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Die gute Schule

Der Übergang von Generation zu Generation war also vollbracht; das alte Erlebnis dichterisch ausgestoßen, die frische Erfahrung kritisch verzeichnet. Jetzt konnte der neue Boden neue Kunst tragen. Das Material war aufgespeichert und bereitet, der Wille auf das Werk gestimmt, die Kräfte in froher Spannung. Die Kenntnis letzter, feinster Schönheiten verlangte nach Form; die farbige Ferne, der wilde Genuß und die stillen Ekstasen verlangten nach Form; das Gefühl der überlegenen Jugend verlangte nach Form; das ganze neueroberte Dasein, das prickelnde Dahingleiten über alle Oberflächen des Lebens, diese Sicherheit im grundsätzlich Labilen verlangte nach Form. Das überwache Wissen drängte stürmisch in ein anderes Können hinein. Der neue Impressionismus wollte sich ausleben, in sachlicher Gestaltung und in der seelischen Durchleuchtung. Die Welt – ein blitzender, brausender Strom von Eindrücken, die einander auslösen, verstärken, ergänzen, verschlingen, wiedergebären: das fügt sich nur der epischen Bewältigung, dem Roman. Und der Mensch dieser Welt lebt eigentlich nur im Empfangen, Verarbeiten, Überwinden des sinnlichen Eindrucks; sein vollkommenes Beispiel ist der Künstler. Aber das Weib ist der mächtigste Reiz, dem die vielen anderen doch nur dienen; die letzte Erfahrung, die abschließt und bestätigt; das unvergleichlich tiefe Erlebnis, das aus den Sinnen in die Seele schlägt und endlich Schicksal wird. Damit ist der Kern und die Bewegung dieses Künstlerromanes gegeben. Die Liebe enthält alles und verleiht alles, was den Menschen für das Leben rüsten kann. Man muß nur heil hindurchgekommen sein, bis ganz an das andere Ende, wo die Betäubung fällt und die Weisheit aufgeht. Dann hat man die große Sicherheit in den Händen, die vor Täuschung und Enttäuschung bewahrt. Dann ist das Ziel erreicht und die heilige Ruhe erworben. Als Bahr so weise wurde, da war er eben sechsundzwanzig Jahre alt.

 

»Die gute Schule« heißt dieser Roman. Spielt in Paris, im Jahre der großen Weltausstellung, unter Künstlern und Kokotten. Und enthält eigentlich nichts als das: Daß einer ausging, um mit seiner Kunst die Welt zu erobern; und ein kleines Mädel fand, das seine Geliebte wurde; die ihn quälte, weil sie ihn liebte, die er quälte und die ihn verließ; worauf er einsah, daß die großen Gefühle die großen Irrtümer sind; weil der Mensch ja doch nur die Bestimmung hat, seinen Augenblick möglichst angenehm auszufüllen. Das ist der höchst einfache Rahmen der Geschichte. Er erweist sich als kräftig genug, ein Weltbild zu umspannen. Der Hintergrund ist das ungeheure Paris mit den aufreizenden Rhythmen seiner Bewegung, mit seinen Farben und Strahlen, seinem Duft und seinem Lärm. Eine bezwingende Impression von Freude, Geistigkeit, Arbeit, Licht. Da ist keinerlei Versuch gemacht, Milieus dokumentarisch aufzuschichten, ein Schicksal aus einer Menschheit, die Menschheit aus einer Umwelt erwachsen zu lassen. Auch führt kein ausgefeilter Dialog durch die Wandelgänge auserlesener Geistigkeit ins Zentrum seelischer Wirrnisse. Alles ist Eindruck, nervöses Ereignis, erste, reinste Subjektivität. Ein Einziger gibt aller Wesenheit Gestalt, indem er sich selbst gestaltet. Paris ist eine Leistung seiner geschulten Sinne. Ihre Antwort auf den Anruf, der ihnen von Straßen und Stuben, Gärten und Menschen herkommt, ist an die Stelle aller Wirklichkeit gesetzt. So bleibt von dem Sachbestand der ganzen unfaßbaren Stadt kaum mehr übrig, als etwa ein abendliches Volksfest, Spaziergänge im Grünen, Ateliers, ein kleines Wirtshaus: lauter Beiläufiges und Geringes, das einer verläßlichen Schilderung nicht dienen kann. Aber dieses Ungefähr der realen Einzelheiten ist so sinnlich durchlebt und so frisch aus dem lebendigen Augenblick gesprengt, daß es die suggestive Kraft weitreichender Perspektiven hat. Es gibt Atmosphäre. Und aus dem lockeren Schaum, den diese Brandung durcheinanderwogender Eindrücke aufwirft, steigt in lichter Schönheit das Bild der wunderbarsten Stadt empor.

