zugedacht wird. Das hebt auch dieses Buch wieder aus der Gebundenheit kritischer Absichten zur Höhe eines eigenen Kunstwerkes: etwa eines lyrisch-epischen Gedichtes, einer prachtvollen Ballade von dem Empörer und Eroberer Josef Kainz.

 

Der große Schauspieler als lebendiger Ausdruck der Kultur, freie Selbstdarstellung als Keim und Inhalt einer neuen Menschheitsform: von diesen Gedanken läßt sich die kritische Arbeit Bahrs zumeist führen und nähren. Er sucht ihnen Belege an den Beispielen, die ihm der Zufall des Betriebes und der Bestand der gegenwärtigen Künste gerade bringt. Und einmal führt er die Idee ganz selbständig aus, in einer vom augenblicklichen Ereignis losgelösten Betrachtung; diese hat mit Kritik nichts mehr zu schaffen und will auch die Kunst nur mehr als ein Mittel zur Heranbildung befreiter und gesetzlos guter Menschen gelten lassen. Er nennt dieses seltsame Werk den »Dialog vom Tragischen«. Aber von Literatur ist da kaum mehr die Rede. Mit einer glatten Bewegung, als striche einer schale Reste von seinem Tisch, wirft er gleich in den ersten Sätzen die ganze Tragödie fort: die Griechen, Shakespeare, Calderon und das übrige kleinere Zeug mit ihnen. Das alles, sagt er, ist dem gereiften Menschen der europäischen Kultur überflüssig, wie Medizin dem Gesundeten. Nur aus Gewohnheit genießt er noch manchmal davon, gedankenlos in der Menge der Leute, die dessen noch nicht entraten können. Denn die Tragödie zeigt uns Ruchlosigkeiten, Leidenschaften, Instinkte von vordem, die unsere neue Gesittung längst zerrieben und in den Boden einer sanfteren, schöneren Menschlichkeit eingestampft hat. So lange sie dort noch die Kraft des Keimens hatten, die jeden Moment furchtbar auszubrechen drohte, mußten sie durch ideale Gewalten, Gesetze der Ehre und ein sittliches Heldentum in ihr Versteck gedrückt werden. Da begann denn ihr Gift die Gewissen unrein, die Menschen krank an ihrem dunklen Zwiespalt, fiebernd von elendem Heimweh nach ihren Lastern zu machen. Darum wurde, so behauptet das Buch, den Griechen die Tragödie gegeben, gleichsam als ein Turnplatz der wilden Kräfte, die der Gesittung nicht mehr dienen konnten. Dort durften sie sich, in der Vorstellung furchtbarer Taten und Geschehnisse, nach Gefallen austoben und waren dann, müde gehetzt, für den Staat unschädlich. Die Hysterie der Griechen, ihre Erkrankung an dem tief innen gärenden Barbarentum, wurde also durch diese tragische Kur »abreagiert«, wie sich heute die Ärzte der Hysterischen ausdrücken. Ein verhaltener Affekt, der die Seele beunruhigt und aufreizt, wird zu einem künstlichen Ausbruch erweckt und so auf eine unschädliche Art aus dem Inneren herausgeworfen. Das war die Funktion der Tragödie bei den perikleischen Griechen und auch späterhin bei den anderen Völkern bis auf den heutigen Tag. Nun wollen wir aber, geht der Gedanke weiter, über diese Kultur wieder hinaus. Das heißt, sie ist in den Besten von uns ganz eben und fraglos geworden, so daß diese schon den Auftrieb weiter empor, zu einer neuen, höheren spüren. Bei ihnen sind also die alten, barbarischen, nur in der Tragödie zum Heil erlösten Instinkte völlig erloschen – die Tragödie ist für sie ohne Zweck. Die neue Kultur, hell, ohne Gut und Böse, nur unter der geistigen Herrschaft der Besten und Stärksten geordnet, hat nichts Tragisches mehr. Und so muß auch das Vorurteil von einem fest eingegrenzten Ich, von der Dauer und Verantwortlichkeit des Charakters gänzlich aufhören. Jeder lebt frei in seinen Kräften, wie sie ihm der Moment aufweckt. Versagen sie, so hält er sich nicht