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Zweites Kapitel

Es war eine herrliche Nacht. Die reine, frische Luft, der Wohlgeruch der Blumen, die Musik des Insektenchors in den Bäumen und Sträuchern, kurz die ganze schöne Jahreszeit schien sich gegen meine philosophischen Studien zu verschwören, und so legte ich denn Fiske beiseite und erquickte mich an einigen Gedichten aus Paul Haynes neuestem Werk, las einige Kapitel aus »Ein Sommer« und ging schließlich langsam zu Bett. Meine Neffen schlummerten süß; es schien mir garnicht möglich, daß diese beiden reinen, zarten Engelsgesichtchen vor mir meinen heutigen Quälgeistern gehörten. Als ich auf meinem Bette lag, konnte ich die dunkelen Schatten und den schroffen Kamm des Gebirges sehen; darüber standen die silbernen Sternlein am blauen Himmel. Kein Wagengerassel störte mich, nichts von jenen tausend Geräuschen, welche die Luft der Stadt mit dem Geist der Unruhe erfüllen, war zu hören, und ich konnte mich garnicht genug wundern und war fast entrüstet darüber, wie fühlende, die Bequemlichkeit liebende Wesen in dem schrecklichen New-York leben konnten, während so herrliche ländliche Wohnungen ganz in der Nähe waren. Dann kam mir Alice Mayton in den Sinn und dann wieder ein Kunde; später Sterne und Fabrikmarken, Bouquets und schmutzige Neffen, zuletzt vermischten sich Eisenbahn-Billets, Bonbons und Herbert Spencer konfuse in meinen Gedanken. Dann erschien mir ein stolzer Engel im elegantesten Kleide und in einer modernen Equipage, der alle diese Bilder mit seinem Glanze verscheuchte. Eben wollte ich in die glückseligste Bewußtlosigkeit versinken, da – – –

»Ah – h – h – h – h – oo – oo – oo – ee – ee.«

»St! St!« rief ich.

Die Warnung fand Beachtung und ich fiel bald wieder in einen traumähnlichen Zustand.

»Ah – h – h – oo – ee – ee.«

»Bob, willst du vom Onkel Prügel haben?«

»Nein.«

»Dann sei still.«

»Is mein Puppe verloren haben un tann nis wiederfinden.«

»Ich werde sie dir morgen suchen helfen.«

»Aber – is mößt' mein Puppe haben ah – o.«

»Ich kann sie dir doch jetzt nicht geben, schlaf doch endlich ein.«

»Ah – ah – uu – u – oo – oo.«

Fuchswild sprang ich auf und eilte in das Zimmer des Schlingels. Unterwegs machte meine Stirn noch höchst unangenehme Bekanntschaft mit der offen gebliebenen Thüre. Zähneknirschend vor Schmerz und Wuth zündete ich ein Licht an und es entfuhr dabei meinem Mund nicht gerade ein Segenswunsch – ich will es lieber nicht wiederholen.

»Aber, Ontel, pfui du hast deflucht; nu tommst du nis in Himmel, wenn du stirbst.«

»Du auch nicht, mein Sohn, wenn du die ganze Nacht wie ein Kettenhund heulst. Willst du wohl ruhig sein, du Schlingel!«

»Sa a – a, möst' aber mein Puppe haben.

»Wie soll ich denn wissen, wo deine Puppe ist. Bildest du dir etwa ein, daß ich das ganze Haus nach dem verflixten Ding durchsuchen werde?«

»Is nis derfixt. Möst mei Puppe haben ah – ah!«

»Ich weiß aber doch nicht, wo sie ist. Glaubst du etwa, ich habe sie gestohlen?«

»Ich mößt mei Puppe haben, hier bei mis in Bett.«

»Robert,« sagte ich, »wenn du morgen aufstehst, wird sich hoffentlich dein Püppchen finden. Jetzt mußt du aber darauf verzichten und endlich schlafen. Onkel deckt dich auch recht hübsch zu.« Damit begann ich das Bett wieder in Ordnung zu bringen, und siehe da! die verhängnisvolle Puppe, die Quelle aller meiner Leiden, fiel mir dabei entgegen. Bob drückte sie an sein Herz, sein ganzes Gesicht leuchtete vor Entzücken, und er rief freudestrahlend:

»O, da is sa wieder meine liebe dute Puppe, tomm zu deinen Papa. Papa will dis lieb haben!«

Und das närrische Kind sah so entzückt aus, daß ich meinen Ärger vergaß und es mit dem Behagen des Künstlers beobachtete. Doch auch des schönsten Bildes wird man endlich überdrüssig, besonders wenn man mitten aus dem Schlaf gerissen ist und mit einem Stearinlicht im heftigsten Zug steht. So deckte ich denn meine Neffen noch einmal sorgsam zu und ging wieder in mein Zimmer, wo ich über die Widersprüche der Kinderseele nachdachte, bis ich einschlief.

Am nächsten Morgen wurde ich sehr früh durch das Tageslicht geweckt, dessen Schein ungehindert ins Zimmer flutete, da ich die Vorhänge am Abend vorher nicht heruntergelassen hatte; die Luft erklang von Vogelgezwitscher und der Himmel war im Osten mit Farbentönen überflutet, wie sie kein Maler hervorbringen kann. Morgenröte ist aber kein geeignetes Beobachtungsobjekt für jemand, der bis gegen Mitternacht gelesen hat. So ließ ich schnell die Vorhänge herunter, legte mich wieder hin und freute mich, daß ich unter dem Gesang der Vögel wieder einschlafen konnte. Mir war so wohl wie nie, als ich wieder in einen köstlichen Schlummer versank. Plötzlich fuhr jedoch eine weiche Hand über meine Backe und brachte mich in die rauhe Wirklichkeit zurück. Ich fuhr auf und sah, wie Willy scheu von meinem Bett zurückwich.

»Ich wollte dich nur einmal ein bißchen lieb haben, du warst so gut und schenktest uns Bonbons; Papa dürfen wir immer lieb haben, wenn wir wollen, er erlaubt es uns jeden Morgen.«

»Auch so früh wie heute?« fragte ich.

»Ja, sobald es hell wird.«

Armer Thomas! Ich hatte nie begreifen können, wie er mit einem so prächtigen Frauchen, einem hübschen Einkommen und einem reinen Gewissen, immer so dünn und mager aussehen konnte, schlechter, als wenn er in den virginischen Wäldern oder in den Sümpfen von Louisiana lebte. Jetzt wurde mir alles klar! Was war aber zu machen? Die Augen, die Stimme, das ganze Gesichtchen dieses Kindes, das einem Engelsköpfchen anzugehören schien, hätten einem Manne mehr Selbstverleugnung abgeschmeichelt, als der Verzicht auf einen köstlichen Morgenschlaf bedeutete. In der That war meine Schläfrigkeit bald verscheucht; ich küßte ihn und sagte:

»So! Gehe nur wieder ins Bett, alter Junge, und laß Onkel noch etwas schlafen. Nach dem Frühstück mache ich dir eine Pfeife.«

»O wirklich?« Der Engel verwandelte sich wieder in einen recht irdischen Jungen.

»Ja, nun mach aber, daß du fort kommst.«

»Eine ganz laute Pfeife, eine die recht viel Lärm macht?«

»Ja, aber nur, wenn du jetzt gleich ins Bett gehst.«

Das Geräusch hätschelnder Fußtritte entfernte sich; ich drehte mich wieder um und schloß die Augen. Der Vogelgesang wurde wieder leiser und leiser; meine Gedanken verirrten sich; es war mir, als schwebte ich auf Lämmerwölkchen und hundert Engel, die alle Willys Gesichtchen und Nachtkittelchen trugen – –

»Onkel Heiiinriiich!«

Der Himmel vergebe mir, was ich in diesem Augenblick zu ihm emporsandte; ein Gebet war es nicht!

