Friedrich Halm
Das Haus an der Veronabrücke
Friedrich Halm

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Ruggiero, der, aus seinen Träumen aufgeschreckt, nur flüchtig diese Ansprache vernommen und kaum ihren Sinn erwogen hatte, und der aufblickend Antonio Balletti, den Kaufmann, vor sich sah, welchem er des höhnenden Grußes wegen, den er ihm einst von Anselmo überbracht hatte, eben nicht hold war, murmelte unmutig einige Flüche vor sich hin und schnaubte dann, sich dichter in seinen Mantel hüllend und von dem Sprechenden sich abwendend: »Was faselt Ihr da? Wovon soll ich willen und an wem soll ich teilnehmen von dem Diebsgesindel um mich her, das Gottes schöne Welt zur Räuberhöhle und zum Bordell macht? Laßt mich zufrieden!« – Mit diesen Worten wendete er Balletti mürrisch den Rücken; dieser aber, ihm in den Weg tretend, entgegnete: »Wie, so wißt Ihr nicht von der Neuigkeit, die ich eben von Rom mitgebracht habe, nämlich, daß der heilige Vater den allmächtigen Kardinal Caraffa, den Gönner Eures Neffen, plötzlich Hochverrates wegen auf der Engelsburg gefangen setzen und ihn nachts darauf in seinem Kerker erdrosseln ließ?« – »Und wenn er ihn hätte vierteilen lassen, den würdigen Gönner meines nichtswürdigen Neffen, was hätte mich das zu kümmern?« versetzte Ruggiero, Balletti beiseite schiebend, der ihn aber seinerseits am Mantel festhielt, und fortfuhr: »So wißt Ihr denn auch nicht, daß mit dem Kardinal zugleich sein Geheimschreiber und Vertrauter Anselmo, Euer Neffe, zur Haft gebracht und tags darauf auf den Wällen der Engelsburg aufgeknüpft wurde?« – Ruggiero, diese Worte vernehmend, drehte sich rasch um und stand einen Augenblick, die Augen weit hervorgequollen, starr und wie an allen Gliedern gelähmt, dann aber fuhr er mit der Behendigkeit einer Katze und der Wildheit eines Tigers auf den Kaufmann zu, und drückte ihn an den hinter ihm befindlichen Mauerpfeiler. »Du lügst!« rief er, »Hund, gesteht, daß du lügst!« und dabei umklammerte er mit seinen Händen die Gurgel Ballettis so fest, daß dieser des Wütenden sich kaum mehr erwehren und um Hilfe rufen konnte. Als der Arme von den auf sein Geschrei Herbeigeeilten aus Ruggieros Klauen befreit, diesem letzteren zitternd, bleich und nach Luft schnappend gegenüber stand, fing er von neuem an, mit den heiligsten Eiden zu beteuern, daß alles, was er ihm und vor ihm schon vielen andern berichtet habe, aufs Wort wahr wäre, und daß er mit eigenen Augen Anselmo Malgrati an einem auf den Zinnen der Engelsburg in Eile errichteten Schnellgalgen habe baumeln sehen, Versicherungen, die Ruggiero mit hochgerötetem Antlitz und rollenden Augen, aber lautlos, stumm anhörte, bis er, plötzlich einen gellenden Schrei ausstoßend, und sich bald mit den Händen das greise Haar raufend, bald sich Faustschläge auf die Brust und ins Gesicht versetzend, sich wie ein Kreisel wirbelnd umherdrehte, während Schaum auf seine Lippen trat und alle Muskeln und Nerven seines Antlitzes fiebrisch zuckten und flogen. Erschöpft endlich an den Pfeiler zurücktaumelnd, an dem er früher gelehnt hatte, schlug er die Hände vors Gesicht und stöhnte mit seltsam kreischender Stimme: »Tot! tot!