gebunden, »er selbst zu sein«, die Ekstase der Inspiration in der geringeren Stunde noch nachzuspielen. Die ewige Transformation der Persönlichkeit, heute schon von den Wissenden erkannt, aber von der dramatischen Kunst und den Geboten der Moral noch verleugnet, wird dann zum dauernden und bewußten Erleben unseres Lebens. Dieses Ereignis einer künftigen Zeit ereignet sich indessen heute schon: am bedeutenden Schauspieler nämlich, der in den Transfigurationen seiner Rollen seine verschiedenen Ich unverleugnet hergeben darf. Die Meisterin der nächsten Kultur ist die Schauspielerei, – befreit vom Tragischen und vom Dramatischen überhaupt. So heißt es in diesem Buch. Man mag nun dem Gang seiner Gedanken mit Zutrauen, mit Zweifeln oder mit Widerstreben folgen, man wird doch fühlen müssen, daß hier der allgemeinen Sehnsucht ein wunderbar leuchtendes Ziel gezeigt wird: Befreiung in Schönheit. Die beständigste Freude an diesem Buche kommt aber aus der Form der geräumigen, wohlgeordneten und reichbestellten Sätze, in denen der Gedanke bequem und sicher wohnt, sein gutes Licht, seine Ein- und Ausgänge und wohl auch sein Stückchen Zierat und Spiegelwerk hat. Mit dem Gefühl für den Wert der Dinge ist nun auch der Stil ins Breite und Kräftigere gediehen. Jeder nervöse Lärm wird vermieden; besonnene Kraft, die sich freudig zur Ruhe bemeistert hat, gibt dem Ausdruck ihren tiefen, regelmäßigen Atem. Auch bei den Menschen, von denen dieser Dialog gesprochen wird, ist gut sein. Fünf Männer wechseln da in der Rede, jeder nach seiner bestimmten Art am Gegenstand interessiert und ihn von der Seite, die ihm am nächsten zugewendet ist, am liebsten beleuchtend. Und einer, den sie Meister nennen, führt; indem er an den verschieden laufenden Fäden kaum noch zu tasten scheint, leitet er doch jeden zu dem richtigen Ende und webt sie zuletzt einträchtig in das Bild, das er als Grundplan einer neuen Menschheit vor die Menschen stellen will. Aber jeder von den anderen behält darum doch seine Stimme im Einklang der Reden; und indem sich die Gedanken prächtig auseinanderfalten, baut sich auch, fünffältig gegliedert, der edle Rhythmus des ganzen Werkes auf. Diese Vornehmheit der Führung und die ruhige Schönheit der Sprache geben den hohen künstlerischen Genuß an dem Buche. Es ist das ausdrücklichste Dokument für die innere Haltung, für die geistigseelische und für die gesellschaftliche Atmosphäre des vierzigjährigen Bahr. So sieht er sich, so zeichnet er sich im Kreise der Bedeutenden, die ihn damals eng umgeben haben. An diesem Bilde seiner Gruppe von wertvollen Menschen hat er besonderes Gefallen; er wiederholt es bald darauf und stellt dieselbe Gruppe nun um einen anderen gedanklichen Mittelpunkt. Auch hier wieder, im »Dialog vom Marsyas« wird das Verhältnis des Sittlichen zum Künstlerischen bestimmt. Und es kennzeichnet den völlig ausgereiften, seiner selbst ganz sicheren Mann, daß er jetzt den Wert der Ekstase, die ihm doch früher in Kunst und Leben als die ideale Höhe und einzige Erfüllung erschienen war, ganz anders einschätzt. Dieses Außersich-Sein des Künstlers gilt ihm nun als Schwäche und das in krampfhaften Übersteigerungen herausgebrachte Werk als unsittlich. Er verweist wieder auf die Griechen, die den angestrengten, um Wirkung allzu besorgten Künstler verachtet hätten. Kunst ist ihm freie, mühelose Selbstdarstellung, das einzelne Werk nur ein Mittel. Schönheit des Menschen ist das Ziel; Schönheit der Leistung nur Weg oder Anzeichen. So geht ihm, aus Kämpfen, Erfahrungen und Taten, der Sinn des künstlerischen Wesens auf.

