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Zeitstimmung

Weit hinter jeder Wirklichkeit liegen nun die Jahre, die uns gereift haben. Es waren die Zeiten, da die bourgeoise Herrlichkeit die ersten Erschütterungen empfand und noch nicht recht wußte, woher. Da ein altgewordenes Behagen zu säuern begann; Dämmerung für überzählige Ideale. Unser Wien – das damals noch mit einigem Recht als ein österreichisches Zentrum gelten konnte – hatte noch kaum die ersten Wehen der Erneuerung zu spüren, fühlte sich aber in seinen alten Lebensformen schon matt, bewegungsarm, verdrossen. Noch prunkte allenthalben die besondere Art von Schönheit, die alle Sinne in einen Taumel von Farbe, Schwung und Klang hineingerissen und außerhalb der Sinne nichts Menschliches anerkannt hatte. Aber schon war auch überall Gärung und Umformung zu spüren.

Das Burgtheater, damals der Glanz und der Inbegriff der Wiener städtischen Kultur, strotzte, zitterte, keuchte unter alterworbenem, hochaufgetürmtem künstlerischen Reichtum und wußte nicht mehr recht, was damit anfangen. Es sieht wie eine Ironie der engeren deutschen Theatergeschichte aus, daß fast um dieselbe Zeit Wien sein neues Burgtheater und Berlin seine neue Literatur bekam. Als hätte ein boshafter Witz des Zeitgeistes heimtückisch täuschende Geschenke in Schachteln mit doppeltem Boden verteilt. Der Berliner Naturalismus, prunklos und vernünftig, war aus dem rücksichtslosen Willen der neuen Menschen geboren, und mit stürmischer Gewaltsamkeit schlug er die Pforten in die Zukunft. Das Wiener Burgtheater aber stand da als der verspätete Schlußstein einer glänzenden, üppigen, von der Börse aus reich gewordenen, an Farben und Festen berauschten Zeit. Ihre Liebe zu Prunk und Aufwand, ihre Verschwendung echten und aufgelegten Goldes, wahren und erlogenen Purpurs, ihr falsches Spiel mit Größe und Herrlichkeit, ihr Gedränge halbnackter Frauenleiber, die sich darbieten, ihre lärmende, unkeusche Sinnlichkeit, ihre kostspielige Stillosigkeit – das ist der Stil dieses Hauses. Renaissance, die durch das pulvernde, glimmernde Feuer Makarts gegangen ist, Renaissance, deren stärkste Mäzenaten nicht kleine Fürsten, sondern große Jobber waren. In diesem Gedächtnistempel eines Wien, das im Taumel der Lust und des Verdienens raste, fehlt nur, um die Repräsentation jener Zeit auch durch ihr menschlichstes Dokument zu vollenden, das Bildnis der unsterblichen Fiaker-Mili, das irgendwo, weithin sichtbar, unter dem Vorwande einer erhabenen Allegorie angebracht sein müßte; und Makart hätte sie malen müssen, wie sie halbnackt über ein Pflaster von Dukaten und Banknoten tanzt.

Bei der Eröffnung dieses ungeheuren, schimmernden, mit Prächtigkeiten aller Art vollgestopften Palastes ächzte nun der »Geist des alten Burgtheaters« bedrohlich auf. Und der Geist des alten Wien antwortete ihm mit verständnisinnigem Gezeter. All diese Sehnsucht nach Behagen und Stillstand mochte nicht begreifen, daß sowohl das stolze, schöne Profil dieser Architektur, als auch der übersplendide Reichtum dieser Ausstattung ganz im Sinne der vielgeliebten und eingelebten Burgtheater-Schönheit gedacht war, ihrer Entwicklung ins Großartige dienen und ihren Forderungen mit unerhörter Freigebigkeit antworten wollte. Der gesellschaftliche Geschmack, die literarische Hoffnung, die in der Atmosphäre des neuen Hauses lebten, hatten ihre Perspektiven in der Richtung des pathetischen Jambendramas und des elegant zugeschnittenen Salonstückes. Für jede Pracht und Vornehmheit, die das Zeitalter kannte, für die Vollendung seiner sinnlichen Ideale war es gebaut. Der Geist des alten Burgtheaters aber, grämlich und halbblind, fühlte sich nur beschämt und höchst unbehaglich, ja verloren in dem Hause, wo alle seine Kräfte erst hätten wunderbar auferstehen müssen, – hätten sie überhaupt noch existiert. Es war eine heillose Verwirrung, wie man ihn suchte und nirgends fand. Und so kam es, daß plötzlich die Enge und Kahlheit des früheren Hauses als die höchste Schönheit und das heilige Wesen des Burgtheaters erkannt wurden. Man vermißte jetzt die Gemütlichkeit, den Kontakt mit dem Publikum.