Die Schöpfung einer starken und stark bewegten Subjektivität; die Vision eines Einzelnen. Denn nur von ihm ist in diesem Roman die Rede, ausschließlich und mit betonter Absicht. Die ganze Welt ist nur seine Welt. Der Lufthauch, der Lichtstrahl, der Duft der Rosen, der Lärm der Straßen, die Haut der Weiber – das alles ist sinnlos, zwecklos, ist überhaupt nicht da, wenn er es nicht sieht, hört, fühlt, schmeckt, riecht. Er ist die Menschheit; der sublimste Auszug der Menschheit, auf den alles Frühere nur vorbereitet hat. Er ist der Wissende, der ins Letzte folgert, und der Künstler, der vollendet. Er steht auf den freiesten Höhen seiner Zeit, tief unter ihm Geschichte, Tradition, Vorurteil, die Hemmungen des Gestern. Er ist Gegenwart und Zukunft; er ist die Jugend. In der Tat, ein so klares und ganzes Abbild der damaligen Jugend, ihrer Kühnheit, ihres Hochmutes, ihrer Hoffnung und Verzweiflung, wird kaum sonst in einem Buche jener Zeit zu finden sein. Schon darum ist es ein dokumentarisches Hauptwerk und verdient seinen dauernden Platz in der Geschichte der Künste. Es enthält den Einen, der die ganze Generation enthält. Und durchleuchtet ihn so scharf, daß der Strahl, ironisch gebrochen, noch aus den jenseitigen Flächen des Gebildes dringt. So ist die feste menschliche Kontur gleich auch vom irisierenden Schimmer kritischer Selbstbetrachtung umwoben. Die kluge Hand des Bildners hat gleichsam die Stellen schon vorher gespürt, an denen künftige Geschlechter die Patina des allzu Einstmaligen und Überwundenen ersehen könnten; aber der Schliff einer künstlerischen Ironie erhält nun auch diese Stellen in unvergänglichem Glanz.

Dieser Hang, seine Überlegenheit auch gegen sich selbst auszuspielen und auf eigene Kosten spöttisch zu sein, liegt übrigens schon vorbestimmt in den zeitgemäßen Bedingungen der Figur. Übergangstyp, mit realistischen Zweifeln gerüstet, romantischer Sehnsucht voll. Das Rückschauen von höchsten Traumgipfeln auf die allzumenschlichen Voraussetzungen gehört in seine Natur. Denn seine Romantik schwärmt nicht weltflüchtig und zeitabgewandt; sie bekennt sich mutig zu Lebensgier und Herrschgelüste, hat unbestochene Augen, gesunde Zähne und einen empfänglichen Schlund. Eine Romantik, die das Leben groß und festlich, aber auch echt und haltbar haben möchte und an die Möglichkeit der erlösenden Tatsache glaubt. Die Romantik unserer Zeit und unserer Jugend im Grunde, die – so hoffen wir und glauben wir! – nicht mehr überwunden, sondern nur noch von Erfüllungen abgelöst werden kann. In diesem Buche nun ist der schwärmerische Arbeiter, der sehnsuchtsvolle Realist und der gläubige Zweifler heutigen Datums zum ersten Male künstlerisch gestaltet. Künstlerisch und als Künstler. »Also, das war sein kolumbisches Ei. Farbe, schrien sie hier und mißhandelten die Begierde der Wahrheit; Wahrheit, schrien sie dort und mißhandelten die Begierde der Farbe. Farbe und Wahrheit, beide, antwortete er beiden. Nämlich, er nannte es ›dekorative Musik aus naturalistischen Tönen‹. Daß das Ganze sänge, farbige Hymnen und brausende Symphonien in die Augen gösse, das forderte er mit den Koloristen. Aber ein doppeltes Leben lebten diese Klänge, lebendig auch außer dem Rhythmus, weil jeder einzelne aus der wirklichen Welt geholt und im Natürlichen vollzogen sein sollte.«