 

Ihn hatte er sein ganzes Leben lang in der Dichtung und auf dem Theater, bei den Meistern der Farbe und bei den Bildnern der großen, alten Völker gesucht. Ihm war er in jenen Jahren auch auf einem ganz besonderen Gebiete nachgegangen, als er, ein Erster in den stürmenden Reihen, das Recht und die Geltung der jungen Wiener Sezession erstritt. In diesen wilden Raufereien, die nicht selten von Person zu Person geführt werden mußten, hat Bahr wohl auch zunächst ingrimmig und rücksichtslos mitgeschrien und mitgeschlagen. Seinem Witz, seiner Kühnheit, seinem Ansehen hatte jene neue Kunst unendlich viel zu danken; er war ihr hilfreicher Freund und unermüdlicher Verkünder. Und es wird wohl eher ein Verdienst als ein Fehler gewesen sein, wenn er etwa manches Mal zu hell gerufen und zu hoch gepriesen hat; galt es doch der trägen oder tückisch widerstrebenden Wienerstadt die Notwendigkeit dieser Entwicklung erst einzuhämmern. Aber wie sich die ersten Wetter verzogen hatten, war er auch schon daran, hinter der schönen Leistung den schönen Menschen, hinter dem Scheine der Kunst den Sinn des Lebens zu suchen. Er sänftigt nun den streitbar scharfen Ton und geht, um vieles ruhiger, der Klärung nach, die er für sich und die anderen will. Er zeigt, wie diese neuen Formen einer neuen Menschheit dienen möchten; wie diese Menschheit selbst schon bereit ist und sich nur noch aus Zwang und Entstellung herauszureifen müht; wie jedes einzelne gute Kunstwerk, das aus unserer Zeit zu unserer Zeit redet, nur Anzeichen und Mittel dieser Erneuerung ist. Er bringt unermüdlich Belege und Erklärungen hierfür. Er nimmt sein Publikum gleichsam an der Hand, und indem er selbst der Schönheit, die er fühlt, mit den Gedanken recht inne zu werden sucht, erzählt und deutet er sie gleich für die anderen. In dem Buche »Sezession« sind die Essays gesammelt, die diesen Übergang aus dem Lärm des Kampfes zu den Methoden ruhiger Betrachtung erkennen lassen. Und dieselbe Entwicklung, nur auf den bevorzugten Einzelnen zielend, zeigen seine Hefte über Klimt.

Seine ganze kritische Tätigkeit ist von Anbeginn nichts anderes gewesen, als ein Suchen nach dem Inhalt und den Möglichkeiten einer neuen Kultur. Das wollten schon seine ersten Versuche in jener »Kritik der Moderne«, die sich dann, um die Zeit der Heimkehr und Beschwichtigung, in den Sammlungen: »Der neue Stil«, »Studien«, »Renaissance« (1893, 1894, 1897) fortsetzen und vollenden. Und die Jahre der hohen Reife bringen die prachtvollen, umfassenden und ruhevoll reichen Betrachtungen des Bandes »Bildung« (1900), dem zuletzt noch (1912) die »Essays« folgen. In jedem dieser Bücher war der einzelne Aufsatz zunächst nur für den Tag und seinen Bedarf geschrieben; dann erst wurden sie zum Buch vereinigt. So ist darin Vergangenes und Einmaliges auf eine solche Art festgehalten, daß es sein Gesicht der Gegenwart zuwenden muß und seinen Zusammenhang mit den geistigen Beständen von heute offenbart. Sein starker, aus eigenem bewegter Geist hat mancherlei künstlerische Erscheinungen, wie der Tag sie heranbrachte, ergriffen, um sie zu abschließender Betrachtung vor sich hinzuhalten. Dabei war kein übersichtlicher Plan gewollt; nur das zufällige Gebot einer Laune, einer Pflicht bestimmte den Gegenstand und die Reihe.

