Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

siehe Bildunterschrift

Hermann Bahr nach einem Gemälde von
Emil Orlik

Grundzüge

Das Beste an unserer heutigen Kultur ist immer noch die Sehnsucht nach einer besseren. Der innere Gehalt europäischen Lebens – und des deutschen Europa insbesondere – hat in den letzten dreißig Jahren reißend schnell und stürmisch gewechselt; nichts war von Bestand. Fast möchte ein gereiftes Bewußtsein die Erschütterung selbst als den einzig wichtigen Inhalt dieser Zeiten bewahren. Gibt es etwa eine Idee oder eine Persönlichkeit, die in all den Wirbeln stetig geblieben und dennoch an Kraft und Wesen reicher geworden wäre? Die Zeit hat keine vollgültigen Repräsentanten, weil ihr die zusammengefaßte Einheit fehlt, die sich am Wachstum eines Gedankens, einer Menschlichkeit bedeutungsvoll darstellen könnte. Unrast ist ihres Wesens stärkster Ausdruck. Aus dieser Unrast oder aus dem betonten Widerspruch gegen sie kommt derzeit noch jede Äußerung von wirklich repräsentativem Wert. Nicht der maßlose Inhalt, nur die maßlose Bewegtheit dieses Abschnittes läßt sich aus dem Leben oder dem Werke manches Heutigen erdeuten. Die Beweglichsten sind die Bedeutsamsten, gleichviel, wie stark, wie gründlich, wie weithin wirkend die Arbeit ist, an der sie schaffen.

Von diesen bedeutsam Beweglichen ist auf deutschem Gebiete – und vor allem unter den österreichischen Deutschen – kaum ein anderer so sichtbar und so reich an Wirkung wie Hermann Bahr. Die Leiden und Wege des europäischen Geistes von der Entdeckung der Moderne bis auf den heutigen Tag haben sich in der Lebendigkeit dieses Vielgewandten Zug um Zug abgespiegelt. Sein gesamtes Werk berichtet, wie eine Odyssee, von der Ausfahrt, den Stürmen, Versuchungen und Kämpfen dieses heutigen Geschlechtes, das zum Ziele, zur Heimat will. Sein Schaffen an jeder Wurzel erhellen und in jedem Zusammenhang erläutern wollen, das hieße die Entwicklung unserer Kultur in diesen letzten dreißig Jahren nacherzählen. Hermann Bahr: Wer diesen Namen bloß über ein Kapitel moderner Literaturgeschichte setzen möchte, hat seine Bedeutung schon ungebührlich reduziert. Der müßte nur von Büchern sprechen, von Stil und Technik des Schreibens; aber es gilt hier, die erstaunlichen Wandlungen eines ganzen Menschen anzuschauen, den Zug und die Macht einer vollen Lebendigkeit durchzufühlen. Wird einmal die Geschichte des erneuerten Österreich nicht nur an der Hand politischer Daten erzählt, sondern auch in Figuren von bestimmendem Ausdruck hingemalt, dann darf, im lichtesten Vordergrund, die Erscheinung dieses Mannes nicht fehlen, der mit seinem heftigsten Willen und mit seinem kühnsten Versuch immer dort war, wo er den Durchbruch glücklicher Neugestaltung zu erspüren glaubte. Daß er es aufschrieb, in Blättern und Büchern verkündete, in Dramen bewegte, gibt seiner Literatur diese unerhörte dokumentarische Fülle; aber daß er mit dabei war, und immer ganz dabei, im Sturm seines großen Temperamentes, streitbar, gellend und dampfend, ohne Angst und ohne Rücksicht, das ist die Tat seiner rühmlichen Bravour, und diese wird reicher an Frucht und dauernder im Leben sein, als manche Schöpfung von wissentlich geklärter Objektivität. Sein Schrifttum will nicht nur Gestaltung, sondern auch Umgestaltung. Erschautes in sinnvollen Bildern zu befestigen hat ihm kaum je genügt; seine Kraft verlangt, lebendige Wirklichkeit in Bewegung zu setzen. So läuft auch seine Kunst, leicht reizbar und immer geschäftig, in mancherlei Grenzgebiete und fremde Fernen hin, wo über diese plötzliche Gegenwart zuweilen einiges Erstaunen sein mag. Auch Feindseligkeit, Ingrimm, Haß und Hohn; es gibt in der österreichischen Gegenwart, vielleicht im ganzen jetzigen Europa, keinen Künstler, der herzlicher geschmäht, inniger verfolgt worden wäre, als Hermann Bahr. Und er hat's verdient; denn so schwärmerischer Haß, wie ihm zuteil geworden ist, kann den besten Ehren zugezählt werden, die ein Wirkender erleben mag. Das deutet auf die schreienden Schmerzen der innerlich Vergifteten, auf die Zuckungen der Geknebelten, die wehrlos um sich beißen; auf den Trotz von Kräftigen auch, die am Glanz und Lärm dieser Erscheinung nicht wortlos vorbei können; und auf den Schreck enttäuschter Liebe endlich, die hinter dem allzu unbeständigen Ziel den Atem verloren hat. In jedem Falle deutet es auf ein Format, das nicht übersehen werden kann; auf einen Kerl von ungewöhnlicher Natur.