 

Da ist freilich von nichts anderem die Rede, als von einem Bild; ein Maler spricht über seine Kunst. Aber die farbige Sinnfälligkeit ist ja hier nicht nur sprachliches Kostüm, sondern auch Erlebnis und Symbol. In diesem Künstlerroman wird – wie sich's gebührt – der Kunst eine durchaus religiöse Macht und der Vollendung des großen Werkes der Sinn einer Welterlösung zugeschrieben: »Und von diesem Grün, wie von einem göttlichen Wunder, strahlte in üppigem Segen die neue Kunst und wandelte über die Erde in begeisterten Propheten und warb Priester dieser neuen, schöneren Religion, und alle die seligen Völker wallten zu dem gebenedeiten Stifter mit Weihrauch und Gebet … Wie er damals fortgegangen war, den Boulevard entlang, durch den lachenden und jubelnden Frühling, wie ein König stolz, der zu Triumph zieht, selig wie ein Pilger, der von der heiligen Gnade mitbringt – und niemals waren die jungen Blüten so helle gewesen und niemals alle Mädchen so lieblich und küssig, und zu den müden Arbeitern, die von der Fabrik kamen, hätte er reden mögen, trostreich, daß jetzt alle Not ein Ende hätte und die Hütten feiern sollten, und von den höchsten Türmen hätte er es verkündigen mögen, daß es jetzt fertig war, fertig, fertig, so unfaßlich es war, wirklich fertig!«

