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17

Die Rede hätte allerdings besser sein können, man war unzufrieden damit, Segelfoß war nicht auf seine Kosten gekommen. Pastor Landmarck hätte hier eine einzig dastehende Gelegenheit gehabt, ernst zu den Leuten zu reden; aber nein, er nahm diese Gelegenheit nicht wahr, und im übrigen konnte er ja gar nicht predigen. Alle Anwesenden waren aufmerksam, ja aller Ohren waren neugierig gespitzt   würde der Pfarrer die Sünden des Per im Laden nicht aufzählen, konnte er das unterlassen? Er unterließ es.

Pastor Landmarck war Handwerker, er drechselte, schreinerte und schmiedete, er hatte Sinn für die Form, für die Linie, Per im Laden hatte wohl nie eine große, wohlgeformte Missetat begangen, man konnte ihm nichts anderes nachsagen, als Kniffe und Pfiffe und eine jämmerliche Habgier. So ganz gering war nun zwar Per im Laden doch nicht gewesen, aber der Pfarrer hatte ihn ja nicht gekannt, man hörte es seiner Rede an, die ganze Leiche war ihm gleichgültig. Alle waren enttäuscht von der Rede, Theodor, der immer hellhörig war, ärgerte sich über des Pfarrers gleichgültigen Ton und lud hin darum auch nicht zum Leichenschmaus ein, Gott bewahre! Weil er hier der Wortführer geworden ist, braucht er gegen verstorbene Personen nicht unverschämt zu sein, sagte Theodor. Und auf einen solchen Sarg wirft er auch nicht jeden Tag Erde, sagte er.

Das war wahr, von dem Sarg wurde viel gesprochen; er war prachtvoll, eigens von Drontheim verschrieben, mit »Ruhe sanft!« darauf, Engeln, zwei verschlungenen Händen und Zieraten, alles wie aus reinem Silber. Theodor ließ den Sarg einen Tag auf dem Landungsplatz stehen, damit die Leute ihn sehen konnten, ehe er benützt wurde. Am Begräbnistag war allerdings nicht ganz Segelfoß erschienen, aber Rechtsanwalt Rasch war jedenfalls hinübergestapft, er wußte, was er einem dahingegangenen Klienten schuldig war; und Theodor hatte vom Kirchhof ein ziemlich großes Gefolge mit nach Hause genommen, Kunden aus der Umgegend, und von den Leuten am Ort die Nächststehenden. Unter diesen war Lars Manuelsen, und er ging zum erstenmal im Rock, im Gehrock. Nein, wie sein Aussehen sich doch mit dem Anzug veränderte, und die Elster, nein, sie schrie nicht! Erkannte sie Lars Manuelsen nicht mehr?

Der Leichenschmaus war natürlich von erster Güte gewesen. Kein warmes Essen, sondern Kaffee mit allen Arten von Kuchen, belegten Broten, Konserven und Bier und Traubensprit. Julius war wieder Wirt an Stelle des Gastgebers, und den Schuhmacher Nils hatte er als Hilfe beim Aufwarten. Ja, es war ein großartiger Leichenschmaus gewesen. Jetzt war er schon lange vorüber, aber verschiedene hatten allen Grund, sich daran zu erinnern, und zu diesen gehörte Julius.

Am Abend war er mit dem Schuhmacher Nils plötzlich als Zeuge in Theodors Kontor hineingerufen worden. Da stand das Mädchen Florina, sie und Theodor standen darin, es sah nach etwas Feierlichem aus, keines sprach ein Wort. Was wollt Ihr von uns? fragte Julius.

Florina schlug die Augen nicht nieder, sondern trug eher eine entschlossene, trotzige Miene zur Schau. Schon seit geraumer Zeit hatte sie mit dem wollenen Tuch um den Mund ein Ende gemacht; es hätte keinen Zweck mehr gehabt, sie war und blieb ohne Zahnschmerzen und Erbrechen, und das Tuch war ihr nur zur Last, außerdem hatte der Rechtsanwalt bestimmt verlangt, daß sie es wegnehme. Da stand sie nun. Sollte sie verhört werden? Dann nur zu!

Theodor nahm das Wort: Die Post ist gekommen, sagte er, er ging gründlich zu Werk. Ich habe einen Brief von meinem Freund Didriksen erhalten, sagte er. Du erinnerst dich an ihn, Florina, den Vertreter von Didriksen & Hybrecht?

Was wollt Ihr von mir? fragte Florina heftig.

Du hast an seine Braut geschrieben, an Fräulein Rahel.

Florina versetzte voll Gift und Galle: Hätte ich ihn vielleicht schonen sollen?

Sie hat mit ihm gebrochen, sagte Theodor.

Na, viel Glück auf die Reise!

Jetzt will ich dir etwas sagen, entgegnete Theodor. Hier stehe ich mit dem Brief meines Freundes Didriksen in der Hand. Du hast dich nicht wie ein Gentleman gegen ihn betragen, aber ich glaube, ich muß es auf die beste Weise für dich beilegen und dir eine Summe auszahlen. Du bist ja eine gute Kundin, und persönlich habe ich keinen Zwist mit dir.

Wieviel hat er für mich bestimmt?

Na   was er bestimmt hat? Aber ich will dir eine runde Summe von tausend Kronen ausbezahlen.

Florina zuckt zusammen, dies übertrifft ihre Erwartungen, und sie fragt: Könnt Ihr das?

Was ich tun kann, darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Ich nehme es auf meine Kappe. Tausend Kronen gegen Quittung. Julius und Nils, ihr seid Zeugen.

Julius fing an zu fragen. Er war keineswegs der Mann, der seine Fragen nicht an hoch und nieder zu stellen wagte, und hier handelte es sich ja nur um das Dienstmädchen Florina. Aber er erhielt nur die notwendigsten kurzen Antworten, und Florina sagte: Es ist nichts, was dich angeht, Julius.

Dann legte Theodor eine deutliche Quittung mit Datum und Unterschrift vor, daß infolge Vollmacht gegen eine Summe von eintausend Kronen sich bemeldete Florina in Zukunft jeder Forderung an Herrn Didriksen, Reisender für die Firma Didriksen & Hybrecht, enthalten werde.

Aber jetzt hatte Florina schon etwas über die Sache nachgedacht, und sie weigerte sich, zu unterschreiben. Die Summe sei zu klein, sie müßte eigentlich noch eintausend dazu haben, denn soviel habe sie verlangt. Ihr Rachen stand weit offen, nach mehr, mehr. So ein reisender Herr sollte doch wohl ein armes Mädchen nicht behandeln dürfen, wie es ihm beliebte.

