Friedrich Halm
Das Haus an der Veronabrücke
Friedrich Halm

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Allein dieser Trost hielt nicht lange vor; denn wenn er gleich seit den Erklärungen Ambrosias, die über ihre Neigung für Heinrich Ilsung kaum zweifeln ließen, unbewußt in den tiefsten Tiefen seiner Seele einen Groll gegen diesen letzteren gefaßt hatte und an dessen Mißgeschick mit boshafter Freude sich weiden konnte, so mußte doch andererseits der Anblick dieser Leiden unfehlbar das Gefühl der Trostlosigkeit der eigenen Lage steigern und seine Gedanken wieder mit doppelter Bitterkeit dem alten Zielpunkte zulenken: wie alles vortrefflich vorbereitete, wie das Gelingen ganz sicher gewesen sei und noch jetzt ganz sicher wäre, wenn nur in dem großen Triebwerk ein Rad nicht stockte, eine Feder nicht den Dienst versagte. Dieses Rad sich drehen zu machen, diese Feder in Bewegung zu setzen, war jetzt die Aufgabe seines Lebens, der Inhalt aller seiner Gedanken, der Gegenstand aller der halblauten Selbstgespräche geworden, denen er sich, die Gäßchen Venedigs durchstreifend, zum Staunen und zum Gespötte Vornehmer wie Geringer hinzugeben und sie mit den seltsamsten Mienen und Gebärden zu begleiten pflegte. Mit einem solchen Selbstgespräche verkürzte er sich denn auch eines Abends den Weg nach San Giovanni e Paolo, wo er sich wieder an der Standhaftigkeit wie an der Ungeduld Heinrich Ilsungs zu ergötzen gedachte, als er sich plötzlich anrufen hörte, und aufblickend Meister Andrea Palladio, den Baumeister, vor sich stehen sah. » Corpo di Dio, Meister Ruggiero!« rief er ihm zu, dem alten Freunde die vornehm feine Hand zum Gruße entgegenstreckend; »Ihr seid hier zu Venedig? Mißfiel es Euch also zu Rom, daß Ihr die ewige Stadt so schnell verlassen, oder trieb Euch Heimweh zurück in unsere Lagunen? Wie dem auch sei, laßt Euch nur sagen, mir kommt Ihr jedenfalls zu früh; ich hatte noch nicht Muße und Laune, mit mir Eurem Baue zu beschäftigen!« – Als nun Ruggiero, wie vom Traume erwachend, ihn versicherte, er sei seit Jahre nicht in Rom gewesen und wisse ebensowenig, von welchem Baue Palladio spreche, versetzte dieser, erstaunt einen Schritt zurücktretend: »Wie, wollt Ihr Euren Scherz mit mir treiben? Habe ich's nicht verbrieft und besiegelt in der Tasche, daß Ihr in Rom wart? Brachte mir nicht der Eilbote, den Kardinal Caraffa vorigen Monat an den Patriarchen absandte, von dort ein Schreiben, in dem Ihr mich ersucht, ehemöglichst Euren Landsitz zu Lucera in Augenschein zu nehmen und Pläne zu entwerfen, um das alte Kastell in eine stattliche Villa umzubauen? Die Pläne müßten fertig sein, setztet Ihr hinzu, wenn der Alte das Zeitliche segnete, damit man dann sogleich zum Baue schreiten könne? Ich weiß nicht, welchen Alten Ihr damit gemeint haben könnt, aber daß Ihr es hingeschrieben habt, dies weiß ich, und wenn Ihr ableugnen wollt, nun so seht es hier schwarz auf weiß!« – Damit reichte er ein Blatt, das er mittlerweile aus seiner Gürteltasche hervorgezogen hatte, dem ihn ahnungsvoll anstarrenden Ruggiero hin, der dann auch, auf den ersten Blick die Handschrift Anselmos erkennend und alsbald vor der Berührung des Blattes wie vor der eines Pestkranken zurückschreckend, mit zornbebender Stimme die Worte herstammelte: »Ihr seid im Irrtum, Meister Andrea! Dieses Schreiben rührt nicht von mir her, sondern von meinem undankbaren, pflichtvergessenen Neffen, der die Tage seines greisen Oheims zählt und die Stunde nicht erwarten kann, um als ein lachender Erbe in den Besitz seines Nachlasses zu treten! Gott verdamme ihn dafür hier und dort, in Ewigkeit, Amen!