Friedrich Wilhelm Hackländer
Erlebtes. Erster Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Fünftes Kapitel

Von dem Innern einer Portier-Loge und was da merkwürdiges vorkommen kann

Es ist ein Winkel in jedem soliden Gasthof, nicht besonders schön gelegen, ebensowenig elegant möblirt, der aber nichts destoweniger unsere Beachtung ebenso gut verdient, wie ein Appartement in dem ersten Stock, ja noch viel mehr, weil letzteres oft Monate lang öde und leer daliegt, der gedachte Winkel aber stets bewohnt und belebt ist. Meistens befindet er sich neben dem großen Thor des Gasthofes, von welchem zu ihm eine Glasthür führt. Er ist eigentlich ein Zimmer, doch wird eine Wand gewöhnlich durch ein unverhältnißmäßig großes Fenster gebildet, welches die niedrige Decke kurzweg durchschneidet, sowie die andere Seite durch den Treppenwinkel. Das Ameublement dieses Zimmers ist nicht besonders reich. Es besteht aus einem kleinen Schreibpulte, auf welchem vorräthiges Papier liegt, damit die aus- und eingehenden Fremden sich die nöthigen Notizen machen können, und vor welchem der einzige Stuhl dieses Gemaches steht. An den Wänden, wenn so viel Platz da ist, hängen alte vergilbte Wandkarten, Eilwagen-Course, Eisenbahn-Tarife und Dampfboot-Tabellen. Auf dem Fenstergesims bemerkt man zuweilen, das heißt, hie und da in großen Gasthöfen, eine Reihe von Reisehandbüchern nach allen Ländern, in welchen man zum Gebrauche nachschlagen kann. Doch wenn man eines dieser Werke in die Hände nehmen will, findet man zu seiner großen Ueberraschung, daß der untere Deckel des Buchs auf dem Fensterbrette festgenagelt ist und sich dasselbe wohl öffnen, aber nicht mitnehmen läßt.

Das nothwendigste und bedeutendste Geräth im Zimmer aber ist das Bett des Portiers, welches sich mit der kühnen Hoffnung schmeichelt, man sehe es am Tage für eine riesenhafte Kommode oder für einen harmlosen Kasten an, denn so sieht es aus, wenn es gemacht ist. Aber es ist merkwürdig, ein solches Bettgestell, mag man ihm eine Form geben, welche man will; es kann seinen Inhalt nicht verleugnen, mag es nun als Kasten, als Kommode, als Schrank, als Sopha maskirt sein, es kichert dir freundlich zu und sagt: »Siehst du nicht, daß ich eigentlich ein Bett bin?« – Auch der Portier in seiner Loge thut das Uebermögliche, seinen Bettkasten während des Tags in einen Sopha umzuwandeln: er breitet eine Decke darüber, legt die Kissen hinauf, setzt sich mit guten Freunden auf diese Kissen, plaudernd und zeitungslesend. – Umsonst! das Bett läßt sich nicht wegleugnen, es ist da und bleibt da in seiner ganzen breiten Gestalt, und zum Ueberfluß schaut nicht selten ein Zipfel des Leintuchs oder eine Ecke des Ueberbetts vorwitzig ins Zimmer hinein.

Neben der Glasthüre befindet sich ein großes, schwarzes Brett mit Nummern bis zu 124, – wenn nämlich so viel Zimmer im Gasthofe sind – bestimmt, die verschiedenen Schlüssel dieser verschiedenen Zimmer aufzunehmen. Dies Schlüsselbrett in seinen mannigfachen Veränderungen zu studiren, ist nicht nur für den Portier außerordentlich wichtig, ja nothwendig, sondern auch für einen Unbefangenen sehr lehrreich. Der Portier wirft einen Blick auf die Tafel, und er sieht, wenn neue Gäste kommen, welche Zimmer noch frei sind.

Es ist ein einfaches Thema, aber verwendbar zu den mannigfachsten Variationen. Im Winter ist das Schlüsselbrett gewöhnlich öde und leer, da sind nur einige wenige Nummern besetzt: alte Pensionäre, Stammgäste, Handlungsreisende der verschiedensten Branchen, fast Alles Bewohner des dritten, ja vierten Stockes; aber wenn draußen der Schnee geschmolzen ist, wenn die Schneeglöckchen verblüht, die Veilchen etwas Alltägliches geworden – wir meinen die wirklichen, nicht die Gelbveilchen in zarten Minneliedern, diese sind sogar im Dezember nicht mehr zu ertragen – wenn also draußen in der Natur Alles grünt und blüht, wenn der Storch klappernd wiederkehrt, so fängt es auf dem Schlüsselbrette ebenfalls an zu klappern. Die leeren Nägel füllen sich an und mit denselben die öden Gänge und Treppen des Gasthofs. Der Portier, der den Winter über wie ein Murmelthier in seiner Höhle gesessen, dehnt sich und wird geschmeidig, und lebendige Kellner, die im Herbste urplötzlich verschwanden, erscheinen wieder in weißer Halsbinde und ewig lächelnden Gesichtern; arme Lohnbediente, die während des Winters unter Frost und Mangel verkümmerten, sproßen aus dem Boden, wie die Pilze, mit frohen Physiognomien, hoffnungsreichen Herzen und weiß gewaschenen Baumwollhandschuhen.