Auf Theodors Vorstellungen hin unterschrieb sie schließlich, aber nicht ohne Murren; Julius schrieb mit geführter Feder, weil er seine eigenen Buchstaben gerade am schlechtesten schreiben könne, sagte er. Aber der Schuhmacher Nils stand da wie ein Skelett und schrieb seinen Namen überflüssig groß.

Willst du den Betrag sofort ausbezahlt haben oder willst du ihn bei mir stehen lassen? fragte Theodor.

Florina dachte wohl, etwas Gutes in der Hand sei besser, als etwas in Erwartung, sie forderte den Betrag.

Und da Theodor gerade die ganze Jahreseinnahme für die Klippfischladung erhalten hatte, konnte er seinen feuerfesten Schrank weit aufmachen und tausend Kronen aus einem Banknotenbündel herausnehmen, das durch diese kleine Ausbezahlung nicht die Spur abzunehmen schien. Die Brust der Zuschauer hob sich unter einem tiefen Atemzug, und der Schuhmacher Nils lachte leise und blöd vor sich hin. Hier, bitte, zähl selbst nach! sagte Theodor zu Florina.

Er war glücklich, ja, er stand da wie auf sein Schwert gestützt, der Zufall hatte ihn gezwungen, sein Geld vorzuzeigen, er wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn Florina es abgeschlagen hätte. Jetzt brauchte er auch Herrn Didriksens Geld gar nicht mehr, das ihm vor einiger Zeit eine ganz ausgezeichnete Hilfe gewesen war. Es war Schicksal, alles fügte sich für den Burschen Theodor.

Natürlich hatte er von dem jungen Herrn Didriksen einen Brief erhalten; der stürmische Bruder Leichtfuß war wieder im Zug, wahrscheinlich hatte er auch diesmal direkt von einem Gelage kommend geschrieben: Das Mädchen   wie hieß sie doch?   das Segelfosser Mädchen, Gott sei mit ihr! Aber sie hat mich tatsächlich bei Rahel verklatscht. Sie erinnern sich doch an Rahel, die Tochter des Konsuls? Bezahlen Sie deshalb dem Segelfosser Mädchen nur eintausend Kronen, sie ist ein Abschaum, sie hat geklatscht, und Rahel hat die Verlobung aufgehoben. Kurz gesagt, bezahlen Sie ihr, was Sie für angemessen finden. Der Meister sagt,   Sie wissen, der Meister   er ist unablässig mein prächtiger Freund und ein ungeheuer kluger Kerl   also der Meister sagt, wir sollen ihr die Hälfte geben, aber ich verlange, daß der Abschaum eintausend bekommt, sie ist es wert, und ich könnte ihr mehr geben, alles, was ich besitze. Rahel hat mit mir gebrochen, aber das kam in einem günstigen Augenblick, gerade als ich mich verlobte. Sie können sich keinen Begriff machen, wie entzückend sie ist, die Dame ist von hier, ich habe sie schon die ganze Zeit über geliebt, aber jetzt erst ging sie darauf ein, weil ich mich an eine andere gebunden hatte, wie hieß sie doch! Ihr Name ist Fräulein Hybrecht, die Tochter des Hauses, achtzehn Jahre alt. Ich werde Ihnen ihr Bild zeigen, wenn ich komme. Nachher hat mir Rahel wieder einen Brief geschickt, aber das konnte an meinem einmal gefaßten Entschluß nichts mehr ändern. Ich bin sehr glücklich, und da das Segelfosser Teufelsmädel gewissermaßen die Ursache dazu ist, bitte ich Sie, ihr in meinem Namen von ganzem Herzen zu danken. Ich werde Rahel nicht vergessen, dazu hatte ich mich zu sehr an sie gebunden, aber alles in allem war es immerhin eine augenblickliche Verliebtheit, und seinem Schicksal kann niemand trotzen. Fräulein Hybrecht heißt Helene, blaue Augen, achtzehn Jahre. Überbringen Sie also freundlichst dem Mädchen meinen Dank und empfangen Sie selbst meine tiefste Dankbarkeit, weil Sie es so liebenswürdig übernommen haben, diese Sache in Ordnung zu bringen. Auf Wiedersehen!

Theodors Verbindung mit dem jungen Didriksen übte eine gute Wirkung auf ihn aus; der große Wildfang war leichtsinnig, aber prächtig, freigebig, herzlich   Theodor stand davon ab, von einem der Beteiligten Provision zu nehmen, er schickte Florinas Quittung nebst dem übrigen Geld noch am selben Tag ab. Es war der Begräbnistag seines Vaters.   Derselbe Tag, an dem dem Hotelwirt Julius die Augen darüber aufgingen, welche wertvolle Frau das Mädchen Florina abgeben würde, und er anfing, sich ihr zu nähern.

Nach den großen Ereignissen kam Segelfoß allmählich zur Ruhe. Es hieß, das Mühlwerk solle zum Frühjahr wieder in Gang gesetzt werden, aber noch war es Winter und für viele eine harte Zeit. Theodor im Laden zeigte in diesen Tagen mehr Dienstfertigkeit, als man ihm zugetraut hätte; er verbreitete Freudigkeit um sich, rüstete mehrere angeheuerte Männer für den Lofotfischfang aus und half im ganzen den Leuten, sich durchzuschlagen. Noch lange Zeit spürte man die Nachwirkungen von Herrn Holmengraas Untergang, aber Theodor war nicht mehr so kurzsichtig, den Mühlenbesitzer anzugreifen: jetzt, da die Mühle stillstand, zeigte es sich, daß das Geld im Ort verschwand, Theodor hatte niemand, mit dem er Geschäfte machen konnte, Herr Holmengraa hatte alles in Gang erhalten. Jetzt saß der Photograph in seiner kleinen Dachkammer und starb, der Schuhmacher Nils hatte sein letztes Zweikronenstück bei dem Begräbnis des Per im Laden verdient, und die Segelfosser Zeitung verlor Abonnenten. Da half Theodor da und dort und war nicht von Stein; aber es verschlug nicht viel, Segelfoß schlief, der Verkehr hatte aufgehört, es war sogar die Rede davon, daß man sich auf dem Telegraphenamt nur mit einem Mann behelfen müsse, als Übergang für die vollständige Aufhebung des Amtes. Dann würde jedenfalls Baardsen überflüssig.