»Onkel Heinrich!«

»Na warte, dir werd' ich kommen, mein Junge,« dachte ich. Schrei meinetwegen so viel du willst, und wenn auch deine Lungen dabei kaput gehen sollten; das ist besser, als wenn du deinen Onkel quälst, der dich eben noch von Herzen lieb gewinnen wollte.«

»Onkel Heinrich!«

»Heule nur weiter, du kleine Range,« dachte ich, »du hast mich jetzt ganz wach gemacht, deine Lungen mögen nun dafür büßen.«

Da plötzlich ertönten langsam, schläfrig, wie im Traum die schrecklichen Worte:

»Will die 'äder 'umlaufen sehen.«

»Willy,« rief ich in namenloser Angst, daß der andere Junge nun auch noch aufwachte, »was willst du denn?«

»Onkel Heini, aus was für Holz willst du denn die Pfeife machen?«

»Ich mache dir überhaupt keine, sondern schneide einen dicken Stock, wenn du nicht augenblicklich ruhig bist, wie ich dir sagte.«

»Aber Onkel Heinrich, Papa schlägt uns nie mit einem Stock, er nimmt nur die Rute.«

»Himmel! Papa! Papa! Papa! Und immer wieder Papa! Konnte ich denn wirklich nichts sagen, ohne etwas vom Papa zu hören? Zu meiner Beschämung bemerkte ich, wie ich allmählich einen furchtbaren Haß auf meinen trefflichen Schwager zu werfen begann. Eins war indessen auf jeden Fall gewiß, mit dem Schlafen war es nun vorbei. Ich zog mich daher schnell an und ging in den Garten.

Der prächtige Morgen mit seiner erquickenden Taufrische und dem balsamischen Wohlgeruch der Blumen gab mir bald meine gute Laune wieder und ich empfand eine wohlthuende Schadenfreude, als mir Willy beim Frühstück vorwurfsvoll entgegenrief:

»Wo warst du denn, Onkel Heinrich? Wir haben dich überall gesucht und konnten dich nirgends finden.«

Das Frühstück war vorzüglich. Ich erfuhr nachher, daß Helene, die gute alte Seele, selbst den Küchenzettel für jede Mahlzeit aufgesetzt hatte, die ich in ihrem Hause einnehmen würde. Da die Unterhaltung zwischen mir und meinen Neffen nicht derart war, daß sie Diskretion erforderte, bat ich Marie, die Kleinen beim Essen zu bedienen und begleitete meine Bitte mit einem kleinen Trinkgelde. Da ich so der Sorgen um die Befriedigung des schrecklichen Appetits meiner beiden Neffen enthoben war, ließ ich dem Frühstück volle Gerechtigkeit widerfahren, und beobachtete dabei mit Vergnügen und Interesse die emsige Thätigkeit, mit welcher Willy und Bob ihre kleinen Gabeln und Löffel hantierten. Eine Zeitlang aßen sie schnell, dann ließ ihr Appetit nach, und ihre Zungen begannen sich wieder zu lösen:

»Ontel Heini,« sagte Bob, »da oben is ein fuchbar doßer Toffer, soll is ihn dir nach dem Fühstück mal zeigen?«

»Bob ist doch zu dumm,« bemerkte Willy überlegen, »er sagt immer Fühstück.«

»Was meint er denn mit Toffer, Willy?«

»Ich glaube, er meint Koffer,« erwiderte mein ältester Neffe.

Erinnerungen an das Entzücken, welches ich selbst als Kind bei dem Durchstöbern alter Kisten und Koffer gehabt hatte, ließen mich verständnißvoll auf Bob blicken. Wie entzückend ist es doch, eine sympathische Seite in dem kindlichen Gemüte zu berühren, dachte ich; wie schnell begriff das kindliche Auge den Blick, der dem Ausdruck eines Gedankens in Worten vorausgeht! Guter Bob! Jahre hindurch könnten wir an demselben Tische sitzen und bedürften der Worte nicht! Die zufällige Erwähnung eines Hauptvergnügens von dir hat unsere Seelen in die innigste Verbindung gebracht, die zwischen Menschen bestehen kann. »Der fuchbare Toffer« schien mit einem Male alle Unterschiede des Alters und der Erfahrung zwischen dem schwachen Knaben und mir, dem alten Junggesellen, zu verwischen.