« – Und dies gesagt, bog er so schnell, als die Hinfälligkeit seines gebrechlichen Körpers es erlaubte, in ein Seitengäßchen und rannte, die unbetretensten Pfade wählend, ohne Aufenthalt fort, bis er an eine einsame Stelle gelangte, wo sich das Rasen des Zornes, der in ihm kochte, in gräßlichen Flüchen und Verwünschungen gegen Gott und die Welt austobte. Endlich erschöpft zusammenbrechend, kroch er die Stufen hinan, die zum Eingange einer Kirche führten und überließ sich dort hingekauert der Fülle der Gedanken, der Bitterkeit der Empfindungen, die seine Seele bestürmten. »Mißhandelt, beschimpft und überdies verhöhnt!« seufzte er vor sich hin; »und die Mißhandlung hinnehmen, den Schimpf verbergen, den Hohn in ohnmächtiger Wut verbeißen zu müssen! O wie anders stünde es, wenn mein Anschlag gelungen, wenn das Werk meiner Rache vollbracht wäre! Mit welcher siegesgewissen Verachtung könnte ich über diesen neuen Frevel des anmaßenden Buben hinweg dem Tage entgegensehen, der mir einen Erben gibt und ihn der Verarmung und dem Elende in den Rachen stößt! O daß es vollbracht, vollbracht wäre!« – Er hielt plötzlich inne und fuhr, wie von einem elektrischen Strahle berührt, in die Höhe! – »Vollbracht!« stammelte er und verbarg das Gesicht in den Händen! Die furchtbare Aufregung der letzten Stunden hatte die Tatkraft seiner Seele, statt sie vollends zu erschöpfen, zu neuem Aufschwung erweckt; denn plötzlich war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen; der Ausweg aus dem Labyrinthe, in dem er so lange umhergeirrt, war entdeckt, die Lösung des Rätsels gefunden, nach dessen Schlüssel er so lange gesucht hatte. »Vollbracht!« wiederholte er; »das ist es! Die Gewalt der Tatsachen beherrscht den schwankenden Sinn der Menschen! Das war mein Fehler, daß ich Umwege einschlug, auf Zufälligkeiten rechnete, daß ich erlisten wollte, was ich erzwingen mußte! Das Gewicht der vollendeten Tatsache hatte ich in die Wagschale zu werfen, nicht ihre Bedenken anzuhören, nicht mit ihrem Starrsinn zu rechten! – Nun wohlan, er soll, er wird brechen, dieser Starrsinn!« – So rief er, dann kreuzte er die Arme über die Brust und stand eine Weile mit geschlossenen Augen, alle Kraft der Seele in einen Brennpunkt sammelnd, in tiefen Gedanken versunken; dann war sein Plan gemacht, sein Entschluß gefaßt, und er ging augenblicklich an die Ausführung desselben, indem er beflügelten Schrittes nach Hause eilte, sich in seinen schwarzen Domino hüllte und sein Antlitz in der Mulattenlarve verborgen, sich von einer Gondel nach S. Giovanni e Paolo bringen ließ, so er Heinrich Ilsung nach einer Stunde vergeblichen Harrens eben im Begriffe fand, dem Standbilde des Colleoni hoffnungsloser als je den Rücken zu kehren. Mit einem Freudenschrei empfangen, dem jedoch sofort eine Flut von Vorwürfen und bitteren Klagen nachfolgte, setzte Ruggiero diesen letzteren alsbald dadurch ein Ziel, daß er, Ilsungs beide Hände erfassend, ihn mit feierlich erhobener Stimme auf diese Weise anredete: »Eure Standhaftigkeit hat gesiegt, junger Mann! Ihr habt siegreich die harte Prüfung bestanden, welche Zweifelsucht und Unentschlossenheit der Geliebten Euch auferlegte. Ausdauer und bescheidene Zurückhaltung haben Eure Liebe als echtes Gold bewährt und so darf ich Euch nun verbürgen, daß Ihr Euch in wenigen Tagen am Ziele Eurer Wünsche und in dem vollen Besitze der Geliebten sehen werdet, wenn Ihr nur die Geduld habt, Euch noch durch einige Tage den Vorsichtsmaßregeln zu fügen, welche die Sorge für ihren Ruf, und das Geheimnis Eurer Verbindung ihr zu beobachten gebieten.