Es ist nur ein Bild, von dem so ausschweifend geschwärmt wird; in Ekstasen, die sich wissentlich übersteigern, weil solche Sehnsucht nach Erfüllung sich nicht eingestehen darf, daß die Welt noch reicher sein und die Menschheit noch mehr verlangen könnte. Allzugerne läßt sich diese Begeisterung vom Glanz eines starken Augenblicks blenden, den sie dann, ihres Irrtumes froh, als den Boten unvergänglicher Gewißheiten empfängt. Aber der gläubige Über-Mut schließt auch den lebendigen Keim des Zweifels in sich. Daher dieses Pathos, das keineswegs hohl, sondern von echten Gefühlen schwer und in wandelbarer Gärung ist. Ein Pathos, das aufrecht besteht und sich gar nicht schämt, auch seinen eigenen Widerspruch zu bedeuten. Das Pathos derjenigen, die unbedingt an sich glauben wollen, aber immer unter der scharfen Kontrolle des Verstandes. So war die damalige Jugend: unnachgiebig in ihrem Überschwang und unerbittlich in ihrer Selbstkritik; so klar in ihren grenzenlosen Forderungen, daß von den großen Zielen kein einziges erreicht werden konnte. Eine Entschlossenheit, der die Verzweiflung eingeboren war. Ein tragisches Geschlecht. Der Grund war allenthalben gelegt, die rühmliche erste Arbeit geleistet. In unzweideutigem Riß zeichneten sich die großen Pläne neuen künstlerischen Lebens gegen die lichte Weite der Zukunft ab. Nun war aber auch die Endlosigkeit ihrer Perspektiven niederschmetternd deutlich zu erkennen; nun wurde es immer gewisser, daß der fertige Ausbau nicht den Ersten, nicht den Zweiten, und auch keinem sonst in unserer Zeit der ewigen Anfängerschaft zugeteilt sein kann. Es wird ja auch wirklich noch immer nur angefangen; von den verschiedensten Seiten her, in den raffiniertesten Techniken und oft auch mit dem allerfeinsten Material. Der ganzen Breite nach wird ausgebaut; nur nach der Höhe hin will nichts recht gedeihen. Und die damals den Grund schon gelegt und den Plan vorgezeichnet fanden, mußten sich bald nach dem ersten jubelnden Ansturm bekennen, daß sie um einiges zu spät und um sehr viel zu früh gekommen waren. Das Material war schon zubereitet und hergerichtet, die Richtlinien schon abgesteckt; aber der Boden noch lange nicht fest genug. Die wirre, aufgeregte Zeit gebiert Fragen aus Fragen, Zweifel aus Zweifeln, immer