Was aber den Schuhmacher Nils betrifft, so war er ein Schatten seiner selbst geworden, eine Art Gespenst, weil es mit allem Tanz und mit aller dramatischen Wirksamkeit im Theater zu Ende war. Solange er konnte, flog er in seinen durchlöcherten Fabrikstiefeln leicht und abgemagert auf den Wegen dahin und war unbegreiflich dürr. Was den armen Tropf erschreckend und komisch zugleich machte, war sein zuckersüßes Gesicht, das den Eindruck erweckte, als laure er immer auf eine Lustbarkeit, er bekam etwas Fürchterliches dadurch, etwas, das dem Wahnsinn nahe war. Jetzt war seine letzte Hoffnung gescheitert, er war bei Rechtsanwalt Rasch gewesen und war diesmal den Kontorweg gegangen, um von Frau Rasch nicht gesehen zu werden   im Kontor hatte er den Rechtsanwalt gefragt, ob nicht bald ein Basar zum Wohl von Segelfoß gehalten werde, und hatte die Antwort bekommen, nein, die Zeiten seien jetzt nicht für Basare angetan. Nein, nein, erwiderte Nils, aber das war seine letzte Hoffnung gewesen. Er ging in den Laden und kaufte sich ein paar kleine Zwiebacke, noch nie hatte jemand so vollendet gehungert. Gebt mir ein paar Zwiebacke zu meinem Nachmittagskaffee, sagt er. Als er bezahlen will, nimmt er dasselbe Fünförestück mehrere Male heraus und sucht lange in seinem Beutel, als falle es ihm nicht schwer, noch ein wenig Kleingeld herauszunehmen. Er lächelte, als er ging. Das Lächeln war ihm immer leicht gefallen, aber wenn er jetzt lächelte, dann tat er es aus Not.

Ein paar Tage später kam Baardsen in seine Stube hereingeschlendert und brachte Lebensmittel und Branntwein und eine ausgezeichnete Laune mit   ho! Ich ging gerade hier vorbei und wollte ein wenig zu dir hereinsehen, sagte er. Hier, versuch einmal!

Schuhmacher Nils lag zu Bett   wegen Gliederschmerzen, sagte er   und hatte deshalb kein Feuer im Ofen. Nur zu gern versuchte er die guten Sachen und trank auch ein Schnäpschen. Baardsen war wie ein Arzt für ihn und sagte: Iß jetzt nicht von der Wurst da, die macht dir nur Durst, sondern iß Butterbrot! Es ist nett, daß du einen Bissen mit mir ißt, ich bin weit fort gewesen und habe dies als Mundvorrat mitgehabt.   Baardsen machte Feuer im Ofen und brachte schließlich den Schuhmacher so weit, daß er aufstand, um Kaffee zu kochen. Ho, ho, es wird schon gehen, alles wird noch gut gehen, Nils!  Ja, wenn Ihr kommt, Herr Baardsen, dann sieht es aus, als gehe alles gut!

Jawohl ging es gut, aber welchen Weg ging's! In den Augen aller verständigen Leute ging es rückwärts. Der Schuhmacher Nils konnte mit einer Mahlzeit und einem Gläschen Schnaps nicht mehr auf die Beine gebracht werden, dazu war er schon zu weit herunter, und Baardsen kümmerte sich nicht darum, welchen Weg es ging. Er schlug keinen Weg mehr ein, das hatte er aufgegeben, dafür Ließ er die Tage laufen, wie sie wollten. Er verbrachte seine Tage mit allerlei Grübeleien, mit etwas Barmherzigkeit gegen einen Schuhmacher, mit Trinken, Cello spielen und geschraubten Redensarten   alle verständigen Leute mußten sich von ihm abwenden. Aber gab es einen überlegeneren, großartigeren Teufelskerl mitten im Ruin? Wenn ich jetzt im Augenblick nicht in so einer abscheulichen Geldverlegenheit wäre, würde ich die Domkirche zu Drontheim restaurieren lassen, sagte er zu dem Schuhmacher.   Es sieht nicht aus, als wäret Ihr in Geldverlegenheit, Herr Baardsen, entgegnete der Schuhmacher, der schon ein wenig berauscht und satt war. Das Gespenst.

Baardsen aß nichts, nein, aber er trank. Und doch trank er nicht aus Lasterhaftigkeit und Hinfälligkeit, um das Leben weiter aushalten zu können, oder aus Verzweiflung, um es zu vergeuden   Baardsen hinfällig! Durchaus nicht. Er war bestimmt und klar, er meinte, es gehe gut so. Wenn er nicht viel aß, so kam es daher, daß er sich weder hungrig noch satt fühlte, sondern gerade recht, er fühlte sich wohl. Die beiden Telegraphisten hatten eine Art Haushälterin gehabt, eine Frau, die ihnen das Essen kochte, aber die Frau mußte wieder gehen, weil sie nichts zu kochen bekam. Jetzt aß Gottfred im Hotel, aber Baardsen aß eigentlich gar nicht. Gottfred wollte ihm helfen und lud ihn zum Essen ins Hotel ein, aber Baardsen dankte und sagte: Nein, das lohnt sich nicht, mein Freund. Die ganze Zeit über half ihm Gottfred treulich, sowohl als Baardsen an seiner Wunde krank lag, und auch später, als der Kassenmangel an den Tag kam und er als Vorsteher entlasten wurde   Baardsen war über so viel Güte gerührt und dankte ihm für jede Handreichung, änderte aber sein Leben nicht. Er hatte wohl von Geburt an eine natürliche Neigung zum Untergang. Hatte er wohl keine Verwandten, keine Familie? Ein Vorbeireisender hatte ja gemeint, er erkenne in ihm den verlorenen Sohn eines mächtigen Handelshauses. Vielleicht hatte er Familie, vielleicht nicht. Sein grenzenlos gleichgültiges Umgehen mit eigenem und fremdem Geld schrieb sich vielleicht ursprünglich daher, daß er sich auf eine Familie verließ, die eingreifen konnte, so gewöhnte er sich an seine Unverantwortlichkeit und ließ Gott einen guten Mann sein. Aber als es zum Klappen kam, suchte er nirgends Hilfe und bekam auch von nirgends her eine solche, er bat im Gegenteil den Inspektor, den Kassenmangel durch monatliche Abzüge abbezahlen zu dürfen. Hilfe? O nein. Gerade als hätte er keine Familie. Aber Gottfred mußte natürlich den Fehlbetrag in der Kasse für ihn decken.

So saß er nun hier bei dem Schuhmacher und verbreitete sich in großen Worten über eine gewisse Gewohnheit bei den alten Römern: wenn diese den Verdacht hatten, bei ihrem Herrscher in Ungnade gefallen zu sein, öffneten sie sich die Pulsadern oder sie hungerten sich zu Tode. Ein feines, höfliches Benehmen gegen die Übermacht; etwas anderes wäre ja nur Bauernart gewesen. Denk dir, wenn sich große Herren verhören lassen, wenn sie sich gegen den Tod verteidigen müßten   das wäre des Teufels! In hundert Jahren weiß ja doch niemand mehr etwas von uns.