Dieses Wesens innerster Kern ist Kraft. Das Wort sei hier zunächst in seinem derbsten Sinn verstanden. Kraft des physischen Lebens, Kraft von Bauern, Kraft von Riesen; gesunde Knochen, unverderbliche Säfte und Organe von ausdauerndem Gehorsam. Die bestimmende Bedeutung solcher Gaben für die geistige und moralische Konstitution eines Künstlers ist offenbar. Die wahre Arbeit jedes Schaffenden ist doch im Grunde: mit dem Leben zu jeder Zeit fertig werden; sich nicht von ihm überkommen lassen. Die Bedingung hierfür ist aber: es aushalten. Wer in den bösen Wirbeln nicht aufrecht bleibt, auch die gefährlichste Welle noch um die Höhe seines Kopfes überragend, der mag wohl einmal (und wieder einmal) den schaurig schönen Schrei seiner Angst hervorbringen, aber nie das machtvolle Werk des Bildners, das für sich selber da ist und seine eigene Welt bedeutet. Darum haben sich manche, zur Schonung ihrer schwächeren Naturen, aus den Wirbeln fortgeflüchtet und stillere Winkel des Lebens aufgesucht, wo es ruhig und bekannt um sie zugeht. Das sind die Feinen, die, wenn mans genau nimmt, ihre ganze Entwicklung lang für dasselbe Werk nur immer andere, immer subtilere, und immer interessantere Formen erfinden. Sie wachsen als Künstler, indem ihr Menschliches schmächtiger wird. Wer aber das Brausen eines stärkeren Blutes in sich spürt, den hält es nicht in solcher ökonomischen Umfriedung. Wohin immer er sich verschlagen sehen mag, es treibt ihn wieder und wieder, in die gefährlichen Mittelpunkte der lebendigen Gegenwart versucherisch vorzudringen. Er wächst innerlich, indem er sich nach außen hin verbreitet; künstlerisch wertbar ist ihm nur, was er auch menschlich vollbracht oder wenigstens angegriffen hat. Er braucht Riesenkräfte, soll er nicht selbst unversehens verbraucht sein. Kräfte physischen Widerstandes ganz einfach; weil die Vielfältigkeit und das Tempo seines Lebens auch eine eminent physische Leistung darstellen. Die erhöhte Vitalität solcher Menschen bewirkt, daß auch der Aufwand für ihre künstlerischen Taten irgendwie direkt vom Körper aus bestritten wird. Ihre Arbeit ist oft nur eine notwendige Weiterung des Erlebens über die Grenzen des Wirklichen hinaus, das im Augenblick nicht mehr genügen konnte: die Abenteuer ereignishungriger Nerven, persönlichste Dokumente. Ein solches Schaffen in Explosionen kann freilich nur von einem starken Körper auf die Dauer ertragen werden.

 

Aus solchen robusten Bauernkräften ist nun das Wesen Hermann Bahrs zum größten Teile aufgebaut und genährt. Er selber weiß es gut, hat des öfteren von seiner Abstammung erzählt und dabei nie vergessen, die ländliche Vorfahrenschaft aus Schlesien und aus Oberösterreich mit besonderem Behagen herauszustreichen. Es ist gar nicht notwendig, dieser Genealogie ins einzelne nachzugehen; an die unausweichliche Schicksalsmacht urväterlich ererbter Gaben glaubt man oder glaubt man nicht. Ich glaube daran. Historische und psychologische Daten (die immer umzufälschen oder umzudeuten sind) können da nichts erweisen und nichts entkräften. Auf das Gefühl kommt es an. Woher die bestimmenden Gaben dieses Einzelnen entsprungen sein könnten, mag hier ohne Beleg bleiben; festzustellen ist, von welcher Art und Wirkung sie sind. Daß sich auf ihrem Grunde urwüchsig wehrhafte Stärke findet, läßt sich deutlich genug verspüren. Nicht nur an der verblüffenden Gewalt, mit der sich dieses Leben nun schon ein Menschenalter lang in Weltteilen und in Gesellschaftsgruppen, in Versuchungen des Geistes und der Sinne, in Überzeugungen und in Ekstasen blitzschnell und unaufhaltsam herumgeworfen hat; nicht nur an der festgefügten Zähigkeit, die das alles ertragen, wiederholen, bis ins Unwahrscheinliche steigern konnte. Sondern auch an dem hellen Raufertrotz, mit dem sich diese Kräfte immer wieder in Front gerichtet haben, hierhin, dorthin, wo eben der Feind, dem es gerade gelten sollte, unter den Menschen, Ideen, Einrichtungen zu erspähen war. Die Feinde wechseln; und es ist sehr bezeichnend, daß er selbst zumeist sie aufgespürt und herausgefordert hat. Er rauft, mit wem er eben raufen will. Aber er hat sich kaum je einen Gegner aufzwingen lassen; gerade die ganz Verbissenen, die immer belfernd hinter ihm her waren und es so furchtbar gerne erlebt hätten, daß er sich einmal umdreht und hinhaut, – gerade die hat er achtlos von seinen Stiefeln weggeschüttelt. Höchstens daß er einmal einen, dessen Verleumdungen zu unerträglich stanken, beim Kragen packte und den Gerichten übergab. Die persönliche Balgerei mit diesen grinsenden kleinen Geschicklichkeiten steht seinen vollen Kräften nicht an. Er geht lieber gegen Aufrechte los, die eben seiner Sache im Wege sind; breitbrüstig und frohlockend kommt sein Zorn daher. Er ist als Angreifer gewiß nicht immer gerecht gewesen und nicht immer sachlich geblieben. Aber seine Feindschaft hat immer einen heißen Willen und ein Ziel außerhalb ihrer selbst gehabt; auch in ihren brutalsten Äußerungen war noch Herz. Mit dem tückischen Sadismus der sogenannten Pamphletisten hat seine polemische Art nicht das mindeste gemein. Sie kommt aus der Fülle des Blutes, nicht aus der Unruhe zerknitterter Nerven. Sie ist ein Dokument überschießender Kraft.