Da durchzuckte mich ein schrecklicher Gedanke! Ich stürzte nach oben in mein Zimmer. Ja wirklich, er meinte meinen Koffer. Ich sah an demselben allerdings etwas »Fuchbares.« Das Band der Seelen-Sympathie zwischen meinem Neffen und mir war plötzlich zerrissen. Jetzt, wo ich die Sache aus der Entfernung betrachte, sehe ich ein, daß ich damals nicht imstande war, die Scene vor mir mit Ruhe und vorurteilsfreiem Urteile zu betrachten. Ich bin jetzt überzeugt, daß das plötzliche Entstehen und das ebenso schnelle Schwinden meiner Sympathie für Bob schlagende Beispiele für die menschliche Unbeständigkeit waren. Meine Seele hatte sich ihm genähert, weil er gern alte Koffer und Kisten durchstöberte, weil ich mir einbildete, sein Herz finde an dem bunten Durcheinander derselben Freude. Die Scene vor mir bewies mir klar, daß ich das Gemüt meines Neffen richtig erkannt hatte. Und doch drängten mich egoistische Motive, die Vision, die meine Seele erfüllt hatte, zu verscheuchen und jene Freude zu verhindern, welche entsteht, wenn Glauben sich in Schauen verwandelt.

Mein Koffer hatte alles mögliche enthalten, da ich das Packen fast zu einer Wissenschaft ausgebildet hatte. Ich sah das tolle Durcheinander vor mir mit einem gewissen Stolze an, denn es schien fast unmöglich, als sei dies alles in einem einzigen Koffer gewesen. – Bob war allem Anschein nach mehr Kenner als Liebhaber im Packen. Seine Methode erkannte ich sofort, und diese Entdeckung warf einiges Licht auf den Zustand der tausend Sachen, die bei dem Koffer lagen. Ein Cylinder war aus dem Futteral gezogen und nahm doppelt so viel Platz ein wie vorher; dafür hatten allerdings eine Wichsschachtel und einige mit Rum getränkte Cigarren in dem Hute Platz gefunden. Ebenso war es meinem Toilettenkasten ergangen, den mir ein Freund in Wien gekauft hatte. Die Riemen, welche den Deckel am Hintenüberfallen hindern sollten, waren durchschnitten, zerrissen oder sonstwie durchbohrt; in dem Kasten lag mein Leibrock, ganz fest zusammengerollt. Wütend riß ich ihn auseinander und mir entgegen fiel – eine jener höllischen Puppen. Gleichzeitig hörte ich ein Zetergeschrei von der Thür her.

»Du hast mein Püppßen aus seiner Wiede denehmt, is will mein Püppßen eien – oo – oo – oo.«

»Du nichtsnutziger Schlingel!« brüllte ich ihn wütend an. »Den Hals möchte ich dir umdrehen! Wie konntest du dich unterstehen, meinen Koffer zu durchwühlen?«

»Is – is – weiß niß!« Bobs Unterlippe kehrte ihr Innerstes heraus; ich glaube, der Anblick hätte einem bengalischen Tiger Mitleid abgezwungen, ich aber blieb ungerührt.

»Warum hast du das gethan?«

»Weil – weil –«

»Nun? Weil?«

»Is – is – weiß niß.«

Da tönte vom Garten her ein fürchterliches Geheul. Als ich hinaus sah, bemerkte ich Willy mit einem blutenden Finger an der einen und einem Rasiermesser in der andern Hand, schluchzend erklärte er nachher, er habe sich ein Boot gemacht, und das alte, dumme Messer habe ihn geschnitten. In der nächsten Minute war der Schnitt mit Heftpflaster verklebt, und diese wundärztliche Operation war kaum beendigt, als der Gärtner-Kutscher meines Schwagers erschien und mir einen Brief einhändigte. Er war von Helenens mir wohlbekannter Hand adressiert und lautete wie folgt. (Die Stellen in Paranthese sind meine eigenen Randbemerkungen.)

 

»Bloomdale, den 21. Juni 1875.

Lieber Heinrich! Der Gedanke, daß Du bei meinen lieben Kindern bist, macht mich sehr glücklich, und obgleich es mir hier so gut geht, wünschte ich oft, ich wäre bei Euch (Ich auch.) Es freut mich, daß Du die kleinen, prächtigen Kerlchen einmal gründlich kennen lernst. (Danke bestens, ich glaube aber, daß ich die Bekanntschaft nicht weiter ausdehnen werde, als unumgänglich nötig ist.) Es erscheint mir immer ganz unnatürlich, wenn Verwandte ihr Fleisch und Blut so wenig kennen, besonders die kleinen unschuldigen Wesen, deren Dasein sich so ganz unbemerkt entwickelt. (Wenn aber irgendwo ein offener Koffer steht, trifft das doch nicht so ganz zu, liebe Schwester!)