Glaubte der Telegraphist mit dieser Rede unterhaltend zu sein? Er war nicht betrunkener als gewöhnlich und wußte schon noch, was er sagte. Oder war es seine Absicht, dem Schuhmacher dem gegenüber, was ihn unvermeidlich treffen mußte, zu Ruhe und Ergebung zu verhelfen. Wie viel höflicher sollten wir da gegen Gott sein und ihm entgegenkommen! sagte er. Für dich und mich, mein guter Nils, ist es ja kein Vergnügen mehr, in Handel und Wandel zu gewinnen, Nutzen von den Ereignissen zu haben. Was sollen wir mit dem Nutzen? Wir kümmern uns nicht um so etwas, laß die andern danach streben. Wir sind auf dem richtigen Wege, wir sitzen nicht wie große Lichter mitten auf der Verkehrsstraße der Welt, sondern als Dunkel in der Dunkelheit, eins mit ihr, daheim und selig. Du bist ein feiner Mann geworden, dieses dein Gesicht ist nicht abstoßend, du hast kleine hübsche Züge bekommen, und du hast keine freche Unverschämtheit im Gesicht, du bist wie Mehl. Das kommt daher, daß du dich nicht überfüttert hast; die Weisen in Indien hungern auch, um innerlich weiß und klar zu werden, dann sehen sie alle Seligkeiten. Du kannst ganz ruhig sein, Nils, du und ich, wir sind auf dem rechten Wege.

Wir wollen es glauben, stimmte der Schuhmacher bei und ging darauf ein.

Dein Sohn in Amerika hätte dir vielleicht etwas schicken können, aber du hattest es dadurch doch wohl nicht viel besser bekommen.

Nein, das will ich gern glauben. Und vielleicht wäre es auch für Ulrich nicht so gut gewesen.

Wenn das Postschiff vom Süden hier gewesen ist, nahm Baardsen wieder das Wort, dann komm zu mir aufs Telegraphenamt. Willst du daran denken?

Jawohl. Ich soll aufs Telegraphenamt zu Ihnen kommen?

Ja, ich habe allen Grund zu denken, daß ich dich dann gerne sehen möchte, sagte Baardsen in seiner sonderbaren Redeweise; dann ging er.

Er ließ seine Galoschen zurück. Aber Nils war nun wieder beweglich geworden, er trat auf die Stufen vor dem Hause und rief Baardsen wegen der Galoschen nach. Aber Baardsen winkte nur mit der Hand ab und rief, er wolle sie nicht mehr tragen, sie seien ihm zu eng und drückten ihn: Wirf sie in den Ofen!

Dann wanderte er heimwärts aufs Telegraphenamt. Er erkannte seine Lage vollkommen: daß er fertig war, fallit; er liquidierte. Leben und Tod waren ihm gleichwertig geworden, dadurch wurde ihm leicht zumut. Noch vor kurzem hatte er das Leben vorgezogen, aber durch fortgesetztes Grübeln fand er es ganz gleichgültig, wie sich sein Los gestaltete. Er bereute nichts. Er hatte nicht das Bedürfnis, eine mächtige Familie anzuklagen, um seine eigene Schuld zu verkleinern. Er hatte keine Schuld. Wem war er etwas schuldig, und was hatte er verschuldet? Der Mangel in der Telegraphenkasse mußte bezahlt werden, sonst nichts. Schuld? Allerdings, sogar Irrtum ist Schuld, aber er irrte sich nicht, er hatte ja auf dem Telegraphenamt ausgezeichnet gelebt, es schmeckte ihm, es konnte nicht besser sein.

Er ist in einem Zustand, wo ihn kein Unglück treffen kann. Die Güter dieser Welt haben sich für ihn als sehr genügend erwiesen, sie haben ihm das Leben angenehm gemacht, er hat wahrlich von allem genügend genossen, das wußte er. Und wenn er getrunken hatte, dann hatte er es nicht getan, um es besser zu bekommen, sondern um es auch weiter gut zu haben. Es war eine Zufriedenheit, die am Ziele angelangt war, ein Standpunkt. Besaß er mehr als seinen Körper und seine Kleider? Er war zu Ende. Mochte das Unglück kommen, bitte, er prellte es um jeden Triumph.

Als das Postschiff kam, erhielt Baardsen einen gelben Schein, holte darauf einen Geldbrief und gab das Geld dem Schuhmacher Nils. Zum zweitenmal Vorspiegelung, Großartigkeit, Betrunkenheit, Gott weiß es; aber hatte das denn einen Sinn!

Ja, Schuhmacher Nils war aufs Telegraphenamt gekommen; er hatte die Galoschen an, sie seien warm und gut, sagte er. Er sah schwach aus, elend, war leicht gerührt, bekam nasse Augen, obgleich er dagegen ankämpfte und sich tüchtig räusperte, um männlich zu sein. Von dem Geld war er ganz überwältigt, er sank auf einen Stuhl, ohne zum Sitzen aufgefordert zu sein.

Von Willatz Holmsen, sagte Baardsen. Herr Willatz ist auf der Hochzeitsreise, er schickt dir das Geld mit Vergnügen.

Der Schuhmacher saß zusammengekauert da und sah so hilflos aus wie ein Neugeborenes Kind. Aber das Geld gehört doch nicht mir, das weiß ich, wehrte er ab. Da lachte Baardsen lustig, um ihm zu helfen, und sagte: Willatz Holmsen wünscht, daß du von diesem Geld bis zum Frühjahr behaglich lebst. Und wenn du dann für den Rest nach Amerika fahren willst, dann kannst du das, sagt er. Aber du sollst jedenfalls ohne Groll aus dem Leben gehen, wenn du es verläßt.

Sagt er das? Ja, die Holmsens auf dem Gut, sein Vater war geradeso, und jetzt der Sohn! Ach, und nun sagt er das?   Der Schuhmacher Nils entdeckte plötzlich, wo er saß, er stand auf und dankte, dankte überströmend, verbeugte sich schlotternd, das ganze Gesicht von unterdrücktem Weinen verzerrt. Er brachte kein Wort heraus, als er ging.

Er erlebt das Frühjahr nicht, sagte Baardsen.

Das hätte eigentlich Baardsen früher bedenken sollen, damit nicht alle verständigen Leute den Kopf über ihn hätten schütteln müssen. Ein Sterbender wird mit Mitteln versehen, er bekommt Galoschen und Geld, kurz gesagt, er wird fürs Leben ausgerüstet   um heimzugehen und zu sterben! Und es wird ihm dazu geholfen von einem Mann auf der Hochzeitsreise!