Das zeigt sich am schönsten darin, daß es diese Kraft manchmal anwandelt, mit sich selbst anzubinden. Dann geschieht es, daß er sich wie einen ungebärdigen Gegner behandelt, den man der rechten Ordnung und Harmonie zuliebe in seine gebührenden Formen bringen muß. Die Werke seiner Jugend sind von solchem unbewußten Kampf mit dem Zuviel des eigenen Temperamentes durchschüttert. In den meisten spürt man, wie diese losbrechende Gewalt für Augenblicke schon die Schauer ihrer eigenen Ziellosigkeit erlebt und dann am liebsten in sich selbst hineinwütet, um den gefräßigen Schmerz nur recht an der Wurzel zu fassen. Das macht die Wildheit dieser ersten Bücher so erschütternd wahr und so tragisch. Sie sind Auseinandersetzungen mit der eigenen chaotischen Lebenskraft, die, eben ihrer selbst bewußt, sich in die Sehnsucht nach harmonischer Lebensfülle zwingt. Es ist der Kampf um die kultiviertere Form der eigenen Persönlichkeit, die sich aus der Unschuld ihrer Triebe gegen jede Form erst noch erbittert wehrt. Der großlinige und phantastische Stil dieses Kampfes gibt ein Zeugnis davon, mit welcher Macht und in welchen Tiefen er geführt worden ist. Er ist für die ganze Moderne typisch; und ist nirgends so naiv und so wissentlich zugleich in künstlerische Gestaltung umgegossen, wie in diesen wilden Erstlingen von Hermann Bahr. Weil eben andere vor allem das Ziel geliebt haben, er aber vor allem den Kampf; weil er im Aufruhr und Widerstreit seiner Kräfte sein Leben am eindringlichsten fühlt.

Das lockt ihn auch später noch oft. Nur daß dieser Kampf der Instinkte mehr und mehr unter die Direktion des Bewußtseins kommt. Sein Gegenstand ist nicht mehr der chaotische Andrang von Reizungen, Eindrücken Vorstellungen, der nach Sinn und Einheit strebt, sondern eine geistig geordnete Welt, die die Einfügung der Persönlichkeit will. Das Problem des Überstarken, der einmal inne wird, daß das Leben immer noch stärker ist, gestaltet und wandelt sich gern in seinem späteren Schaffen. Und es ist sehr bezeichnend, daß ihm diese Meister, die sich vom Schicksal meistern lassen, so oft auch als physisch Mächtige erscheinen, als auserlesene Rassemenschen mit gesunden Knochen, unverderblichen Säften und Organen von ausdauerndem Gehorsam. Instinktiv gibt er seinen Repräsentanten der tragischen Hybris so gerne den bäurisch-athletischen Einschlag; es beweist, daß diese Note seinem Lebensgefühl, seinem Gefühl von sich selbst wesentlich ist. Er kann sie in der Darstellung seiner inneren Kämpfe nicht übergehen. Die ungebärdige Kraft, die früher nur als heftigster Antrieb im Chaos blinder Dränge wirkte, wird jetzt auch seinem Bewußtsein sichtbar, wird Objekt unter den Objekten seines Schaffens. In ihrer doppelten Rolle, formend und Form empfangend, spielt sie nun mit sich selbst, spiegelt sich mannigfaltig in ihrer eigenen Bewußtheit.