Dann möchte ich Dich um etwas bitten. Als wir Kinder noch zu Hause waren, hieltest Du immer lange Reden über Physiologie, Phrenologie und andere untrügliche Zeichen der Charakterbildung. Ich hielt dies damals alles für Unsinn; wenn Du aber noch daran glaubst, möchte ich Dich bitten, daß Du meine lieben Kleinen studierst und mir Deine Ansichten über sie mitteilst. (Vollkommene Teufel, Schlingel, Rangen, die beide wert sind, gehängt zu werden.)

Ich kann das Gefühl nicht los werden, daß der liebe Willy zu etwas Großem geboren ist. Er ist bisweilen so gedankenvoll, so weltvergessen, daß ich mich fast scheue, ihn zu stören. Er hat die Gabe der Beharrlichkeit, durch welche allein so viele Männer groß geworden sind. (Die hat er sicher, er gab mir heute morgen ein Beispiel davon, als ich schlafen wollte.)

Bob wird gewiß einmal ein Dichter oder ein Musiker oder ein Künstler. (Natürlich: alle Taugenichtse treiben irgend eine Kunst, um eine Entschuldigung für ihre Bummelei zu haben.) Seine Phantasie ist übermächtig. (Gewiß: »dern 'äber 'umlaufen sehen.«) Er hat nicht Willys erhabenen Ernst, aber er braucht ihn auch nicht; die unwiderstehliche Gewalt, mit der er sich zu allem hingezogen fühlt, was schön ist, ersetzt den Mangel. (Aha, das erklärt vielleicht sein Attentat auf meinen Koffer!) Aber ich brauche Deine eigne Meinung, denn ich traue Dir bei Charakterstudien einen größeren Scharfblick zu.

Ich freue mich sehr bei dem Gedanken, daß ich es bin, die Dir dazu verholfen hat, in diesen Ferien einmal recht ungestört lesen zu können, was Du gewiß bereits gethan haben wirst; und ich hoffe, daß Du mir bald eine Zeile über das Befinden meiner Lieblinge schreibst.

Deine Dich liebende Schwester
Helene.«

 

Selten hatte mir ein Brief so großen Spaß gemacht wie dieser und ich versprach mir einen großen Genuß von seiner Erwiderung. Ich nahm mir vor, die Antwort sollte ein Meisterstück ruhigen, kühlen Urteils sein und doch an Deutlichkeit und Klarheit des Ausdrucks nichts zu wünschen übrig lassen.

In einer Sache war ich jedoch auf jeden Fall fest entschlossen. Ich rief das Mädchen und fragte sie, wo der Schlüssel wäre, der die Thür zwischen den Kindern und mir schloß.

»Den hat Bob in den Brunnen fallen lassen, Herr Burton.«

»Wohnt hier im Dorfe ein Schlosser?«

»Nein, Herr Burton; der nächste wohnt in Paterson.«

»Haben Sie keinen Schraubenzieher im Hause?«

»Ja.«

»Bringen Sie ihn mir und sagen Sie dem Kutscher, er soll sich bereit halten, mich nach Paterson zu fahren.«

Der Schraubenzieher wurde gebracht; ich nahm das Schloß ab, stieg in den Wagen und befahl dem Kutscher, mich nach Paterson zu fahren.

»Nach Paterson!« lief Willy, »da ist ja ein Bonbonladen! Komm schnell, Bob!«

»So?« dachte ich, ergriff die Peitsche und gab den Pferden einen Hieb – »da habe ich doch auch noch ein Wörtchen mitzureden!«

Die Pferde jagten davon – da ertönte ein gellender, markerschütternder Schrei, ein entsetzliches Geheul. Es konnte nicht anders sein, die Kinder mußten sich tötlich verletzt haben. Ich sah mich hastig um – nur um zu bemerken, wie Willy und Bob wie wahnsinnig hinter dem Wagen her rannten und aus Leibeskräften brüllten.