« – Als nun auf diese Worte der Jüngling mit aller Glut jugendlicher Leidenschaft und verzehrender Begierde alle Forderungen einzugehen sich bereit erklärte, die die Verhältnisse seiner Dame oder selbst nur ihre Laune ihm vorschreiben würden, hieß ihn Ruggiero sich ungesäumt nach Hause begeben und bei seinen Handelsfreunden eine Reise in Familienangelegenheiten vorschützen, die ihn einige Tage von ihrem Hause fernhalten würde; die nächstfolgende Mitternacht sollte er sodann wieder bei dem Standbilde Colleonis sich einfinden, um, blindlings seiner Führung sich vertrauend, von ihm an den Ort gebracht zu werden, wo ihm früher oder später in der Erfüllung seiner glühendsten Wünsche das reichste Glück erblühen werde! – Nachdem der Jüngling, zwar staunend und befremdet, aber ohne Säumen und fast ohne alle Überlegung Ruggieros Anordnungen pünktlich nachzukommen zugesagt hatte, trennten sich beide, Ilsung, um die lange Nacht in halbwachen Träumen künftiger Seligkeit hinzuschwelgen, Ruggiero, um sie in der sorgfältigsten Erwägung aller Hindernisse, die der Ausführung seines Planes irgendwie in den Weg treten können, hinzubringen.

Am nächsten Morgen begab sich Ruggiero in das Haus an der Veronabrücke, das er, wie es die Stätte seiner Schmach gewesen, nun auch zu dem Orte erkoren hatte, an dem über die Zukunft Anselmos der Stab gebrochen werden sollte. Er durchschritt prüfend die Gemächer des Hauses und entschied sich endlich für eine im Erdgeschoß des Hofraumes gelegene Stube, deren eiserne Fensterladen von außen zu schließen und zu versperren waren, so daß der Bewohner des Gemaches völlig von der Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten werden konnte, und an die noch überdies ein kleines dunkles Kämmerchen stieß, das hinlänglichen Raum für den Vorrat von Lebensmitteln und andere notwendige Erfordernisse darbot, welche er herbeigeschafft hatte und nun daselbst aufhäufte. Nachdem dies geschehen, verschloß er auf das sorgfältigste die Fensterladen, vernagelte sogar die Fenster und verließ endlich, nachdem er noch an der Außenseite der Stubentüre, der Festigkeit ihres Schlosses nicht vertrauend, zwei feste Riegel angebracht hatte, das einsam öde Haus, um, den Rest des Tages hindurch über seinem Plane brütend, das Heranrücken der Mitternacht abzuwarten. Heinrich Ilsung, der ihr mit nicht geringerer Ungeduld entgegenharrte, schritt schon lange vor dem Reiterstandbilde des Colleoni auf und nieder, als die ersehnten zwölf Schläge endlich von dem Turme von S. Giovanni e Paolo niederdröhnten. Der letzte derselben war noch nicht ganz verhallt, als schon der schwarze Domino mit der Mulattenlarve, wie aus der Erde emporgestiegen, vor ihm stand, ihm, der Abrede gemäß, die Augen verband und ihn zu der Gondel geleitete, welche beide nach vielfältigen Kreuz- und Querfahrten endlich an der Veronabrücke ans Land setzte. Am Ziele ihrer Fahrt und in der Stube angelangt, die Heinrich Ilsung zum Aufenthalte bestimmt war, nahm Ruggiero, nachdem er seine Lampe angezündet hatte, seinem Begleiter die Binde von den Augen und sprach: »Messer Enrico! Dies ist der Ort, an dem Ihr wohlverborgen zu verweilen habt, bis die Dame Eurer Gedanken Muße und Gelegenheit findet, Euch die langersehnte Zusammenkunft zu gewähren. Wann dieser Augenblick eintreten wird, hängt von der Gunst des Zufalles ab; sorgt Ihr dafür, ihn weislich zu benützen, wenn er eintritt. Dort in der Kammer findet Ihr Mundvorrat für acht Tage, ob Ihr gleich, wie ich verbürgen zu können glaube, nicht