 

Auch außerhalb der Kunst. Denn es ist ihre Lust, nicht im Umriß dichterischer Gestalten gefangen zu sein, sondern sich immer wieder, immer anders, immer kecker zu erproben, sich mit den eigenen Augen immer tätig und siegreich zu sehen. Ruhig auf sich zu beharren und die Früchte ihrer Gaben von selbst ausreifen zu lassen ist dieser Kraft nicht zugeteilt. Um zu wirken muß sie sich selber spüren; um sich zu spüren muß sie beweglich sein. Sie ist fest im Wesen dieses Mannes eingewurzelt und verläßt ihn nie; aber wenn sie sich zeigt, dann will sie rasch und vielfach um sich greifen. Diese leicht reizbare Beweglichkeit – das Temperament, wie man es zu nennen pflegt – gibt seiner Stärke Schwung, Geschmeidigkeit und Schlagkraft. Das führt ihn und verlockt ihn; das erzeugt die Spannungen und Explosionen, die sein Werk und sein ganzes Dasein so auffallend und wechselvoll gestalten. Ja, oft drängt sich dieses Temperament in seiner Unbändigkeit noch vor die ursprüngliche Kraft, überschreit sie und möchte sie verleugnen. Dann kann es aussehen, als sei Bahrs Wesen überhaupt nur aus lauter Sprunghaftigkeit und jäher Hitze zusammengesetzt und habe keinen anderen Trieb, als unaufhaltsam von Form zu Form überzuquellen. In solchen Jahren und nach solchen Leistungen entstand das Urteil, er sei in der wahren Natur seines Geblüts mehr den Romanen (oder den Juden) verwandt als den Deutschen.

Er selbst aber sagt einmal: »Ich hasse den Kelten in mir«, und scheint also wesentliche Züge seiner Persönlichkeit aus irgendwelcher keltischen Beimischung herzuleiten. Auch für diese läßt sich ja kaum ein genealogischer Beweis erbringen; und wäre er erbracht, so könnte er im besten Falle von allgemeiner rassenpsychologischer Bedeutung sein. Hier aber handelt es sich um ein einziges Individuum. Keltische Vorfahrenschaft ist bei allen Deutschen aus dem inneren und dem westlichen Österreich wahrscheinlich. Wenn die besondere Begabung, vorhandene Kulturformen zu ergreifen und analytisch zu überwinden, wenn kühner Witz, der sich in pathetischen oder ironischen Pointen gefällt, als die bezeichnenden Merkmale keltischen Geistes angesehen werden, dann ist bei Hermann Bahr die Wahrscheinlichkeit einer solchen Abstammung wohl begründet. Er hat von je die festgefügten klaren Formen geliebt, die sich aus lebendiger Tradition entfalten; das machte ihn ja zum heißen Verehrer und Verkünder aller französischen Kunst. Noch mehr aber liebte er es, diese Formen kritisch abzutasten, ihren Bestand, ihre Herkunft, ihre Übergänge eindringlich aufzuklären. So hat sich ihm ein formales Gewissen von allergrößter Empfindlichkeit entwickelt. Was sicherlich auch einen bedeutenden Anteil daran hat, daß er in Formen, die seinem rasch und energisch arbeitenden Verstand nichts mehr zu sagen haben, auch nicht länger verweilen mag; ob es nun Formen literarischer, politisch-sozialer oder allgemein kultureller Tätigkeit sind. Er wirft sie leicht hinter sich, sobald sie seinem Kopf keine Arbeit, seinem Angriff keinen Widerstand mehr bieten können; und hat sich auch manchesmal gar nicht darum gekümmert, ob der Inhalt ausgeschöpft war oder nicht. Ergreifen, verstehen, vernutzen, weitergeben: das ging eine Zeitlang so überraschend und unaufhaltsam, daß böse und stumpfe Augen in dieser Kette eiliger »Überwindungen« ein Anzeichen innerer Haltlosigkeit und Leere erkennen wollten. Sie sahen eben nur die vehemente Bewegung, nicht aber die spendende Kraft. Und diese hat schließlich doch nach jeder solchen Überwindung ein fruchtbares Ergebnis für sich und für die anderen festzuhalten vermocht. Denn sie hat sich vom Temperament nie zu Schanden hetzen, vom Witz nie ganz übertölpeln lassen. Im Gegenteil; sie hat gebändigt und korrigiert, ehe es zu spät war. Ihre ernste Gewichtigkeit hat doch verhindert, daß der Hang zur geistreichen Pose – der sich ja aus den keltischen Ursprüngen herschreibt – in eitel Donquichotterie und Klopffechterei ausarte. Daher hat sein Witz den starken Hintergrund und die schlagende Sicherheit. Aus den formalen Einwirkungen des keltisch behenden Witzes auf die germanisch ruhige Kraft stammt seine unermüdliche Geschmeidigkeit; stammt seine frohe Grazie, die lebhaft, mitteilsam, in nie erschöpfter Geberlaune zwischen den Menschen und den Dingen umläuft. Sie ist sich immer ihrer selbst bewußt; denn sie zieht wohl ihre Säfte und den Kern ihres Wesens aus den schweigsamen Tiefen dieser menschlichen Natur; aber ihre Äußerung und ihre Richtung ist jedesmal ein Geschenk der unruhigen, helläugigen, formkundigen Intelligenz. So liebt sie es auch, von sich selbst zu wissen, sich selbst in ihrer Leistung zu ehren, sich lebhaft und vielfach auszudrücken, im wählerischen Gebrauch ihrer Mittel sich selber zu betonen: sich darzustellen.