Aber es gab viele andere auf Segelfoß, die waren klüger als Baardsen. Als es ruchbar wurde, welch ein reicher Mann der Schuhmacher Nils geworden war, kam einer nach dem andern und wollte von ihm entlehnen: Du kannst ja gar nicht alles im Winter verbrauchen, sagten sie. Und wir werden es dir nach dem Lofotfischfang zurückgeben. Schuhmacher Nils war nicht von Stein, er wurde auch frischer und wurde wieder satt, bekam Kleider, bekam Kaffee   er lieh aus, zuerst vorsichtig, dann williger und immer williger, allmählich fand er es angenehm, ein großer Mann zu sein, er bekam Geschmack dafür, die Leute wurden höflich und untertänig gegen ihn, in einigen Wochen war er ein Wohltäter, wie es nur je einen gegeben hatte. Sein Reichtum zerstob nach allen Seiten.

Da kam wahrhaftig in Segelfoß wieder etwas Geld in Umlauf, und alles landete schließlich im Laden. Es erinnerte ein wenig an die guten Tage, wo die Mühle im Gang war   ach, täglich verspürte man noch einen Nachhall von Herrn Holmengraa und seinem Mühlwerk. Was wohl aus dem Mühlenbesitzer geworden war? Oder vielleicht konnte er unmöglich weitermachen und war schon irgendwo einer Gemeinde zur Last gefallen?

Aber die allgemeine Ansicht war, daß Herr Holmengraa mehr besaß, als die Leute wußten. Einer Gemeinde zur Last fallen, er? Ein Mann, der sein eigenes starkes Schiff herbefehlen konnte, um ihn zur Hochzeit zu holen! Sein eigenes Schiff brauchte es nun eigentlich nicht gewesen zu sein, es konnte ein Frachtschiff sein, das nur einen kleinen Abstecher von ein paar Stunden gemacht hatte. Theodor, der sich den Anschein gegeben hatte, so viel von Herrn Holmengraas Bankerott zu wissen, wurde von den Leuten umringt und feierlich gefragt, was es mit dem Keller für eine Bewandtnis habe. Dieser Keller spukte fortgesetzt in den Köpfen der Leute, und vielleicht war er doch nur ein Blendwerk von dem geschlagenen König, ein Versuch, zum letztenmal übernatürlich zu erscheinen, leere Großtuerei, ja vielleicht. Aber hat er die Absicht, den Keller da stehen zu lassen?« sagten die Leute. Und ist etwas darin? sagten sie.   Kann ich es wissen? antwortete Theodor. Und wenn ich auch ein wenig wüßte, so würde ich es nicht sagen.

Gebt mir einige Zwiebacke, sagte der Schuhmacher Nils; aber wie ich sehe, hab ich meinen Geldbeutel nicht bei mir.

Du hast wohl auch nichts mehr darin, sagte Theodor.

Sie haben von mir entlehnt   ja gewiß hab ich noch Geld, aber wenn sie es von mir entlehnt haben, ist es nicht so einfach.

Ein Mann zieht Nils auf die Seite; es ist ein Mann, der sehr viel Gelatine kauft, er ist aus den Höfen droben auf den Bergen, und er weiß nicht einmal, daß der Schuhmacher Nils wieder ärmlich dran ist, er will Geld entlehnen. Sie verhandeln halblaut. Ich werde dir wohl helfen müssen, sagt Nils schließlich. Es schmeckt eben doch gut, ein großer Mann und Wohltäter zu sein.

Das Gespräch im Laden kommt wieder auf den Keller. Was wollte Herr Holmengraa mit dem Keller für seine Schätze, wenn er sie mit sich auf ein Schiff nehmen und damit fortfahren konnte? Und übrigens, sagte Theodor, übrigens weiß ja niemand, was in dem Keller sein mag. Ist ein Schloß dran?

Ole Johan ist anwesend, und er sagt, nein, es sei kein Schloß dran.

Dann kann irgendwo ein Fach in der Mauer selbst sein. Und das kann ein kleines unsichtbares Fach in der Wölbung sein. Von so etwas liest man oft.

Ole Johan hat den Keller gemacht, und er sagt, es sei nirgends ein Fach eingemauert.

Lars Manuelsen ist auch anwesend; er hört gelassen und schweigend zu, dann sagt er: Ich glaube doch, daß irgendwo ein Fach ist.

Kann ich nicht ein paar Zwiebacke haben? fragt Schuhmacher Nils. Aber ich habe meinen Geldbeutel nicht bei mir.

Gib ihm ein paar Zwiebacke! sagt Theodor zu seinem Ladendiener. Wäg ihm nur die Zwiebacke ab, sagt er, weil er nicht von Stein ist. Aber ich habe eigentlich keine Lust mehr, dir auf Borg zu geben, Nils.

Eine merkwürdige Sprache. Selbst der Mann aus dem Gebirge, der letzte, der von ihm entlehnen wollte, wird aufmerksam; er zieht den Schuhmacher auf die Seite und fragt noch einmal, ob er das Geld haben könne. Ja, ich muß dir wohl helfen, sagt Schuhmacher Nils.

Die Tage vergehen, ruhig und traurig sieht es in Segelfoß aus, aber im Laden ereignet sich doch dies und das, die Leute versammeln sich da und unterhalten sich, im Ofen brennt ein Feuer, der Laden ist erleuchtet, Theodor ist der einzige Mann, der genug Geld hat, er brennt viele Lampen. Der Laden ist ein ungeheurer Raum; Theodor wußte wohl, was er tat, als er den neuen Laden Wand an Wand mit dem alten baute   eines Tages sägte er die Scheidewand heraus und bekam dadurch einen gewaltigen Laden. Wieviel meint ihr, daß er mich gekostet hat, fragte Theodor.

Es ist ganz großartig. Während der Heimsuchung der Stadt ist Theodor Aufmunterung und Trost für alle, er ist unglaublich erfinderisch und unermüdlich, sich in Erinnerung zu bringen. Er hat große Freude an Putz und Tand, aber keinen rechten Geschmack im Auswählen und kein großes Talent ihn anzubringen, aber er hat Freude am Großtun. Jetzt steht ja niemand mehr in seinem Kramladen und dreht Tüten; Theodor hält sich große und kleine viereckige Fabriktüten, auf den Tüten steht sein Name. Als sein Name auf jeder Tüte gelesen wurde und berühmt geworden war, verfiel er darauf, zu dem Namen auch noch eine Zeichnung vom Laden hinzuzufügen   als ein illustriertes Bild meines Geschäftshauses, sagte Theodor.

Jetzt fehlte ihm nur noch eine Pfeife, um darauf zu blasen.