auf vergeblicher Ausschau nach einem neuen Gewissen, und verweigert jedem Versuch, sie schöpferisch auszudeuten, das starke bejahende Echo. Sie lebt geistig, ethisch und ästhetisch, nur von der Hand in den Mund. Das wurde schmerzlich klar, sowie die erste Kühnheit der ersten starken Neuerer verausgabt war. Und hat damals fast die ganze jüngere Generation zu Boden geschmettert. Ein tragisches Geschlecht. (Viel Spätere fangen jetzt erst wieder an: langsam, eifrig und nicht sehr mutvoll.)

Wiederum war Hermann Bahr der erste, der die Notwendigkeit dieser Tragödie in den beunruhigten Nerven spürte. Nach der Tragik der modernen Weltanschauungen, nach der Tragödie des verfallenden Bürgertums kam dieser tragische Roman vom künstlerischen Neuerer. Der Wille zum Erhabenen, theoretisch emporgezogen und voll heißhungriger Machtgelüste, zerbricht an der Schwere und Stumpfheit der Welt, wird klein und kalt, und entartet zu findiger Handwerkerei. Wir haben das in den letzten dreißig Jahren einige Male erlebt. Fast jedes eigene Pathos in den Künsten schien zuerst völlige Erneuerung zu verheißen, wurde dann irgendein Stil unter anderen und endete als persönliche Manier. Hier ist dieser fatale Eingang aus hoffnungsfrohem Kampf zu verschmitzter Gleichgültigkeit vorbildlich gezeichnet, ein erstes Mal und an einem klassischen Beispiel! Der Maler, der diesen Roman erlebt, unternimmt es, mit seiner Theorie, mit seinen Versuchen, mit seinem Trieb zur Vollkommenheit gegen die Himmel anzustürmen. Und weiß sich zuletzt nichts Besseres, als in bedächtiger Arbeit Geld zu verdienen und in bürgerlicher Mitte gut zu leben. »Der war weg, der alte Seltsame, der immer Geschichten machte und sich jedes Vergnügen verdarb, er war jetzt auch einer von den anderen, ganz wie die anderen, ruhig in den Tag hinein wie die anderen, wunschlos, zuversichtlich wie die anderen … Ja, mittelmäßig auch, wie die anderen, und mit mutiger Wollust noch dazu, trotzig ins Gemeine hinein und aus dem Besonderen weg, welches das Behagen frißt – der Welt nachgeben, wie sie modelt, auf den Eigensinn verzichten. Alles gehen lassen, gerade oder krumm, wie's kommt, sich und das andere, weil an dem Narrenturm doch einmal nichts zu ändern ist. Wenn man bloß Geld hat, bloß das nötige Geld …«