 

Bewußte Handhabung und Darstellung persönlicher Qualitäten: Schauspielerei. Hier wurzelt, was damals so oft als die komödiantische und theaterhafte Art Hermann Bahrs verschrien worden ist. Von hier aus sieht man, daß dies niemals seine innerste Natur gewesen ist, sondern sozusagen nur eine zeitweilige Methode, von ihr Gebrauch zu machen. Wie ja alle Schauspielerei nicht in der Fähigkeit unbegrenzter Verstellung beruht, sondern in dem Vermögen, seiner inneren und äußeren Natur soweit Herr zu werden, daß sie – innerhalb ihrer Grenzen – hergeben mag, was der darstellerische Zweck eben braucht. Und da unser Leben zu jeder Stunde vom Zweck beherrscht ist, und da wir den Ausdruck unseres Wesens instinktiv oder routiniert auf den Zweck einzustellen gedrängt sind, so ist die Schauspielerei ein wesentliches Ingrediens unseres gesellschaftlichen und unseres privaten Daseins. Schauspielerei, nicht als heuchlerische Verstellung, sondern als Kultur des Ausdruckes. In diesem Sinne und nicht anders ist auch das schauspielerische Wesen an Hermann Bahr zu verstehen. Ein fortwährendes Ergreifen, Bewältigen, Auflösen lebendiger Formen. Es sind Wandlungen in der Art und Richtung des Ausdruckes, nicht so sehr im Wesen selbst. Da aber sein Wesen vor allem von einer ungewöhnlichen Kraft bestimmt ist, so muß auch sein Ausdruck zumeist von besonderer Vehemenz und Auffälligkeit sein. Ja, wie diese Kraft sich ihrer Eigenheit bewußt wird, verlangt sie geradezu nach einer starken und sinnlich einprägsamen Selbstdarstellung. Weshalb sich jedes Problem, das Bahr ergreift und bearbeitet, gleich auch als ein Problem der Form anzeigt.

In ungefähr gleicher Potenz stehen die drei Grundmächte seines Wirkens gegeneinander: die elementare Kraft seiner Natur als der stetig zuströmende Urstoff des Geschaffenen; der instinktive Bewegungstrieb dieser Kraft – das Temperament – als der schöpferische Erreger; und über den beiden noch die Bewußtheit, als Verpflichtung zur Form, als das schöpferische Gewissen. Sein scharfer und wacher Geist zeigt ihm wie ein Spiegel mitten unter den Dingen dieser Welt auch jene Kraft und jenes Temperament in dem perspektivischen Verhältnis, das seine augenblickliche Stellung zu sich selber eben angibt. Daher die starke immer spürbare Subjektivität seiner Leistung. Er muß unmittelbarer als andere in all seiner Schöpfung sich selber darstellen, weil mit seinen besten Gaben immer auch dieses Wissen um sich selbst zu besonderer Helligkeit erweckt wird. So muß die gestaltende Kraft, indem sie tätig um sich greift, immer auch eine Spur, einen Widerschein der eigenen Persönlichkeit ergreifen; so muß das behende Temperament, wo es vordringt, immer auch irgendwie auf sich selber stoßen.

Deshalb ist sein Leben der wichtigste Teil seiner Schöpfung geworden, und seine Persönlichkeit in ihren ausdrücklichsten Formen von ihm erarbeitet. Er ist – in seinen lebhaften Zeiten zumal – ein nie beruhigter Experimentator mit seinen eigenen menschlichen Werten. Weil er aber die Formen seines Wesens in bedeutendem Wechsel selber auswählt und ihren Zwecken bestimmt, so mag er sich oft auch als den Allgegenwärtigen und stets Bereiten sehen. Ein starker Wille, nirgends zu fehlen und nie zu versagen, wo immer in seinem Bereich Hilfe oder Weisung nottun könnte, treibt aus dem Experimentator den Agitator hervor. Leidenschaftliche Hingabe verstärkt oft den sachlich gestaltenden Ausdruck zum werbenden Ruf. Kaum hat er eine Möglichkeit des Miterlebens in irgend einer Erscheinung aufgespürt, so macht er auch schon diese ganze Erscheinung zu seiner persönlichen Sache; wie er sich selbst in ihr entdeckt hat, entdeckt er sie nun seiner Mitwelt. Die Lust an der eigenen starken Mannigfaltigkeit macht ihn so zum Verkünder fremder Kräfte und Werte; denn jede Schönheit, die er von außen her erfassen mag, hat vorher schon seinem inneren Reichtum zugehört. Und die »Manie des Entdeckens«, die man ihm eine Zeitlang vorgeworfen hat, ist vielleicht nichts als die Fähigkeit, sich selbst immer wieder und immer von einer neuen Seite her aufzufinden.