« welche Worte er so oft und in so schmerzlichen Tönen wiederholte, daß alle Umstehenden darüber von Rührung ergriffen wurden; doch plötzlich wieder in ein schallendes Hohngelächter ausbrechend, warf er seinen Hut in die Lüfte, riß sich den Mantel vom Leibe, und die Fäuste geballt gen Himmel streckend, rief er mit heiserer Stimme: »Pfui, Pfui! Gott hat mich um meine Rache bestohlen! Gott hat mich um meine Ehre betrogen! Pfui, Pfui! Im Himmel sitzen Schurken und Diebe, ich will zu den ehrlichen Leuten in die Hölle fahren!« Unter diesen Worten war er über die Stufen, die zu den Arkaden der Prokurazien hinanführen, auf den Markusplatz hinabgetaumelt, wo sich alsbald ein dichter Kreis Neugieriger jedes Alters und Standes um ihn her bildete, indem er unter seltsamen Sprüngen und Körperverdrehungen sich hin und her bewegte, während er beide Hände an die Schläfe drückte und dazu mit schmerzverzerrten Zügen seufzte und stöhnte: »Wehe, wehe! Wie das wühlt, wie das tobt! Den Schädel will mir's zersprengen! Ja, sie keimen und sprossen und wollen heraus! Hörner lassen sich nicht verbergen, und Hirsch und Hahnrei tragen Geweihe! Wehe, wehe!« – Als sich nun unter der gaffenden Menge alsbald einige fanden, die über seine Sprünge und Gebärden, noch mehr aber über seine seltsamen Reden zu lachen anfingen, fuhr er auf sie los: »Was lacht ihr, Laffen?« schrie er, mit geballter Faust ihnen drohend. »Was lacht ihr? Weil ich ein Hahnrei bin? Als ob es hier unter euch deren nicht dutzendweise gäbe, nur daß sie es nicht wissen und es nicht sein wollen, während ich mich selbst dazu gemacht habe! Oder meint ihr, ihr hättet solche Liebesdienste euren Landsleuten zu danken, ich aber einem Deutschen! Darin habt ihr freilich recht! Gott verdamme die Deutschen! Schlagt sie tot, die Hunde! Schlagt sie tot!«

Als nun auf diese Worte das rohe Gelächter um ihn her sich nur steigerte, stand er plötzlich still, kreuzte die Arme über die Brust und sprach, die unheimlich funkelnden Blicke düster zur Erde senkend: »Lacht nur, lacht, während ich weinen möchte, wenn ich nur könnte! Aber ich will den Spieß umkehren! Mein Neffe ist tot, meine Ehre ist tot, meine Rache ist tot! So will ich denn auch die Werkzeuge meiner Rache zerbrechen, Schraube und Schraubenmutter, Hammer und Amboß, alles soll in Stücke gehen! Mit Blut will ich ihnen den Tag ihrer wilden Hochzeit gesegnen, und wenn ihr dann vielleicht weint, so will ich lachen, daß mir die Augen tränen und der Atem ausgeht!« – Und damit ein wildes, schauerlich über den Platz hingellendes Gelächter ausstoßend, riß er den Dolch vom Gürtel, warf die Scheide weg und stürmte mit der blanken Waffe in der Faust gerade vor sich hin. Wo der Menschenschwall sein Fortschreiten hinderte, rief er: »Platz da, Bruder Hahnrei!« und sich durch das Gedränge Bahn brechend, nahm er bald unter überlautem Gelächter, bald gräßliche Verwünschungen und Lästerungen ausstoßend, jetzt unter dem Zuruf: »Schlagt tot!« und: »Nieder mit den Deutschen!« jetzt zwei Finger über das eigene Hinterhaupt her emporhaltend und dazu aus vollem Halse: »Hahnrei, Hahnrei!« schreiend seinen Lauf gegen die Gäßchen hin, die vom Markusplatz nach S. Fantino und von dort nach der Veronabrücke führen, während die neugierige Menge, nur wenige teilnehmend und bedauernd, die meisten des unverhofften, unentgeltlichen Schauspiels froh, in unruhiger Hast ihm nachwogte.

