Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Während der Zeit bis zur Ankunft des Zuges, mit welchem Helene und Thomas eintreffen wollten, richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf, zu verhindern, daß die Jungen sich ihre neuen Sachen schmutzig machten; der Erfolg war jedoch ein so geringer, daß ich fast meine gute Laune dabei verlor. Erst waren sie nicht davon abzubringen, auf dem unteren Teile des Rasenplatzes, den die Sonne noch nicht erreicht hatte und der noch feucht war, zu spielen. Während ich dann einen Augenblick ins Haus ging, um mir ein Streichholz für meine Cigarre zu holen, benutzte Bob die Gelegenheit, um in seinen feuchten Schuhen auf die Mitte des Weges zu gehen, wo der Staub gerade am dicksten lag. Dann krochen sie auf allen Vieren in der Veranda herum und spielten »Bär.« Hierauf wollte jeder für seine Mutter ein Sträußchen pflücken, wobei Bob die Vorsicht anwandte, jede Blume einzeln zu beriechen und dabei seine Nase mit Lilienstaub so gelb machte, daß er aussah wie ein übel zugerichteter Faustkämpfer. Die Pausen wurden durch geistreiche Fragen ausgefüllt; so fragte Willy: »Onkel Heinrich, wie kommt es denn eigentlich, daß manche Leute in der Kirche keine Haare auf dem Kopfe haben?«

»Weil,« begann ich, – vorher mußte ich erst Bob wegen des Versuches, mir die Uhr aus der Tasche zu ziehen, einen stummen aber nachdrücklichen Verweis erteilen – »weil sie ruppige Schlingels von Buben haben, die ihnen nichts als Ärger machen, daher, fällt ihnen das Haar aus.«

»Dann fallt mir mein Haar auch bald aus, iß hab auch nißts als Ä'ger,« bemerkte Bob mit beleidigter Miene.

»Michel, schirren Sie die Pferde ein,« rief ich, da es nun bald Zeit wurde.

»Michel, die Ziege anspannen,« fügte Willy kategorisch hinzu.

Fünf Minuten später saß ich im Wagen. »Michel,« rief ich, »da fällt mir eben ein, daß ich Marie noch gar nicht befohlen habe, für ein Gabelfrühstück zu sorgen; laufen Sie doch schnell einmal hinein und erinnern Sie daran.«

»Gut,« erwiderte Michel und verschwand.

»Nun, Jungens, ist alles fertig?«

»Noch einen Augenblick, Onkel,« erwiderte Willy, »nur dies noch fest machen.« Dabei nestelte er am Zaumzeug der Ziege herum, nahm dann die Zügel in die Hand und rief:

»Jetzt kann's losgehen!«

»Halt, Willy,« intervenierte ich noch schnell, »lege nur die Peitsche weg und berühre ja nicht damit die Ziege, verstehst du? Ich werde ganz langsam fahren, wir haben noch sehr viel Zeit; du brauchst nur die Zügel ordentlich in den Händen zu halten.«

»Ja, ich möchte aber doch so gern wie ein großer Herr aussehen, wenn ich fahre.«

»Das kannst du ein andermal, wenn jemand nebenher geht; nun also los.«

Die Pferde setzten sich langsam in Bewegung, und die Ziege folgte ebenso. Als wir noch ungefähr eine Minute vom Bahnhof entfernt waren, kam der Zug in Sicht. Natürlich hatte ich Helene und Thomas auf dem Perron erwarten wollen, aber meine Uhr ging augenscheinlich nach. Ich ließ daher die Pferde scharf ausgreifen, sah mich um und erblickte zu meiner Beruhigung die Knaben dicht hinter mir. Als ich mich jedoch wieder nach vorn wandte, befand ich mich plötzlich so dicht vor dem hölzernen Bahnhofsschuppen, daß nur eine haarscharfe Wendung uns vor einem ernsten Unfall bewahren konnte. Die edlen Tiere sahen aber die Gefahr ebenso schnell und wendeten noch zur rechten Zeit in unglaublich kurzem Bogen. In demselben Augenblick vernahm ich einen heftigen Anprall gegen die Holzwand des Schuppens – gleich darauf zwei laut aufkreischende Stimmen und sah dann meine beiden Neffen auf den Perron über einander kugeln. Gleichzeitig erscholl die brummige Stimme eines Bahnhofskutschers:

»Ja, wie können Sie man aber ooch die Jungens det arme Ziegenvieh an die Eklapasche anknüppern lassen!«

Ich sah hin – und mußte dem Manne recht geben. Wie die Ziege es fertig gebracht hatte, ihre Halswirbel während der Fahrt in normalem Zustande zu erhalten, ist mir noch heute unerklärlich. Es blieb mir indeß keine Zeit, weitere Betrachtungen über dieses naturwissenschaftliche Phänomen anzustellen, meine Sorge galt zunächst den Jungen. Zum Glück hatten sie den Stoß mit dem Kopfe aufgefangen – die Lawrence-Burton'schen Schädel sind von äußerst solider Bauart. Rasch stellte ich sie wieder auf die Füße, klopfte sie ab, versprach ihnen so viel Bonbons, daß sie für eine Woche genug hatten wischte ihnen die Augen aus und eilte mit ihnen auf die andere Seite des Bahnhofs. Willy entdeckte seinen Vater zuerst, lief auf ihn zu und schrie:

»Papa, Papa, sieh doch meinen Ziegenbock.«

Helene breitete ihre Arme aus, Bob warf sich an ihre Brust und jammerte:

»Mama, Mama! Sing, sing: ›Sind Fißlein tomnen.‹«

Wie ein Mensch sich in Gesellschaft einer zärtlich geliebten Schwester und eines vortrefflichen Schwagers befinden und sich doch sehr unbehaglich fühlen kann, das sollte ich auf der kurzen Heimfahrt empfinden; fühlte ich mich doch beiden gegenüber wegen des den Jungen zugestoßenen Unfalls recht schuldbewußt und konnte den fatalen Gedanken, mich meiner Verantwortlichkeit nicht ganz gewachsen gezeigt zu haben, gar nicht los werden. Helene war wegen der Kinder allerdings besorgt, aber sie fand doch Zeit, mich mit so viel Mitgefühl, Schelmerei und Zärtlichkeit anzusehen, daß mir endlich wieder warm ums Herz wurde. Zu Hause angelangt, zog ich mich schleunigst auf mein Zimmer zurück, aber noch hatte ich die Thür nicht geschlossen, als Helene hereinstürmte und ihre Arme um meinen Hals warf. Als das liebe, gute Wesen mich wieder verließ, standen wir uns innerlich näher denn je zuvor.

Und wie schön verlief erst der Rest des Tages! Wir nahmen ein exquisites zweites Frühstück ein; Thomas stieg »eigenhändig« in seinen Keller hinab, um mit einigen Wittwen Cliquot im Arme zurück zu kehren, und Helene hatte sogar nichts dagegen, daß ihre schönsten geschliffenen Kristallgläser hervorgeholt wurden. Dann wurden Toaste ausgebracht auf »sie« und »ihre Mutter« und auf den »glücklichen Bräutigam,« und Helene konnte es sich in ihrem mütterlichen Stolze nicht versagen die »Stifter der Partie,« Willy und Bob in schwunghafter Rede zu feiern. Diese Herren antworteten zwar nicht, aber sie schauten so seltsam verwundert drein, daß ich von meinem Stuhle aufsprang und sie herzhaft küßte, worauf sich Thomas und Helene bedeutungsvolle Blicke zuwarfen.