Abends wimmelte es von Menschen im Laden. Sie reden dann, wie mager Baardsen in der letzten Zeit geworden sei, er nehme zusehends ab, ob er wohl Hunger leide. Ja, ja, Baardsen nimmt zusehends ab, aber er magert eigentlich zu seinem Vorteil ab, er wird vornehm und blaß, und vielleicht kommt das vom Hunger. Dann reden sie von Julius, daß das Dienstmädchen Florina jetzt im Hotel sei und daß sie da die Wirtin und Frau werden würde. Julius selbst sei ohne weiteres derselbe, aber seine Braut habe ihm eine lange Pfeife mit einer Perlenschnur daran geschenkt, und diese Pfeife stehe weit aus seiner Tasche heraus, was ihm ein achtungswertes Aussehen verleihe. Sie reden auch von Rechtsanwalt Rasch, der jetzt gewählt sei und bald zum Reichstag in die Hauptstadt müsse. Er hat sich für die Sprachenfrage und für die Herabsetzung der Steuern festgelegt.

Von alle dem reden sie.

Ab und zu wirft Theodor ein Wort dazwischen, und alle lauschen auf seine Aussprüche, denn er ist ein verflixt flinker und tüchtiger Bursche. Und eines Tages überraschte er die Leute mit einem merkwürdigen Anschlag im Laden, es war Handelswissenschaft, Börsenkurs: Havre 25. Oktober. Kaffee 71½ Tendenz behauptet. Rio Janeiro 23. Oktober. Wechselkurs auf London 10 9/64. Fracht nach den Vereinigten Staaten 51½. Santos 25. Oktober. Tendenz fest. Die wöchentliche Verschiffung nach Norwegen fehlt. Zufuhr ins Innere von Sao Paulo 66,000.

Ja, da habt ihr die Kaffeepreise, sagte Theodor.

Großartig! sagten die Leute; sie waren arm und demütig, und er war mächtig. Könnt Ihr die Kaffeepreise danach ausrechnen?

Theodor lächelte nur, ja als sei es für ihn nur eine Kleinigkeit, solche Schwierigkeiten zu überwinden.

Aber jetzt kam die Segelfosser Zeitung. Armer Redakteur und Setzer Kopperud, es ging jetzt schlecht mit seinem Blättchen, die Abonnenten nahmen ab, und Rechtsanwalt Rasch hatte, nachdem er gewählt war, kein Interesse mehr, das Blatt in Gang zu erhalten. Was sollte Kopperud nun tun? Theodor im Laden machte ihm die Sache nicht noch schwerer, erzog seine Anzeigen nicht zurück, und an dem heutigen Tag hatte er sogar noch eine neue Anzeige eingerückt: Buchhalter gesucht, perfekt in Buchführung, deutscher und englischer Korrespondenz, Gehalt nach Leistungen. Theodor Jensen, Segelfoß. Ach, wollte Theodor jetzt mit dem Ausland Geschäfte machen! Das war der Gipfel! Niemand kannte seine Macht genau, es endigte wohl damit, daß er die Mühle kaufte und wie Herr Holmengraa Korn von Amerika und dem Schwarzen Meer erhielt und zu mahlen anfing.

Theodor gab zur Antwort, daß ihm seine Kontorarbeit allmählich über den Kopf gewachsen sei, er wolle sich auch eine Schreibmaschine anschaffen, sagte er. Seht, Herrn Holmengraas Lagermeister war nun ohne Stellung, und Theodor wußte, daß dieser Mann seine hoffnungslose Liebe hier hatte und deshalb durchaus nicht von Segelfoß weg wollte. Aber den Mann einfach zu sich nehmen und ihn in aller Stille anzustellen, das paßte Theodor nicht, er wollte über Segelfoß hinaus wirken und eine Anzeige in die Zeitung setzen, die Leute durften wohl wissen, daß seine Firma jetzt einen sprachkundigen Buchhalter brauchte. Früher hatte er bei jeder Gelegenheit geflaggt, damals als er noch klein war, hatte er das getan, es waren Kinderstreiche, verglichen mit dem, daß er jetzt mit Geschäften im Ausland daher kam! Der Lagermeister bewarb sich um den Platz, und Theodor stellte ihn an. Kurz und bündig, ohne kleinliche Bedenken, mächtig. Aber zu einem angemessenen Anfängergehalt.

Zu Ole Johan sagte er: Kannst du nicht Bertel von Sagvika zu einer Grabarbeit für mich mitbringen? Und das sagte er, als sei es eine einfache Sache, obgleich es mitten im Winter war und das Erdreich tief hinein gefroren.

Wäre es nicht besser, bis zum Frühjahr damit zu warten? entgegnete Ole Johan.

Darum brauchst du dich nicht zu kümmern, wenn ich eine Grabarbeit im Winter ausführen lassen will, erwiderte Theodor. Es handelt sich darum, auf dem Grab meines Vaters ein Kreuz zu errichten. Ich will ihn nicht ohne Kreuz da draußen liegen lassen.

Da ging Ole Johan sofort auf die Arbeit ein.

Das Kreuz war angekommen, ein großes, flottes, gußeisernes Kreuz mit vergoldeten Buchstaben, den Jahreszahlen und einem kleinen vergoldeten Engel in jedem der vier Kreuzwinkel. Es war großartig. Auf dem ganzen ärmlichen Kirchhof hatten nur die Holmsens vom Gut ihre vornehme Grabstätte, sonst waren nur angestrichene Holzkreuze und einfache Erdhügel zu sehen   jetzt kam der Theodor im Laden mit seinem gußeisernen Kreuz daher. Und nicht genug damit: Theodor hatte auch ein Gitter ums Grab bestellt. Das war wieder der Gipfel.

Ole Johan und Bertel von Sagvika hatten lange zu tun; sie mußten auf dem Kirchhof ein Feuer anzünden, um das Erdreich aufzutauen, aber es wurde an nichts gespart, das Werk mußte vollendet werden. Denn es soll bei uns wie auf anderen Kirchhöfen werden, sagte Theodor.