die Hälfte dieser Zeit hier zubringen werdet. Hier in der Ecke ist Euer Lager bereitet, möge es Euch selige Träume gewähren, bis Ihr dereinst zu einer seligeren Wirklichkeit erwachet. Übrigens bitte ich, daß Ihr Euch so still und geräuschlos als möglich verhalten, und daß Ihr weder zu ergründen versuchen möget, wo und unter wessen Dach Ihr Euch befindet, noch es übelnehmen wollt, wenn ich Euch unter Schloß und Riegel verwahre, denn nur wenn dies Gemach für völlig unbewohnt gilt, kann es zum Markstein Eurer Leiden, zur Geburtsstätte Eures Glückes werden!« – Nachdem er diesen Worten noch das Versprechen hinzugefügt: er werde die Einsamkeit seines Gefangenen durch tägliche Besuche und seine Sehnsucht durch Nachrichten von der Geliebten zu stillen suchen, wandte er sich der Türe zu, als Heinrich Ilsung ihn plötzlich am Arme faßte und zurückhielt: »Nur ein Wort noch, mein unbekannter Freund,« sagte er; »daß ich Euch seit unserer ersten Begegnung bis zum heutigen Tage treue Ergebenheit, ja blinde Hingebung bewiesen, daß ich Euren Forderungen und Ratschlägen zu allen Zeiten und in jeder Beziehung willfährig Folge geleistet, werdet Ihr um so weniger leugnen können, als ich eben jetzt selbst meine Freiheit und mein Leben Eurer Willkür anheimstelle. Ich vertraute Euch nicht bloß wie ein Kranker dem Arzt, wie ein Freund dem Freunde, sondern wie ein unmündiger Knabe dem weltklugen Vater; ich ließ trotz des bisherigen Mißerfolges Eurer Ratschläge keinen Verdacht, keinen Argwohn gegen Eure Redlichkeit in meiner Seele aufkommen. Sollte jedoch meine Zuversicht auch in dieser neuen und schwersten Prüfung wie in allen früheren getäuscht werden, so vernehmt, daß ich in diesem Falle Vertrauen für Vertrauen, daß ich die rückhaltlose Enthüllung Eures Angesichtes, Eures Namens, Eurer Verhältnisse fordern, ja daß ich dann, wenn mir noch Atem und Kraft dazu bleibt, eher mit dieser meiner Hand die Larve von Eurem Antlitz herabreißen, als dulden werde, daß die Ehre, das Gewissen, die Freiheit eines deutschen Mannes einem unbekannten Fremdlinge zum Spielzeug, ja vielleicht zum Werkzeug verbrecherischer Pläne diene!« – Auf diese mit Ernst und Nachdruck gesprochenen Worte erwiderte Ruggiero mit gleicher Schärfe der Betonung, daß er seinerzeit vollkommen bereit sein würde, ihm wie jedem andern, insofern nicht die Angelegenheiten dritter Personen dabei berührt würden, über seine Handlungsweise Rede zu stehen und entfernte sich hierauf, indem er die Tür des Gemaches, wie jene des Hauses sorgfältig hinter sich verschloß. Die Art und Weise seines Abschiedes von Heinrich Ilsung war indessen nicht geeignet, den geheimen Groll, der in seinem Herzen gegen diesen letzteren Wurzel gefaßt hatte, zu mindern oder abzuschwächen, und da die Unterredungen, die an den beiden nächstfolgenden Tagen zwischen ihm und seinem Gefangenen stattfanden, ihm nur zu deutlich zeigten, daß der junge Mann ihm mißtraue, und daß er es keineswegs mit einem so schwachen und unselbständigen Charakter zu tun habe, als er erwartet hatte, so gewann die Hindeutung Ambrosias auf die Gefahren, denen ein zu blindes Vertrauen auf die Nachgiebigkeit und Willfährigkeit seines Schützlings ihn aussetzen könnte, in seinen Augen in demselben Maße Gewicht und Nachdruck, als sein eifersüchtiger Groll gegen ihn zunahm und bei dem Wirrsal der Leidenschaft, die seine Seele verdunkelte, kam er allmählich zu dem Beschlusse, sich des Werkzeuges, sobald es seinen Zwecken gedient haben würde, kurzweg und für immer zu entledigen.


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