Dann ging Helene zu Klarksons herunter, um einer der dortigen jungen Damen bei der Änderung eines Kleides mit Rat und That zur Seite zu stehen und ihr über eine »reizende« neue Toilette, die sie jüngst gesehen, zu berichten. Alice begleitete sie dann zur Gartenthür, um sich nochmals zu verabschieden; sie hatten sich aber so viel zu sagen, daß sie – natürlich ganz ohne es zu merken – bis zu Thomas' Hause kamen. Hier konnte man sie doch nicht wieder fortgehen lassen; sie mußte auf »einige Minuten« eintreten. Und dann wurde Michel mit einem Billet an Frau Mayton geschickt, welches ihr mitteilte, daß ihre Tochter zum Essen bei uns bleiben müßte, gegen abend aber unter sicherer Bedeckung wieder zurückgebracht würde. Nachdem dann gespeist worden und die Kinder im Bett waren, erklärte Thomas seufzend, daß er einer »Sitzung« beiwohnen müßte, und Helene bat uns, sie einen Augenblick zu entschuldigen, sie müsse zum Doctor gehen und sich erkundigen, wie es dem armen Fräulein Brown gehe, und dazu brauchte sie drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten! Die lieben, guten Menschen!

Der drohende Ablauf meiner Ferienzeit brachte mir nicht so viel Trennungsschmerz, wie ich gefürchtet hatte. Helene fragte mich eines Abends, warum, wenn ihr armer, guter Thomas jeden Tag in die Stadt hinein und wieder zurückfahre, denn nicht auch ihr fauler, langer Bruder dasselbe thun könnte, wenn sie geneigt wäre, ihn bis zum Winter bei sich zu behalten. Obwohl ich früher immer darüber geschimpft hatte, wenn Städter in den Vororten wohnten und täglich auf der Bahn herumliegen müßten, fügte ich mich doch widerstandslos der Beweisführung meiner Schwester. Ich that sogar noch mehr, ich kaufte nämlich in Hillcrest ein hübsches Grundstück; der Kaufkontrakt enthielt freilich zunächst nur Thomas' Namen. Auf dem Tische unseres Wohnzimmers lagen jeden Abend Pläne von Landhäusern, und um diesen Tisch saßen vier Leute, darunter ein Kaufmann und eine junge Dame, in deren Augen es von Glückseligkeit und Daseinsfreude leuchtete. Die letztgenannte junge Dame war mit keinem dieser Pläne ganz zufrieden, da in allen ein Zimmer für Willy und Bob fehlte, ein Zimmer, in dem sie unumschränkt herrschen sollten. Da diese beiden Herren noch sehr jung sind, habe ich oft Veranlassung, furchtbar eifersüchtig auf sie zu sein; sie lassen sich aber durch mein Stirnrunzeln und meine Standreden durchaus nicht rühren, denn die kleinen Schlaumeier fühlen instinktiv, daß sie an Helene einen starken Rückhalt haben; zwar schwebt drohend das Gespenst des Pantoffels vor meinem geistigen Auge, aber ich bin wirklich machtlos. Nur List ist im stande, sie davon abzuhalten, daß sie die ganze Zeit eines anbetungswürdigen Wesens, dessen Gesellschaft ich nicht lange und oft genug genießen kann, ausschließlich für sich in Anspruch nehmen. Sie besteht darauf, daß, wenn die Trauung im December stattfinden soll, die »kleinen Rangen« Brautführer sein müssen, und ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß sie ihren Willen durchsetzt. Ich muß übrigens offen gestehen, daß auch ich in die Jungen vernarrt bin, und wenn ich schlafen gehe ohne sie erst in ihrem Zimmer aufgesucht und einen dankbaren Kuß auf ihre unschuldigen Lippen gedrückt zu haben, so wirft mir mein Gewissen stets schwärzesten Undank vor, und wenn ich mir vorstelle, daß ich ohne sie vielleicht noch ein hoffnungsloser Junggeselle wäre, dann fließt mein Herz über in schrankenloser Dankbarkeit gegen Helenens Kinderchen.

.


 << zurück