Ja, die Gemütlichkeit war aber auch im Leben, der Kontakt mit dem Publikum vorläufig auch in der Literatur verloren gegangen. Auch bei bester Akustik und intimster Behaglichkeit hätte das Wiener Hoftheater den Stil und die ruhige Größe von vordem nicht lange mehr halten können. Von innen, von der Seele der Zeit her, kam die Zerstörung, das Sprengen alter Formen, der Drang in andere Weiten; man merkte es aber nicht und klagte über die verlorene Gemütlichkeit des alten Hauses. Darum ist es vielleicht gut, daß dieses letzte Monument einer verlebten Kultur so heillos glanzvoll, so beunruhigend groß und schön gebaut wurde. Es half zertrümmern, was nicht mehr bestehen wollte. Diese ganze Herrlichkeit hatte im Innersten keinen Atem mehr. Und von außen blies der Sturm literarischer Revolutionen Keime der Erneuerung hinein. Deutschland, das große, helle, neue, stand vor den Toren. Aus München, später aus Berlin, drangen die Schriften der Moderne herüber, laut und lebendig, wie Quellfluten in ein Becken stehenden Gewässers. Wirbel schäumten auf; kleine Zentren bildeten sich, in denen das neue Bewußtsein und der neue Wille die ersten organisatorischen Stützpunkte hatte.