Zwischen diesem Ausgang und jenem Beginn vollzieht sich das große Erlebnis. Der eben Gewitzigte im Roman nennt es: »das Wesen der Welt zu erleben« und meint damit, abgeklärt wie er ist, die große unentwirrbare und unerschöpfliche Gemeinheit ringsum. Wir aber wissen, daß er nichts anderes erlebt hat als seine eigene hitzig aufgereizte Schwäche in ihrem mißlichen Verhältnis zur strengen Gesetzmäßigkeit aller Entwicklung. Er war schon immer, wie er nun ist; er hat es nur nicht gewußt. Der prophetische Ansturm und die grinsende Abkehr sind ja doch nur verschiedene Sprachen desselben Gefühles: ihr gemeinsamer Grund ist der Haß gegen die harte Sachlichkeit des Lebens. Er flammt erst unbändig empor, verprasselt in jähem Glanz und schwelt dann qualmig fort. Idealismus oder Zynismus: die Wut eines Herrschsüchtigen, der das Leben nicht packen kann. Er war schon immer, wie er ist; er mußte es nur erst erfahren. Durch die Liebe erfuhr er es.

Nämlich: es hat sich herausgestellt, daß eine Grisette kein göttliches Wesen ist. Nichts weiter. Eine geringe und nicht sehr weitabliegende Wahrheit für jeden Wissenden. Aber für den, der sie eben durchleiden muß, die größte und grausamste. Erotische Desillusion ist allemal das Aufwühlendste, was einem Menschen passieren kann. Sie reißt in die Seele und pflügt das Hirn um. Die Gebrannten lachen darüber; nicht ohne die ungewisse Freude, daß sie es für immer hinter sich haben. Eine Ahnung vom bitteren Ernst des ewig erneuerten Spaßes bleibt auch ihnen. Eine Grisette nicht göttlich? Ja warum nur, warum? Wozu sind dann die Weiber überhaupt? Wo sollte Göttliches sein, wenn nicht in ihren Kleidern, ihrer Anmut, ihrer Stimme und ihrem Blick, in ihrem Fleisch und den Geheimnissen ihrer Haut? Und alles das, was uns unendliche Sehnsucht aufgeregt, uns Himmel und Erde in helleren Gluten gemalt und den jungen Mut über jedes Maß hinaus erkühnt hat, das soll zuletzt nur ein frecher Betrug unser selbst an uns selbst, eine krankhafte Verrückung der eigenen Natur gewesen sein? So hat diese Welt nichts Göttliches? Ja, dann liebe Welt, dann kannst du mich – – Es war nur ein Schneidermädel. Nur? Als ob das so wenig wäre! Wenn sie das Hemd abreißt und in Herrlichkeit dasteht, dann ist sie Königin, so gut wie eine. Ist Paradies, Vampyr, Gefährtin, Mutter, Bestie, Blüte, Gedicht, Verzweiflung, so gut wie eine. Ist die Liebe und das Leben und der Tod, so gut wie eine. Ein junges Weib: als ob das so wenig wäre! Fetzen sind Fetzen: Kleider, Klasse, Kultur, das fliegt, auf ein paar Griffe, in die Winkel, liegt nichtig und vergessen da, ist nicht mehr. Nur das Wunder bleibt zurück, das unfaßbare Glück dieser Nacktheit, die nie übertroffene Wonne selbst. Und ein großes Staunen sieht den glühendsten Traum erfüllt, der geschmeichelte Mut vermißt sich des Höchsten, die Welt wird klein und jedes Ziel zu nahe. Unendlichkeit, Ewigkeit ist nun das einzig taugliche Maß aller Dinge geworden … Und versagt zuerst an der eigenen Ekstase. Der Trieb verbraucht sich, die Wonne erträgt ihre eigene Wiederholung nicht mehr und das Wunder schwindet. Da sinkt auch der schöne Mut in sich zusammen; das Leben drängt peinlich nahe heran und beginnt an allen Nerven zu reißen. Endlichkeit, Kleinlichkeit, Niedrigkeit ringsum. Aus den Winkeln grinst der wach gewordene Alltag her und ist wieder Tatsache. Königin, Blüte, Gedicht? Ach was, eine Grisette, nichts weiter. Ißt mit dem Messer, tanzt nach der Drehorgel und äugt dem Kommis zu. Enttäuschung, Wut, Verachtung, Verzeihung, neues Gelüste, neue Flamme, neuer Ekel kommen hintereinander her in immer wiederholtem Wechsel, aus dessen trügerisch tollem Kreis kein Ausgang ist. Nein, kein Ausgang! Denn draußen ist die entsetzlichste Öde, das ungeheure, unerträgliche Nichts; während dies hier, der Schmerz und seine Erkenntnis, doch Leben, wissendes, wirkendes Leben ist. Nur nicht aufhören, nur festhalten! Leiden, schaudern, aber festhalten! Es war nur eine Grisette. Aber in ihr ist das Weib, und das Weib ist die Welt. In ihr ist Seligkeit und Verhängnis.