Und nun hatte seine Mutter ordentlich etwas zu tun mit dem Aufschließen des Gitters, wieder hinter sich Zuschließen und dem Pflegen des Grabes. Diese kleine Stätte konnte sie vor allen andern Weibern abschließen, es war fast wie die Tischklappe im Laden, die die Menge ausschloß, und es war angenehm, eine Grenze setzen zu können. Ole Johans Frau war es sehr dienlich. Jetzt mitten im Winter sah es freilich schlimm aus mit Blumen und grünen Pflanzen; aber ein paar Muscheln taten es auch, und der eine oder andere Fuchsia- und Geraniumstock ließ sich wohl auch auftreiben. Frau Per im Laden schmückte das Grab jeden Samstag, es mitten in der Woche zu schmücken, wäre weggeworfen gewesen, die sonntäglichen Kirchgänger würden alles verwelkt und steifgefroren vorgefunden haben. Aber das Kreuz und das Gitter führten zu Ausschweifungen. Die verwitwete Frau Per im Laden steckte die Nachbarsfrauen mit ihrem Grabkultus an. Die Leute kamen zu Theodor und bestellten Grabdenkmäler für ihre Verstorbenen; der eine wollte nicht hinter dem andern zurückstehen, immer mehr Leute stellten sich ein, wahrlich ein edler Wettstreit, und alle wollten nach der Lofotfischerei bezahlen. Theodor mußte illustrierte Kataloge von Gießereien und Steinhauereien bestellen, das war ein Geschäft! Die Steine waren beinahe vornehmer und verdrängten den Eisenguß, sie waren aus Marmor und Granit zu haben, geschliffen und ungeschliffen, in allen Farben, die Leute brauchten nur zu wählen. Es gab Kreuze und Pyramiden, Platten und Säulen und Obelisken, alle Formen. Man konnte Bibelstellen einhauen lassen oder andere passende Worte: Auf Wiedersehen! Geliebt und vermißt! Ruhe in Frieden! Die Leute brauchten nur zu wählen. Und wenn sie nach Geschmack und Vermögensumständen gewählt hatten, dann bestellte Theodor das Grabmal.

Das war alles miteinander edel und anständig, aber es wurde zu einer Seuche. Niemand konnte wohl etwas dagegen einwenden, daß Lars Manuelsen und seine. Frau sich Grabsteine für ihre beiden kleinen Kinder bestellten, die jetzt schon seit zwanzig Jahren tot waren; aber dann hatte ja die verwitwete Frau Per im Laden auch zwei kleine Kinder unter der Erde ruhen, sollten die nun auch eingegittert werden? Niemand sah mehr ein Ende ab, nur ganz wenige hatten nicht Angehörige auf dem Kirchhof ruhen, an die sie sich jetzt mit Steinen erinnern wollten. Und es ging auch nicht ohne Zwistigkeiten ab   wie zum Beispiel, als sich der Vater des Dienstmädchens Marcilie einen guten Platz für einen stolzen Obelisken angeeignet hatte, dann aber plötzlich Nils von Välta eine kleine Granitplatte herbeischleppte und behauptete, gerade an dieser Stelle liege sein Vater begraben.

Der kleine Kirchhof nahm mitten im Winter einen blühenden Aufschwung, und spät und früh brannten Feuer dort, um das Erdreich aufzutauen, damit die Grabarbeit gemacht werden konnte. Aber wenn die verwitwete Frau Per im Laden jetzt über die Gräber hinschaute, dann war sie nicht mehr zufrieden mit ihrem gußeisernen Kreuz, wahrlich, es waren Grabdenkmäler ringsumher, die unendlich großartiger aussahen und auch viel schöner waren. Ob Theodor nicht am Ende für seinen verstorbenen Vater ein anderes Monument innerhalb des Gitters setzen würde? Und Theodor war nicht unwillig dazu, Pracht und Staat sagten auch ihm zu, aber er wollte noch zusehen und abwarten. Was sollte er denn mit dem alten Kreuz anfangen, sollte er es wegwerfen? Etwas anderes wäre es, wenn jetzt bald jemand stürbe, der Peter Jensen hieß und dessen Alter so einigermaßen paßte   dann könnte Theodor das eiserne Kreuz verkaufen und vielleicht sein Geld wiederbekommen.

So vergingen die Tage.

Theodor betrieb im Winter einen ziemlich bedeutenden Umsatz mit Grabdenkmälern und war guter Laune, und eines Abends bot er auch Baardsen einen Stein an. Es war der reine Scherz, und Baardsen nahm es auch nicht übel, er lächelte den Kaufmann gut und freundlich an. Baardsen war jetzt übermäßig blaß und mager geworden, ja, er sah aus, als könnte er in allernächster Zeit einen Stein brauchen, und seine Augen leuchteten ganz seltsam. Tabak kaufte er jetzt keinen mehr, aber er kaufte ein paar Zwiebacke, von denen, die der Schuhmacher Nils zu holen pflegte, um das Leben noch ein wenig aufrechtzuerhalten. Als er die Zwiebacke erhalten hatte, bezahlte er und ging.

Es war plötzlich starker Frost eingetreten, und Baardsen war sehr dünn gekleidet, aber er ging ohne Eile, als könne ihm die Kälte nichts mehr anhaben, er ging Schritt für Schritt; vielleicht hatte er auch nicht mehr die Kraft, rascher zu gehen.

Sein Ziel war das Telegraphenamt. Es war dunkel dort, und Gottfred war zum Essen gegangen. Die beiden Telegraphisten hatten gerade heute abgerechnet, und Baardsen hatte den letzten Rest seiner Schuld abbezahlt. Jetzt ergriff er in der Dunkelheit sein Cello und ging damit wieder aus, hinüber nach dem Segelfosser Herrenhaus, wo er Pauline aufsuchte. Ein unglücklicher Auftritt folgte. Er übergab Pauline sein Cello und sagte, es sei für Willatz Holmsen, wenn er zurückkomme.   Ja, soll ich es denn einfach abgeben? fragte Pauline.   Ja, antwortete Baardsen.

Eine merkwürdige Tat. Natürlich wurde das Cello nicht aus Zwang und Drang hergegeben: Willatz Holmsen war nicht der Mann, der dem Schuhmacher Nils eine Summe Geld gegen ein Pfand schenkte. Und ebenso war Baardsen seinerseits nicht der Mann, der ein Cello verkaufte, sondern es im Gegenteil schenkte, wem er wollte, es dahin schenkte, wo das Instrument es gut bekäme. Das alte feine Cello. Leb wohl! Aber eine merkwürdige Tat war es.

Nein, seid Ihr krank! rief Pauline plötzlich aus.

Ja, antwortete Baardsen, indem er zusammensank. Stiche, flüsterte er und konnte kaum atmen.

In ihrem Schrecken wollte Pauline rasch den Knecht Martin herbeiholen, aber Baardsen stöhnte: Nein. Es geht vorüber   in kurzem   nur Stiche.

Und nach einer kleinen Weile konnte er wirklich seine krampfhaft geballten Hände von der Brust wegnehmen und wieder besser atmen. Diesmal ist es ganz rasch vorübergegangen, sagte er; heute morgen war es schlimmer.