Und dennoch haben diese Sammlungen von verstreuten und gelegentlichen Arbeiten ihre deutliche Einheit: in ihrer persönlichen Färbung und in ihrer dokumentarischen Bedeutung für das Wachsen und Reifen dieser einen Persönlichkeit. Sie sind stärker bezeichnete Punkte in der Linie seiner Entwicklung. Denn wo sein Urteil zugegriffen hat, da sind die Spuren dieses Griffes erkennbar geblieben. Die Gebilde der Kunst, die Fragen der Kultur, die hier gedeutet und gewertet werden, verändern sichtlich ihr Maß, je nach der Größe des Raumes, den sie innerhalb dieser einen Persönlichkeit erfüllen können. Mit unverhohlener Absicht hat dieser leidenschaftliche Geist, im Gefühl einer erworbenen Übermacht, bestimmten Problemen einer bestimmten Gegenwart die Zeichen seines inneren Bedürfnisses kräftigst aufgeprägt. Und es ist interessant, ja es ist von einer tieferen Schönheit, wie unter dem Lichte solcher Betrachtung die Erkenntnisse verblassen und nur der starke Wille die Farbe des Lebens behält, der Wille zur Form und der Wille zur Macht. Das zaubert den Büchern ihre ewige Frische an, das stellt den Zusammenhang zwischen den ziemlich entlegenen Zeiten ihrer Entstehung her. Von den Wichtigkeiten, die ihn damals zur Aussprache riefen, mag jetzt gar manche klein und allzu vergänglich erscheinen; die Zeit ist in jedem Sinne fertig mit ihnen. Um so prächtiger wirken gegen dieses verbrauchte und verbröckelte Material literarischer Bemühungen die verblüffenden konstruktiven Feinheiten des gedanklichen Apparates und vor allem die große, hochgeschwungene Linie einer freien, inneren Entwicklung, die den Stoff nur bewältigt hat, um solcherart die eigene geistig-seelische Unruhe zu überwältigen. Es handelt sich nicht mehr um die unzähligen Gegenstände, die in den Verzeichnissen der Inhalte angeführt sind, sondern um die eine große Sache, die, ohne verzeichnet zu sein, den wichtigen Inhalt dieser Bücher ausmacht: die Entfaltung eines ungewöhnlichen Geistes, der, von allen Fragen unserer heutigen Kultur bedrängt und verlockt, dennoch auf den hunderterlei Wegen, die ihn rechts und links seitab führen, die Richtung nicht verliert, die ihm der Anstoß seiner gut europäischen Menschlichkeit und die lebendige Kraft seiner Natur anbefohlen haben. Aus dieser Höhe besehen, ordnet sich Essay um Essay, welches auch immer die Gelegenheit zu seiner Entstehung gewesen sei, fast gleichwertig in das glückliche reiche Wachstum ein, das in diesen Büchern ausdrücklicher noch verzeichnet steht, als in den dichterischen Werken, die nur von sich reden wollen.

Und Bahr kann dort mit gerechtem Stolze auch sich selbst unter den Männern nennen, die jetzt unserem neuen Lebensgefühl die Möglichkeit des Bestandes und die Mittel des Ausdruckes erschaffen wollen. Der weitausgreifende Schritt seines eigenen Geistes tönt ihm bedeutend mit, bei diesem Übergang von Kultur zu Kultur. Er fühlt sich als einer, der Lebendiges zu Lebendigem trägt, der die inneren Schätze der Welt vermehren hilft: als ein Bringer künftiger Werte.


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