Und doch kommt das Ende. Ganz unversehens, da man's am wenigsten erwartet hat. Noch einmal rast der Ingrimm; ein grenzenloser Schmerz strömt aus und will die Seele aus der Brust mitreißen. Dann wird es ganz still. Das alles ist weggewischt, wie Nebel am hellen Vormittag, und die Sonne leuchtet über einer neuen Welt. Wo sind die Qualen, wo sind die Wonnen, wo ist der ganze wilde, schöne Betrug? Kühl, klar und nackt sind die Dinge. Und gemein. Wer nach ihrem Gesetz, zu seinem Besten, leben will, der sei gemein, wie sie. Durch die Liebe erfuhr er das. »Und dafür, um das Wesen der Welt zu erleben, ist halt doch immer noch die Liebe das sicherste Verfahren, weil nirgends der Schwung erst so stolz ausschweift in phantastische Güte und nirgends nachher der Sturz so tief verstößt in bestialische Gemeine. Ja, die Liebe ist die gute Schule der wirklichen Weisheit. Man wird etwas stark gepufft, aber dafür sind auch am Ende die Eseleien gründlich ausgetrieben. Man kann ihre Lehre das ganze Leben nicht wieder vergessen.«

 

Die Tragödie einer jungen Generation. Und ganz besonders die Tragödie dieser Generation, deren anspruchsvolle Sinnlichkeit die haltbare Sachlichkeit hitzig überwuchs und dann entleert und enttäuscht zusammenbrechen mußte. Im erotischen Erlebnis, das ins Zentrum aller Sinnlichkeit einschlägt, wird dieser Zusammenbruch am deutlichsten und am heftigsten verspürt. Die Katastrophe der enttäuschten Liebe ist ja über jede begabte Jugend verhängt. Aber damals hatte die Jugend gerade auf sinnlichen Eindruck und sinnfälligen Ausdruck ihr ganzes Hoffen und Wollen gestellt. So wurde das Erotische zum Kern und Symbol aller Beziehung zwischen Seele und Welt; und alle Lockung, Drohung, Verderbnis dieser Welt erschien im Weibe eingefleischt. Die Liebe galt als das schwerste und schönste Unglück, das einem Manne geschehen kann. Die Liebe als die raffinierteste Grausamkeit des Schicksals, das Weib als die unbegreiflichste Teufelei der Natur: das waren damals so gut eingewurzelte, so allgemein angenommene Vorstellungen unter den jugendlichen Modernen, daß man sich fast geschämt hätte, an ihrer Wahrhaftigkeit zu zweifeln und sie irgendwie in Diskussion zu stellen. Philosophen, Wissenschaftler und ihre Bastarde, die Naturalisten, hatten Beweise und Belege herbeigetragen, die sich nach Gefallen ausdeuten ließen. Sozialismus und Feminismus hielten die Frage nach der Bedeutung des Weibes für die Gesellschaft, für die Stände, für das Individuum in aufgeregter Bewegung. Um die Gleichstellung in Rechten und Freiheiten wurde – wie heute – gekämpft; an die Gleichheit des inneren Wesens glaubte kaum einer (wie heute). Es galt wieder einmal die Meinung, daß die Frauen überhaupt keine menschliche Seele haben. (Ist sie schon widerlegt?) Dieses Grauen vor der unbegreiflichen Tatsache: Weib war in der ganzen geistigen Äußerung jener Zeit in allen möglichen denkerischen und künstlerischen Formen zu finden und nahm, je nach dem Eifer und der Begabung des Formulierenden die verschiedensten Härtegrade an: von der vorsichtig zurückhaltenden Bemerkung irgendeines dilettierenden Sozialphilosophen, »daß die innere Aktivität der Frauen doch ganz andere Art und andere Ziele habe als die unsrige«, bis zur brandroten Wut der Strindberg-Flüche. Eines der echtesten Exemplare dieser Marke ist aber die kleine Fifi in der »Guten Schule« von Hermann Bahr. Der Typus aus dem Milieu entwickelt; das Persönliche in den typischen Kennzeichen angemerkt; und die Dämonie der Geschlechtlichkeit noch aus dem Persönlichen sublimiert. Ein liebes Mäderl, wie es jeder junge Mensch einmal gehabt haben muß; dabei die kleine Fifi, die nur im Quartier Latin, nur zu jener Zeit, nur als die Geliebte dieses einen Malers existiert haben kann; und doch ganz »das Weib«, wie man es damals eben verstand: die heiter lächelnde Niedertracht des Schicksals. Ihr Wille ist gut, ihre Tat ist unschuldig, aber ihre Wirkung ist durchaus böse. Ihr Zauber erschafft die festlichsten Geschenke für die Seele; ihre Niedrigkeit verwüstet sie dann. Sie wird von den Rätseln ihrer eigenen Natur getrieben und hat weder an der Beglückung noch an der Zerstörung wissentlichen Anteil. Sie ist verantwortungslos, wie die freien Elemente, ein menschenähnliches Geschöpf von anderer Art, ein Werkzeug der grausam großen Weisheit, die uns das Wesen der Welt erleben läßt.