Ach, aber es war wohl auch jetzt nicht allzu gut; seine Lippen waren ganz blutleer, und Pauline fragte, ob ihn Martin nicht bis zum Telegraphenamt begleiten solle. Aber er erwiderte:

Ich komme schon allein nach Hause. Gute Nacht!

Er ging hinaus, und Pauline bekam den Eindruck, als sei der Anfall wirklich vorüber. Bei dem Lichtschein, der durchs Fenster herausfiel, sah sie, daß er den Weg nach der Stadt und dem Telegraphenamt einschlug, und da ging er aufrecht   nachher verschwand er in der Dunkelheit, und Pauline konnte nicht mehr sehen, daß er wieder einen heftigen Anfall hatte, unter dem er sich krümmte und nicht weiter kam. Er sah sich um, es war hoffnungslos weit in die Stadt und auch weit zurück nach dem Hofe, er stand ganz zusammengekrümmt da und drehte den Kopf nach allen Seiten, nach einem Ausweg. Dann wurde es ihm wohl zu eisigkalt, um noch länger stehen zu bleiben, und er schleppte sich mit ganz kleinen Schritten in schräger Richtung über den Schnee hin.

Pauline war die letzte, die Baardsen gesehen hatte, ein Tag nach dem andern verging, und er kam nicht wieder zum Vorschein. Es wurde nach ihm gefragt und gesucht, mit einem Postschiff war er nicht abgefahren, niemand hatte ihn auf einem Wege getroffen. Fort war er. Die Segelfosser Zeitung meldete das Ereignis in ihrer letzten Nummer, ehe sie einging.

Dann war sie nicht mehr.

Theodor im Laden rüstet sich jetzt für seine Geschäfte auf dem Lofot und wirbt Mannschaft für die Fischjacht an; vor allem heuert er Nils von Välta an, den er regelmäßig dabei hat. Dieser Nils war eine Zeitlang still und niedergeschlagen gewesen, und daran war Florina schuld. Er hatte sich im Frühjahr herzlich schlecht benommen, damals als er Florina von sich gestoßen und sie mit einem fremden Geschäftsmann aufs Meer hinaus hatte fahren lassen. Später hatten sie sich allerdings wieder versöhnt, sie waren auf dem Samstagabendtanz und auch sonst oft zusammen gewesen; aber dann war die Sache endgültig vorbei: Florina wurde reich, sie bekam ein Sparkassenbuch und ungeheuer viel Geld, und schließlich heiratete sie den Julius. Jetzt war sie die Frau im Hotel   Lebwohl und viel Glück. Aber Nils von Välta erwies sich als ein tiefer Charakter, der seine Liebe durchaus nicht so schnell vergaß, und erst auf ganz ernsthafte Vorstellungen von Theodor hin gab er es auf, es bei Julius aufs äußerste zu treiben. Allmählich verzog sich sein Kummer doch ein wenig, und in der letzten Zeit begann er sich dem Mädchen Palästina zu nähern. Das war vielleicht auch das beste für ihn, Palästina gehörte zu denen, die ein monatliches Einschreibebuch im Laden hatten, und war auch sonst zuverlässig   über Florina hatte er dagegen jetzt gerade gehört, daß sie den Rechtsanwalt aufgefordert habe, zwischen ihr und ihrem Manne Gütertrennung einzuführen. Da konnte Julius sie gerne haben.  

Der Mond ist verschwunden, und keine Sterne sind zu sehen, es ist Nacht und stockfinster. Da kommt Lars Manuelsen des Wegs daher; wohin will er in dieser Finsternis? Er schlägt den Weg nach dem Segelfosser Gut ein, aber als er weit genug gekommen ist, geht er in schräger Richtung über den Schnee weiter.

Kein Elsternschrei, keine Warnung, alles ist still. Denn so macht es die Elster, sie rächt sich nicht bis an den Tod, das tut sie nicht, aber sie straft sieben Monate hindurch beim erstenmal und neun Monate hindurch beim zweitenmal, das ist ihre Art, und jetzt straft sie Lars Manuelsen nicht mehr fürs erstemal. Gott weiß, ob er es nicht überdies der Elster zu verdanken hat, daß er auch seine Brille wieder fand; sie war in der Brusttasche seiner Jacke, in der Düffeljacke mit den acht Knöpfen dran, die auswendig und inwendig Taschen hatte, wie für den reichsten Mann   da war die Brille versteckt gewesen. Als Lars Manuelsen die Brille fand, wurden seine Gefühle gegen die Elster weniger haßerfüllt.

Jetzt geht er in schräger Richtung über den Schnee. Sein Ziel ist der Keller, Herrn Holmengraas Diamantenhöhle. Aber was will er dort? Er hat nicht vergessen können, daß möglicherweise irgendein geheimes Fach darin sein könnte, und das will er jetzt untersuchen.

Er erreicht die Tür, sie ist ohne Schloß, er öffnet sie und tritt ein. Es ist gut und warm drinnen, die Kälte ist nicht bis da hineingedrungen. Er reibt ein Streichholz an.

Doch das Streichholz entfällt jählings seiner Hand, er fühlt einen Schrei des Entsetzens in seiner Brust aufsteigen, unterdrückt ihn jedoch, hält ihn gleichsam in einem Aufschluchzen zurück und taumelt nach der Tür, taumelt zum Keller hinaus, taumelt   er kommt erst wieder ganz zu sich, als er vor seiner eigenen Haustür steht.

Als es Tag wird, geht er zu Ole Johan und sagt: Komm, wir wollen miteinander in Herrn Holmengraas Keller gehen.

Was sollen wir dort? fragt Ole Johan.

Wir können nachsehen, ob irgendwo ein geheimes Fach ist.

Ja, Ole Johan ist ein außerordentlich neugieriger Mensch, er geht mit.

Ich wollte am hellen Tag gehen, sagt Lars Manuelsen, denn ich will nichts stehlen.

Nein.

Denn das habe ich nicht nötig.

Sie erreichen den Keller, und Ole Johan geht aus Neugier zuerst hinein. Aber er weicht jäh einen Schritt zurück und sagt: Baardsen  

Was gibt's? Was gibt's?

Baardsen! sagt Ole Johan. Da sitzt er. Er ist tot.

Die beiden Männer laufen rasch nach Segelfoß zurück und in den Laden. Sie kommen und bringen die Lösung eines Rätsels   sie lösen es vielleicht nicht, aber sie sind geschwollen von ihrer Neuigkeit. Sie schwatzen und schwatzen: Er saß im Keller, er war tot  . Alle Menschen bekommen es zu wissen; sie hören zu, sie denken darüber nach und gehen dann weiter an ihr Tagewerk. Dann ist es vorbei. Und draußen im Süden singen die wilden Schwäne.

 


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