 

So ist er der große Unruhige im Bereich der österreichischen Kultur. Da gibt es kein Gebiet von öffentlicher Wichtigkeit, auf dem er nicht bedeutende Mitwirkung versucht hätte. Aber wo seine Kraft allein stand und für alle schaffen konnte, dort fühlte sich auch sein Temperament am freiesten und wohlsten, dort schlug seine Flamme um so schöner empor. Vor allen anderen und gegen tausend andere hat er am Ausgang des letzten Jahrhunderts den Bestand eines neuen Wuchses in den österreichischen Künsten festgestellt. Hat ohne Scheu vor Irrtum und Übertreibung auf alles, was da empor wollte, mit starker Gebärde hingewiesen; lieber um eins zuviel getan, als daß er sich Blindheit oder Vernachlässigung hätte vorwerfen wollen. Er mußte eben mit dem Einsatz seiner Persönlichkeit arbeiten; denn um diese hat es sich im Grunde gehandelt. Eine Kraft war da, der das schöpferische Spiel mit inneren Gesichten noch lange nicht genügte; ein Temperament, das sich in ruhiger Sachgestaltung allein nicht ausleben konnte; und ein Verstand, der diesem blinden Willen zur Tat immer wieder den Weg einer Notwendigkeit wies. Zeigte sich etwa, daß er diese Notwendigkeit nicht an ihrer sachlichen Bedeutung, sondern an seiner eigenen Tatfreude gemessen und also überwertet hatte, wie billig war dann das Grinsen derjenigen, die niemals irren können, weil sie sich nie versuchen! Und wie dumm war es! denn das, was sie für vertane Mühe und verlorenes Wagnis hielten, war doch immer ein Gewinn an persönlicher Form. Nicht alles, was dieser Verkünder uns in die Zukunft vorausgezaubert hat, ist Wirklichkeit geworden; aber immer hatte es unmittelbare Wahrheit in seinem, in unserem Gefühl und hatte lebendigen Wert als Äußerung eines gestaltenden Willens. Dieser Mut zum Irrtum – zur Übertreibung, wenn man es schon so nennen will – war nie etwas anderes, als der Mut zum vollen Ausdruck der augenblicklichen Wesensform. Der Drang, sein Erlebnis auszuleben und auszugestalten, nach dem unverkümmerten Maß aller Entzückungen und Gereiztheiten: nur diese höhere Verpflichtung zur letzten subjektiven Wahrheit hat ihn in jene Irrtümer hineingeführt.

Indessen, wie viel Echtes ist bei seinen vulkanischen Umformungen auch gefördert und für die Dauer befestigt worden! Leichter ist es freilich, von den fruchtlosen Wagnissen zu reden, von den allzuvergänglichen Ekstasen, von den Verkündungen, die nicht bestätigt worden sind. Das ist sein eigenstes Eigentum geblieben; und der hämische Ingrimm flacher Köpfe hat schon dafür gesorgt, daß es ihm nicht vergessen werde. Aber was er den Künsten und der Kultur an unverlierbaren Gaben zugebracht hat, das ist, von der Kraft seiner Subjektivität einmal ins Weite hinausgeschleudert, nun längst in den regelmäßigen Kreislauf unserer geistigen Güter einbezogen; die Marken des persönlichen Verdienstes sind davon abgewischt. Was aber kein Grund sein muß, dieses Verdienst zu verkennen oder zu verkleinern. Wer das Herz hat sich zu erinnern, der weiß von der Größe dieses Verdienstes; und wer sonst davon überzeugt sein will, dem finden sich in Büchern und Schriften kräftige Beweise. Die verblüffenden Feststellungen zunächst, in denen diese geschwinde Intelligenz den Geschmack und die Sehnsucht unserer Zeit um Jahrzehnte vorausgewittert hat. Wie viele der Namen, Richtungen, Ziele, die heute gelten, sind in seinen frühen kritischen Versuchen genannt und vorgezeichnet, noch lange, lange, ehe sie auf den Tafeln der gemeinen europäischen Bildung zu lesen waren! Es ist klar, daß der kritisch wägende Verstand allein die Höhe solcher Ausblicke nicht erreicht. Dazu gehört eine Vehemenz der Einfühlung, die sich kaum mehr von völliger Selbstverwandlung unterscheiden mag. Fast jeder neue geistige Fund bedingt so auch eine neue seelische Form – oder ist von ihr bedingt. Was ist Früher und Später in der Unlöslichkeit solcher innerer Zusammenhänge? Das Problem der persönlichen Entwicklung wird fast jedesmal auch zu einem Problem des künstlerischen Stiles. So kommt es, daß sich seine individuellen Lebenskämpfe häufig unter dem Anschein sprachlicher Experimente äußern. Diese Kühnheiten des Wortes sind aber aus den Tiefen starker Gefühle emporgesprungen, sind von dem Zwang befohlen, mit dem verwirrenden Neuwuchs ringsum und im Innern fertig zu werden. Das gab ihnen so viel weiterwirkende Fruchtbarkeit. Es ist sicher, daß die literarische Sprache, die das heutige deutsche Österreich spricht – wenn man etwa von einiger Bauernrauheit absieht –, zu einem großen Teil von Hermann Bahr gebildet, aus deutschem Klassizismus und französischer Moderne extrahiert und zu neuem, eigenem Wesen umgeschmolzen worden ist. Er hat diese Prosa empfindlich und beweglich gemacht, hat sie an allen Gelenken massiert, ihre Glieder frisch geschmeidigt, und ihren ganzen Bau durch die verwegene Zufuhr von mancherlei fremden Giften so sehr gereizt, daß die Blutwärme darin für lange Zeit bedeutend erhöht ist. Er hat Worte aufgebrochen und neu ineinander wachsen lassen; Regeln der Zierlichkeit und der Wucht nicht etwa theoretisch diktiert, sondern in wirksamen Beispielen aufgestellt. Und hat endlich, zur rechten Zeit wiederum, diese kräftige Reizbarkeit der Sprache in eine schöne Ruhe gebändigt, die unter dem Gesetz eines strengeren bildnerischen Gewissens jenen nervösen Reichtum des Ausdrucks in Formen von Gewicht und knapper Festigkeit noch aufbewahrt. Immer aber war seine sprachliche Gestaltung so anregend und überzeugend, daß sie sich – in zahllosen individuellen Abwandlungen – durch einen beträchtlichen Teil des heutigen deutschen Schrifttums fruchtbar verbreitet hat. Bis weit hinaus, wo persönliche Grundlagen und schriftstellerische Absichten schon keinen entfernten Vergleich mit Bahr mehr gestatten, sind für denjenigen, der seine stilschaffende Macht kennt und anerkennt, die Spuren seiner Wortkunst und seiner Wortkühnheit erkennbar. Sein Anteil am Werden der modernen deutschen Prosa ist ungeheuer.