Und für all' dies Getreibe ist das Schlüsselbrett in der Portierloge das Zifferblatt einer richtig gehenden Uhr; je lebhafter der Verkehr in dem Hause ist, um so toller bewegen sich die Schlüssel, und nicht blos zeigt dieses Zifferblatt dem aufmerksamen Beschauer, ob alle Zimmer besetzt sind, und nicht blos liest er an Briefen und Karten, die dort hingesteckt werden, Namen und Charakter dieser Zimmerbewohner, o nicht blos das, sondern er ist bei einiger Beobachtungsgabe im Stande, von diesem Schlüsselbrett allerlei andere interessante Bemerkungen abzulesen.

Da sind zwei entfernte Zimmer, Nummer 24 und 64, und die Bewohner dieser beiden Zimmer, ein Herr und eine Dame, sah man an zwei verschiedenen Tagen von zwei verschiedenen Seiten ankommen. Auch scheinen sie sich durchaus nicht zu kennen, denn man sieht sie weder bei der table d'hôte, noch bei sonstigen Veranlassungen auch nur das kleinste Wort zusammen wechseln, und doch bemerkt der alte Portier, daß zwischen den beiden Schlüsseln eine eigenthümliche Sympathie herrscht. Kaum hängt Numero 24 an seinem Platz, – ein Zeichen, daß seine Besitzerin ausgegangen – so erscheint Numero 64 ebenfalls; verschwindet Numero 64 vom Schlüsselbrett, weil sein Eigenthümer zurückgekehrt, so wird fast in derselben Minute auch Numero 24 unsichtbar. Das dauert eine Zeit lang so fort, bis eines Abends Numero 64 verschwand, Numero 24 aber hängen blieb, obgleich der Zimmerkellner versicherte, er habe die Dame von Numero 24 nach Hause kommen sehen. Dieser Schlüssel machte dem Portier viel zu schaffen, denn er konnte lange nicht begreifen, weßhalb Numero 24 in dieser isolirten Stellung verharre, bis ihm endlich beim Auslöschen sämmtlicher Gaslichter im Hause, und nachdem er bemerkt, daß alle Lichter bis auf Numero 84 erloschen seien, ein außerordentliches Licht aufstieg, und er dadurch ins Klare kam, daß diese isolirte Stellung eigentlich keine isolirte Stellung war.

Ueberhaupt gibt das Schlüsselbrett zu Nacht Stoff zu den schönsten Betrachtungen, da die Heerde der ruhigen Reisenden und Staatsbürger heimgekehrt in die gasthöfliche Hürde, und doch sind die Schlüsselreihen noch verdächtig gelichtet. Eilf bis zwölf Uhr – es fehlen noch auf allen Stockwerken verlorene Schafe. – Ein bis zwei Uhr – fast alle Nägel sind leer, nur hie da befindet sich noch ein Schlüssel melancholisch allein hängend und gibt Zeugnis von dem unsoliden Lebenswandel seines zeitweiligen Besitzers. – Drei bis vier Uhr – es sind immer noch Schlüssel da – fünf bis sechs – der Portier hat eine unruhige Nacht gehabt, denn die übrig gebliebenen Schlüssel haben sich trauervolle Geschichten erzählt. Endlich kommt der Tag; die soliden Leute verlassen Bett und Zimmer, das Schlüsselbrett füllt sich auffallend schnell, und der Portier bemerkt, daß jetzt erst jene andern Schlüssel langsam verschwinden, zwischen ihren soliden Kameraden eine traurige moralische Lücke lassend.

Es hat mir von jeher außerordentliches Vergnügen gemacht, mich Abends, wenn ich in meinen Gasthof zurückkehrte und noch keine Neigung zum Schlafen verspürte, mit meinem Portier in ein Gespräch einzulassen, wo er mir die oben mitgetheilten Bemerkungen anvertraute. Da saßen wir bei einem Glase Punsch auf dem Bettkasten einträchtig neben einander, er hatte sein Glas auf die rechte Ecke gestellt, ich das meine auf die linke, und dabei rauchten wir gute Cigarren. Doch gelang es mir selten, ihn zu Mittheilungen aus dem Gasthofsleben zu bewegen: er verstand seine Stellung vollkommen und war im höchsten Grade discret. Wenn ich in ihn drang, mir die Geschichte dieses oder jenes räthselhaften Passagiers, der viel mit ihm verkehrt, anzuvertrauen, so schüttelte er seinen Kopf und meinte, das gienge nicht gut an. War er aber in solchen Stunden bei guter Laune, so gab er mir etwas Anderes zum Besten. Er hatte seinen großen Stock mit dem silbernen Knopf zwischen die Beine gestellt und sah mich bei seinen Erzählungen immer pfiffig lächelnd von der Seite an, als wolle er sagen: »Glaubst du mir auch? nimmst du auch Antheil an dem, was ich dir sage?« Oftmals waren diese Seitenblicke sehr verzeihlich, denn seine Erzählungen, wie zum Beispiel die des folgenden Kapitels streiften sehr an's Unglaubliche, und doch versicherte er hoch und theuer, sie sei vollkommen wahr, nicht das Geringste daran erfunden.


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