Längst war indessen in der Politik und in der sozialen Schichtung das Neue Gestalt geworden. Die Hoffnung des Proletariers und die Verzweiflung des Kleinbürgers, bis dahin formlose Träger sozialer Beunruhigung, waren schon aus dem Zustand unterbewußter Instinkte, zager Versuche, brutaler Vorstöße herausgetreten und in die bedeutende Form festgeschlossener Parteien gebracht. Viktor Adler und Karl Lueger, die beiden produktiven politischen Energien jenes Osterreich, hatten es vermocht, daß aus dem trüben rissigen Material des Elends und des Hasses die großen Gebilde menschlicher Hoffnungen, starke, aktionsfähige Organismen wurden. Die bedeutende Leistung der beiden Männer, im innersten Wesen dem Künstlerischen nahe verwandt, besteht – trotz allem und allem! – heute noch lebendig fort. Hinter Programmen, Schlagworten und mancherlei kleinlich wichtigem Gehabe sind doch die großen Züge festgelegt, in denen der Kampf der Zeit um ihre notwendige Erneuerung zugleich Symbol und wesentlichen Ausdruck hat. Im Altgewohnten stehen bleiben und das Erworbene eifersüchtig schützen – oder auf jede Gefahr hin vorwärts, vorwärts, vorwärts marschieren: das war im Grunde auf allen Gebieten die eigentliche Frage der Zeit. Arbeiter, Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Pfaffen, Gelehrte, Advokaten, Adelige verstanden und beantworteten sie; jeder auf seine Art. Jeder wollte zugreifen, die Hand in diesem Spiele um die Welt haben. Nur die eigentlich Intellektuellen, die gewisse unbestimmbare geistige Oberschicht des Bürgertums, die sonst am beweglichsten und am schnellsten voran ist, blieb gerade diesmal sonderbar zäh und unbewegt. Aus mancherlei Gründen: Einmal, weil von der Väter Zeit her, aus den Tagen des verbleichenden liberalen Idealismus, noch ein Hang zu Abstraktion und doktrinärem Hochmut in ihnen geblieben war, der vor der ungeheuren Sachlichkeit und Erdigkeit dieser neugeformten Weltanschauungen zurückscheute; dann aber, weil eben die jungen Bewegungen, beide auf dem Haß gegen den liberalen Bourgeois errichtet, beide auf die Zerstörung von Bourgeoisie und Liberalismus zielend, den Intellektuellen der ökonomisch satten Bürgerklasse mißtrauisch von sich abwehrten. Auch sonst hat im deutschen Österreich – und insbesondere in Wien – diese Klasse nie viel Selbständigkeit und unternehmenden Geist gehabt. Nun waren sie gar von allem, was stark und jung sein wollte, wie abgeschnitten. Da blieben denn die Künste auch länger als sonstwo außer der allgemeinen Bewegung. Aus Deutschland hallte in vollem Lärm der Kampf um den Naturalismus herüber – der in Frankreich fast schon abgeschlossen war. Nach Deutschland, nach Frankreich sahen die jungen Wiener, während die Deutschen in der österreichischen Provinz, knochiger und weniger beweglich, sich alle erdenkliche Mühe gaben, auf dem. Heimatboden ihre besondere künstlerische Echtheit zu ziehen. Bezeichnend ist ja, daß die erste Embryonalform einer modernen österreichischen Zeitschrift nicht in Wien, sondern in Brünn entstand. Aber auch in den Wienern regte sich das Gefühl: was den Norddeutschen billig ist, kann uns nicht durchaus recht sein; denn wir sind anders und aus anderen Vergangenheiten aufgebaut. Der Naturalismus war für die deutschösterreichischen Künste nie ein Problem, sondern von allem Anfang her eine Unmöglichkeit. Das Problem dieser Menschen war vielmehr: Den Stillstand der alten festgerannten Kultur zu überwinden, innerhalb der neuen, trotz ihrer sozialen und politischen Feindseligkeit, einen würdigen Platz zu finden und nun die alten Schätze und den neuen Bestand in der Harmonie eines ausgeglichenen Stiles zu vereinigen. Die Lösung des Problems ist bis heute noch nicht erreicht; noch wissen unsere Künstler nicht, für welche Schichte, für welches Volksganze, ja für welches Zeitalter sie eigentlich schaffen. Sie sind – möchte man sagen – noch gar nicht durchdrungen davon, daß sie einer organisierten Menschheit organisch mitangehören; sie sind, ihrer ungeheuren Mehrzahl nach, im tiefsten und im beschämendsten Sinne unpolitisch. Und man muß schon, so paradox es klingen mag, die zeitgemäße Vollendung unserer Kultur und das rechte Erblühen der heimischen Künste – denn bisher haben wir nur vereinzelte Könner, aber kein nationales Niveau – von zwei Dingen erwarten: davon, daß unser fiebertolles Parlament den Brocken allgemeines Wahlrecht endlich in Gesundheit verdaue und davon, daß unsere acht cisleithanischen Völkerschaften sich endlich mit Anstand untereinander vergleichen. Zwei Dinge übrigens, die untrennbar zueinander gehören, wie Avers und Revers einer Münze; das Innere und das Äußere eines gewaltigen neuen Baues, den ich nennen will: zentraleuropäischer Völkerbund mit dem Titel Kaisertum Österreich. Er muß aufgerichtet werden, oder das große Europa ringsum wird uns stückweis einsaugen, so gut es kann.

Bleiben wir indessen, wo wir sind. Daß unsere Probleme, wie sehr sie sich auch ästhetisch und psychologisch gebärden, doch alle irgendwie einen politischen Sinn in sich tragen, ist ja leider bis heute unseren Intellektuellen noch nicht durchaus bekannt. Und zu jener Zeit dämmerte kaum erst eine Ahnung davon herauf. Ein paar Deklassierte oder Wißbegierige da und dort bemühten sich um den Zusammenhang der neuen Bewegungen. Aber es lag soviel Anfang, Irrtum, Verzagtheit, Überstürzung in dieser Atmosphäre, daß sie davon ganz dick und undurchsichtig wurde. Man hörte die Rufe, aber man sah keinen Weg. Stärker und drängender wuchsen indessen auch die Kräfte moderner Geistigkeit in der jungen Bourgeoisie heran. Alles stand bereit und erwartete eine Losung. Es war Zeit, daß einer kam, der mit Witz verwegen war, stürmisch und kritisch zugleich, ein entschlossener Lenker seiner eigenen Wildheit; ein Mann der Richtungen und Überblicke, aber auch des Schaffens und Streitens; einer, der bei vielen anderen Gaben auch die Kraft hatte, zu orientieren.

Dieser Eine war Hermann Bahr.


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