Und sein Anteil an dem, was diese Prosa auszudrücken hat, nicht minder. Wie weit könnte denn der Einfluß eines sprachlichen Stiles reichen, wenn er, allzu eitel in sich selbst verliebt, die Kräfte nur auf das eigene Wesen und Werden gerichtet hätte? Hier aber hat fast immer ein Wille zur Sache das Wort gebildet. Es ist nicht gesagt, daß diese Sache jedesmal so groß, so wichtig, so ernst, so rein war, wie er sie uns zeigen mochte; aber daran ist kein Zweifel, daß er sie jedesmal so gesehen hat. Man vergesse nicht, daß eine im Grunde so derbe Kraft, von einem so heißen Temperament gelenkt, gar nicht imstande wäre, seine augenblickliche innere Wahrheit hinter ein fremdes Gesicht zu stecken und also der Welt zu irgend einem listigen Zweck Maskeraden vorzumachen. Wenn es wahr ist, daß er in Momenten geistiger Überhast oder Überspannung zum Spieler wurde, dann war er gewiß auch der naivste und von seinem Part überzeugteste Spieler. Seine Narrheit – wenn sie je existiert hat – ist eine durchaus shakespearische gewesen: reizbare Klugheit, die verzweifelt um sich schlägt. Er hat es in jenen närrischen Jahren nie geleugnet, daß es ihm oft nur darum zu tun war, den Bourgeois zu bluffen; hat aber für jeden, der aufmerksam mitfühlen mag, auch nie verhehlen können, wie bitter notwendig für seine und für die allgemeine Sache ihm dieser Bluff erschien. Die ungeduldige Verwegenheit solcher Paraden hatte ihre innere Rechtfertigung in dem Drang, für eine im Übermaß empfundene Notwendigkeit Übermäßiges zu tun.

 

Man hat den traurigen Unsinn begangen, aus diesen Gewaltsamkeiten und launischen Ausbrüchen seinen »Charakter« konstruieren zu wollen. Als ob die gradlinige Verbindung äußerster Endpunkte auch nur den flüchtigen Umriß irgend einer Wesenheit ergeben könnte. Im Gegenteil: die Kraft, die nach so verschiedenen Richtungen hin so Extremes hervortreiben mochte, hat damit nur ihre Stetigkeit und lebendige Energie bewiesen, das Temperament, das sich bis dorthinaus wagte, sein unverbrauchbares Feuer; und der Geist, der dem Überdrang der beiden die Ziele suchte und etwa in die Irre geriet, war nur ihr unvollkommener Diener, nicht aber ihr listig launischer Herr. Er konnte die menschliche Echtheit des Gefühls und des Geblüts wohl einmal verlocken, aber nie verfälschen. Ihre Reizbarkeit wäre nur dann als Schwäche zu deuten, wenn sie sich von den blitzenden Einfällen dieses Verstandes jemals hätten dauernd hypnotisieren lassen; so aber blieben sie immer frei, immer sprungbereit, immer gesund. Aus jeder heftigen Reaktion auf den geistigen Anreiz gewannen sie nur die Möglichkeit, zu erneuter Umformung frisch und gelenkig zu bleiben. Und ein faustischer Wille, die ganze Welt in sich zu fassen und aus sich zu gestalten, wächst aus dieser unverderblichen Kraft, die sich in jeder neuen Prüfung aufs neue bestätigt sieht.