In den einfachsten Linien und mit den natürlichsten Mitteln ist da ein Schicksal aufgezeichnet. Das Schicksal einer Jugend, deren schönste Gabe und schwerste Hemmung ihre begeisterte Unruhe war. Diese bestimmt auch den Stil und die Psychologie des ganzen Buches. Seine Atmosphäre, sein Satzbau, sein Sprachschatz ist überfüllt von der bewußten Nervosität jenes Alters. Eine eindringliche Kennerschaft wählt aus allen Kostbarkeiten des Ausdruckes die seltsamsten, zierlichsten, stärksten oder exotischesten. Eine Überfülle der Ausdrücklichkeit entsteht, in der es doch, am Geschmack der Zeit und an den Erfordernissen des Stiles selbst gemessen, kein Zuviel gibt. Die ganze Auffassung des Psychologischen verlangte, daß der innere Vorgang an den Impressionen und Sensationen, die von außen her kommen, reflektiert und ausgedeutet werde. Das wird oft zu einem reizvoll heiteren Spiel verirrter Gedanken, rücklaufender Entschlüsse, verspäteter Selbsterkenntnisse; mitten aus Überschwang und Verzweiflung blitzt manches Mal, wie aus einem Spiegel, in dem sich die erschütterte Seele selbst erblickt hätte, ein ironisches Lächeln in den Ernst der Analyse. Die theoretische Voraussetzung ist, daß der Seelenzustand, zunächst latent im Unterbewußtsein, vom zufälligen Ereignis ausgelöst, als eine vollendete Tatsache ins Bewußtsein gebracht und dort erst festgestellt und erläutert wird, wenn er schon vollzogen, also kaum mehr wahr ist. Diese ganze Entwicklung, noch bevor sie in klaren Worten hergezählt werden kann, in ihren dunklen, vom erlebenden Ich noch nicht verstandenen Zeichen einzufangen und als fortschreitendes Erlebnis darzustellen, von den ersten Eindrücken und ihren Widerständen über die Verwirrungen der langsam auftauchenden, noch ganz zwiespältigen Gefühle, bis zu der klaren Erkenntnis, die auch schon Überwindung und neuen Gewinn bedeutet: das ist die psychologische Absicht in diesem Romane. In seiner »Überwindung des Naturalismus« hat Bahr diese Absicht in ein paar starken, klaren Sätzen theoretisch begründet: »Wir müssen die Gefühle nicht bloß im Zusammenhang auseinander, wir müssen sie auch in der Bewegung ineinander, durcheinander, gegeneinander erfassen, in dem ewigen Werden und Vergehen des einen aus dem anderen und ins andere, in ihrer rastlosen Wiedergeburt aus ihrem unaufhaltsamen Selbstmord, wie jede durch den Zwang der eigenen Natur sich ins Verkehrte umsetzt und in dem nimmer vermeidlichen Doppelleben immer am Ende vergehen muß.« Und später: »Die alte Psychologie findet immer nur den letzten Effekt der Gefühle, welchen Ausdruck ihnen am Ende das Bewußtsein formelt und das Gedächtnis behält. Die neue wird ihre ersten Elemente suchen, die Anfänge in den Finsternissen der Seele, bevor sie noch an den klaren Tag herausschlagen, diesen ganzen langwierigen, umständlichen, wirrverschlungenen Prozeß der Gefühle, der ihre komplizierten Tatsachen am Ende in simplen Schlüssen über die Schwelle des Bewußtseins wirft«. Dann: »Die alte Psychologie hat die Resultate der Gefühle, wie sie sich am Ende im Bewußtsein ausdrücken, aus dem Gedächtnis gezeichnet; die neue zeichnet die Vorbereitungen der Gefühle, bevor sie sich noch ins Bewußtsein hinein entschieden haben. Die alte Psychologie hat die Gefühle nach ihrer Prägung in den idealen Zustand ergriffen, wie sie von der Erinnerung aufbewahrt werden; die neue Psychologie wird die Gefühle in dem sensualen Zustande vor jener Prägung aufsuchen. Die Psychologie wird vom Verstande in die Nerven verlegt, das ist der ganze Witz.« Und er schließt den Aufsatz mit dem Versprechen: »Wenn wir diese neue Methode, die wir freilich nur erst mit Wünschen ausstecken, noch lange nicht mit Erfüllungen ergreifen können, wenn wir die einmal haben, dann wollen wir eine ganz einfache, alltägliche und gemeine Geschichte mit ihr schreiben, die viele erleben. Aber nicht in den äußeren Ereignissen, welche nur zufälliges Angebinde, noch in den bewußten Ausdrücken, welche falsche Abstraktionen sind, sondern in ihrer Wirklichkeit auf modernen Nerven wollen wir sie erzählen und wollen sie mit solcher Intensität der Wahrheit ausstatten, bis in ihr das ganze Leben ist, was es nur immer überhaupt enthalten kann. Dann könnten wir uns wohl rühmen, eine gute Arbeit getan zu haben und die Enkel, dächte ich, müßten es uns mit Ehrfurcht gedenken.«

Da spricht er von einem Roman der Zukunft. Aber als er den Gedanken aussprach, war die Tat schon getan. Der Roman, den er wollte, lag fertig und lebendig da. Er selber hatte ihn geschrieben.


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