Bei dem Haus an der Veronabrücke angelangt, vermehrten noch die Nachbarn, durch den wilden Lärm und das Gebrause verworrener Stimmen aus ihren Betten aufgeschreckt, den um Ruggiero sich zusammendrängenden Menschenknäuel, während Ruggiero schweißtriefend, mit blau gerötetem Antlitz und blutunterlaufenen Augen, mit seinen zitternden Händen vergebens sich mühte das Haustor zu öffnen, und endlich erschöpft und kaum mehr fähig sich aufrecht zu halten, die Schlüssel klirrend auf das Pflaster niederfallen ließ. Indessen fanden sich geschäftige Hände genug, diesen Dienst an seiner Statt nicht bloß bei dem Haustore, sondern auch in der Vorhalle bei der Türe des Gemaches zu verrichten, welches Ruggiero wiederholt als die Werkstatt seiner Rache bezeichnete. Als nun auch diese Türe aufflog und völlige Finsternis den Ankommenden entgegenstarrte, drängte Ruggiero mit den flüsternd hingesprochenen Worten: »Stille, stille! Hähnchen und Hühnchen sind zu Bette gegangen! Weckt sie nicht, bis ich ihnen den Brautsegen gesprochen!« seine Begleiter zurück, stürmte mit gezücktem Dolche nach der Ecke hin, in der er vordem Heinrich Ilsung das Lager bereitet hatte und durchbohrte Decken und Kissen desselben in rasendem Ungestüm mit zahllosen Dolchstichen. Indes waren Lichter herbeigebracht worden, deren Schein das Lager, an dessen Zerstörung Ruggiero noch immer unermüdet arbeitete, als vollkommen leer erwies, zugleich aber in der entgegengesetzten Ecke des Gemaches Ambrosia sichtbar machte, die bleich und starr wie eine Leiche auf dem Estrich hingestreckt lag. Einige der Anwesenden bemühten sich alsbald, die Ohnmächtige emporzurichten und wieder zum Leben zu bringen; Ruggiero aber, dem indessen bei dem Anblick des leeren Lagers, wie vom Schlage berührt, der Dolche entsunken war, trat hinzu und wies die Hilfebringenden hinweg: »Laßt sie,« sagte er, »laßt meine weiße Blume nur welken; besser sie stirbt, als daß sie in Schande lebte und Schande zur Welt brächte! – Aber wo ist mein blauäugiger, blondhaariger Zuchtstier hingekommen?« fuhr er fort: »Wo bist du, mein breitschultriger alter ego? In welches Nest hast du dich verkrochen, mein stattlicher deutscher Kuckuck, seitdem du in das meine deine Eier gelegt? Oder wie, hat Himmel und Hölle mich betrogen und hielt ich dummer Teufel den wirklichen für einen plumpen Deutschen, weil er eine blonde Perücke über seine Bockshörner gestülpt hatte und mir so treuherzig zu Diensten war? Denn wenn er nicht der Teufel ist, so muß er hier sein und ich muß ihn finden!« – Mut diesen Worten begann er alsbald toll in alle Ecken fahrend und ab und zu den Schlachtruf: » Cierra España!«, den er sonst im Felde gebraucht hatte, oder wilde Flüche ausstoßend, alle Winkel des Gemaches wie des anstoßenden Klosetts in unruhiger Hast zu durchstöbern, wobei er die Fenster in Scherben schlug, das Hausgerät zertrümmerte und zuletzt in wütender Verzweiflung über die Erfolglosigkeit seiner Anstrengung sich das Gesicht mit den Nägeln zu zerfleischen anfing, bis die Umstehenden, die sich längst überzeugt hatten, daß das Gemach außer Ambrosia keine lebende Seele enthalten habe und die nicht länger zweifeln konnten, in Ruggiero einen Tobsüchtigen vor sich zu haben, sich seiner bemächtigten, und ferneren Ausbrüchen seiner Wut ein Ziel setzten. Als dies geschehen war, bemühten sich einige Freunde Ruggieros, die der Zufall oder das Gerücht von dem, was sich in dem Hause an der Veronabrücke begebe, dahin geführt hatte, die Menge der Neugierigen aus der Stube und allmählich auch aus dem Hause zu entfernen, worauf sie Ruggiero begreiflich zu machen suchten, daß es an der Zeit sei, ihn wie Ambrosia, die noch immer ihrer Sinne nicht mächtig geworden war, in ihre Wohnung heimzubringen und sie der Pflege der Ärzte und ihrer Diener zu übergeben. Ruggiero, der indessen stiller geworden, in einer Ecke des Gemaches zusammengekauert auf dem Estrich saß und die Hände vor die Stirne gepreßt, nur von Zeit zu Zeit stöhnte: »Wehe! Wehe! Wie das tobt! Wie das wütet!« Ruggiero hörte diese Vorschläge und Ermahnungen ganz freundlich und mit allen Zeichen des Verständnisses an. »Liebe Herren!« sprach er hierauf sich erhebend und ruhig und gelassen wie ein Gesunder in ihre Mitte tretend: »allerdings ist es schon spät geworden; die hier,« sagte er auf Ambrosia deutend, »ist schon eingeschlafen und auch ich fühle, daß es Schlafenszeit ist und daß ich wohltun würde, eine Ruhestätte zu suchen! Nur bleibt noch früher eine Kleinigkeit abzutun! Da ihr selbst einsehen werdet, liebe Herren, daß ich unmöglich mit dem Geweihe eines Sechzehnenders, wie ich es auf der Stirne trage, durch den schmalen Torweg dort ins Freie gelangen kann, so erlaubt mir vorerst, wie es die Hirsche ja auch mitunter zu tun pflegen, diesen etwas lästigen Hauptschmuck kurzweg abzustoßen!« – Mit diesen Worten rannte er, den nach ihm langenden Händen wie ein Aal sich entwindend, plötzlich kopfvor mit so gewaltigem Anlauf an den eichenen Türpfosten, daß er mit zerschmetterter Hirnschale zurücktaumelte, röchelnd niedersank und nach wenigen Stunden, ohne wieder zum Bewußtsein zurückzukommen, seinen unruhigen, bis zum Wahnsinn hartnäckigen Geist aushauchte.