Endlich muß, mit der Notwendigkeit eines eingeborenen Gesetzes, der Irrtum abfallen; der oft enttäuschte Geist tritt in Selbsterkenntnis hinter die untrügliche Natur zurück. Nun beginnt das Leben nach innen zu reifen; die Stunde überfließt nicht mehr, aber das Jahr wird voller und schwerer; Beschwichtigung kehrt ein. Was vordem wilder Drang zu geistiger Allherrschaft war, ist jetzt heitere Lust an gesichertem seelischem Besitz geworden. Den Verführungen des spiegelnden Verstandes, sich an die ganze Welt auszuteilen, widersteht nun der mächtigere Wille, für sich zu sein und in der eignen Kraft zu ruhen. Da wächst das eroberte Stückwerk von selbst zur lebendigen Einheit zusammen. Da wird das bildnerische Gewissen mächtig und erkennt, daß die Form nur dauern kann, wenn ihre Elemente aus den festen Beständen des eigenen Wesens genommen sind. Das Gefühl, dem die Wohltat der Begrenzung heller und heller aufgeht, drängt zu gesammelter Sicherheit und zwingt das widerspenstige Temperament unter sich. Und im Glück dieser Reife streben alle menschlichen, geistigen, künstlerischen Gaben des Mannes dem einen Ziele zu, das für den Überschauenden einzig noch Würde und Wert hat: der Befestigung der eigenen Persönlichkeit.

Nicht etwa in Kargheit und Starre. Die lebendige Fülle verringert sich nicht an Gehalt und kaum an Beweglichkeit. Nur daß Rhythmus und Sinn der Bewegung nach einer großen unverlierbaren Einheit streben. Die kostbaren Güter der Erfahrung, des Könnens, der Lebensherrschaft, die in den Jahren stürmischer Besitzergreifung aufgestapelt worden sind, ordnen sich nun nach den Plänen einer stilleren Weisheit; als hätte diese, hinter den Kämpfen des Willens und des Verstandes unerschütterlich ruhend, von Anfang her alles überschaut und vorbereitet. Nun vollendet sich das beste und klarste Werk, das einer freien Persönlichkeit gelingen kann, das Kunstwerk des eigenen Lebens. Da offenbart sich wieder die große und gesunde Kraft, die in Beharrlichkeit walten will, als der gesegnete Grund alles Gedeihens. Sie hält und hegt, was aus den Tiefen seines Lebens zu eigener Form will, gibt die Säfte und Salze für den organischen Bau, läßt es selbständig weiter wachsen. Der Geist, gewitzigt und dienstbereit, hat nur mehr die Lichter aufzustecken, die den Sinn dieser Lebensschöpfung von außen her bis in den Mittelpunkt erhellen. Und das Temperament, quellend fruchtbar aus seiner vulkanischen Vergangenheit, gibt die stetige Wärme für dieses Wachstum her. Die ganz germanische Sehnsucht, innerhalb der weit aufgetanen Persönlichkeit das All zu umfassen, hat auch den keltischen Witz, die romanischen Fieber des eigenen Wesens in sich geschlungen und wohltätig gelöst. Alle diese Subjektivität hat sich nun auf ihren höheren Zweck besonnen: nicht mehr gebärdeneifrig sich auszusagen, sondern sachgetreu sich zu gestalten, also im künstlerischen Sinne objektiv zu sein. Die ursprüngliche Kraft, nach jauchzenden und leidvollen Irrfahrten nun wieder bei sich selbst, hat in den langen Läuterungen erkannt, was Herrschaft und was Freiheit ist. Es gibt nur eine Herrschaft, und das ist: Von seinen Gaben wissen, und sie nach den Maßen, die im Gefühl begründet sind, freudig gebrauchen. Es gibt nur eine Freiheit, und das ist: Sein ausgereiftes Wesen in Formen von lauterster persönlicher Wahrheit darbringen. Weltkundige Weisheit, künstlerische Gewalt und die Vollendung der Persönlichkeit finden sich auf einem letzten Gipfel der Entwicklung und wachsen unlöslich in eins.

Nach mancherlei Umwegen, tollkühnen Sprüngen, jähen Abstürzen, durch Zaubergärten und durch Wildnisse; nach den Entzückungen, Ermattungen, Todesschauern und aufstachelnden Ängsten, in denen auch die Seele von Europa gezittert hat und noch immer zittert. So exponiert sich in der Entwicklung dieses Mannes gleich auch die Entwicklung der ganzen Epoche zu einem starken und bedeutsamen Teil. Seine Geschichte ist die Geschichte der westeuropäischen Seele in ihrem Übergange aus dem neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert: Aus einer Zeit des psychologisch-analytischen Experimentes in eine Epoche bestimmteren Wollens, die zu den großen religiösen und politischen Synthesen hinüberführen soll.


 << zurück weiter >>