Nach dem Tode Messers Ruggiero Malgrati, des letzten seines Namens und Geschlechtes, fielen die in seinem Besitze gewesenen Stammgüter an das verwandte Haus der Diedi, während das gesamte Spargut des Verblichenen und mehrere bedeutende Besitzungen, die er in den letzten Jahren angekauft hatte, seiner Witwe zufielen. Diese letztere, nach einigen Tagen schwerer Krankheit zur Besinnung und zum Leben zurückkehrend, erkannte zu ihrer großen Beruhigung, daß ihr Ruf durch die verhängnisvolle Nacht, die sie in dem Hause an der Veronabrücke zugebracht hatte, nicht im mindesten gefährdet worden; denn da das Haus an der Veronabrücke monatelang unbewohnt stand, da Ruggiero den jungen Deutschen bei tiefer Nacht, also ganz unbemerkt, dahin gebracht hatte, und da im Gegenteil die Nachbarn an dem verhängnisvollen Abend wohl bemerkt hatten, daß Ruggiero selbst seine Gemahlin, und zwar allein, in dasselbe verschloß, so lag nach dem allgemeinen Dafürhalten die Unmöglichkeit vor, daß Ambrosia daselbst mit irgendeinem jungen Manne hätte eine Zusammenkunft haben können, und alle darauf hindeutenden Reden Ruggieros wurden nur als wesenlose Vorspiegelungen des Wahnsinnes angesehen. Heinrich Ilsung kehrte, durch den Pfarrer von S. Maria Zobenigo von dem Vorgefallenen unterrichtet, nach einigen Wochen nach Venedig zurück. Sein Zartgefühl vermied der Witwe Ruggieros sich während des Trauerjahres zu nähern; nur verfehlte er während dieser Zeit nie, bei S. Fantino in der Frühmesse, die sie zu besuchen pflegte, sich einzufinden. Nach dem Ablaufe des Trauerjahres warb er um ihre Hand, die Ambrosia ihm ohne Bedenken gewährte, indem sie Ilsung in seine Heimat nach Augsburg folgte, wo kräftige Söhne und blühende Töchter ihrer Verbindung entsproßten, die das Patriziergeschlecht der Ilsung bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts fortpflanzten. Das Haus an der Veronabrücke hatte Ambrosia vor ihrem Abzuge aus Italien, froh eines Besitztumes sich zu entledigen, das ihr so traurige Erinnerungen zurückrief, bei weitem unter seinem Werte verkauft; allein die neuen Besitzer sollten des wohlfeil erworbenen Gutes sich nicht lange freuen; denn noch vor Ende des 16. Jahrhunderts brannte es bei einer in jener Stadtgegend wütenden Feuersbrunst bis auf die Grundfesten nieder, und an seine Stelle trat im Laufe der Jahre die Reihe unansehnlicher und ärmlicher Häuser, welche noch jetzt die rechte Seite des Gäßchens bildet, das von der Veronabrücke zu dem vorlängst verschütteten Kanal rio degli assassini hinführt.


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