Es klang zu kläglich, zu jammervoll – wahrhaftig, selbst wenn sie die Blattern gehabt hatten, ich hätte sie nicht zurücklassen können. Der Kutscher hielt auch schon aus eignem Antriebe, er schien die Taktik der Bengel und ihr Endresultat schon zu kennen, und ich half Willy und Bob beim Einsteigen, wobei ich demütig hoffte, daß der liebe Gott mir diese That der Selbstverleugnung einstens besonders hoch anrechnen würde. Als wir den herrlichen Bergweg nach Paterson erreichten, wurde mein Herz schon wieder freundlicher gestimmt gegen meine Neffen, denn die Aussicht vor uns war entzückend schön. Die Luft war völlig klar, und in der Ferne sah ich die Hauptstadt selbst, jenseits derselben Greenwood, die Bai, die Meerenge, den Sund, die beiden Silberflüsse, die zwischen uns und den Pallisaden sich hinschlängelten, und ganz im Süden von Broocklyn den Ocean. Wundervolle Wirkungen von Licht und Schatten konnte ich da beobachten, malerische Massen erschienen, die sich aus so weit entfernten Gebäuden zusammensetzten, daß es schien, als seien dieselben durcheinander geworfen. Eintönige Fabriken sahen durch den blendenden Reflex des Sonnenlichtes an den Fensterscheiben wie Paläste aus; große Segelschiffe in der Ferne glichen Kinderspielzeug. Kein Lebenszeichen war bemerkbar, die ganze Scenerie erinnerte mich lebhaft an die schönen Märchen, die ich in meiner Jugend von verzauberten Städten gelesen hatte, und die Täuschung wurde durch das drachenartige Aussehen des neuen Postamtes in New-York, das gerade in der Mitte lag und das Ganze zu beherrschen schien, noch vermehrt.

»Onkel Heinrich!«

O Gott, das war es, was ich fürchtete!

»Onkel Heinrich!«

»Nun, was giebt's Willy?«

»Das ist eigentlich gerade wie im Himmel.«

»Was meinst du denn?«

»Nun, alles, was wir vor uns sehen, und dann auch der andere Himmelsweg hinter uns. Und da, sieh nur Onkel (er deutete auf einen funkelnden Punkt vor uns, welchen ich für das von der Sonne beschienene Dach eines Photographen hielt) da wohnt gewiß der liebe Gott.«

Das liebe, gute Kind! In mir hatte die Scene vor mir nur Gedanken an Zaubermärchen hervorgerufen, und ich bildete mir doch auf meine künstlerische Empfindung etwas ein.

»Und da oben, wo der zackige, glänzende Fleck ist,« fuhr Willy fort, »da ist mein lieber Bruder Philly. Wenn ich genau, hingucke, sehe ich, wie er uns die Hand entgegenstreckt.«

»Onkel Heini, tleiner Phillybruder, muß in d'oßen Tasten slafen, un der liebe Dott hat ihn in den Himmel denehmt,« sagte Bob, indem er alles durcheinander brachte, was er vom Sterben gesehen und gehört hatte. Dann erhob er seine Stimme und bemerkte:

»Onkel Heini, wenn iß ein d'oßer Mann, weist, was iß denn machen thue? Iß mir nehme d'oße Hottehüpferde und einen Hottewagen und fahre über danze Welt, über alle Bäume und alle Häuser und über alles. Und dann tommen all die tleinen Piepmätzchen in meinen Hottewagen. Und du tannst auch ein tlein wenig einteigen, und wir essen Eis und Erdbeeren und sehen die tleinen Fisse im Wasser swimmen un triegen ein d'oßes Haus, un das is wunderßöhn.«

»Du bist ein kleiner Schwärmer, Bob.«

»Nein, bin tein Swärmer.«

»Bob ist ein richtiger Grünschnabel,« bemerkte Willy mit Überlegenheit. »Onkel Heinrich, glaubst du, daß es im Himmel ebenso hübsch ist, wie hier vor uns?«

»Ja, Willy, noch viel hübscher.«

»Dann möchte ich am liebsten gleich sterben. Ich mag garnicht immer zu leben. Warum sterben wir denn noch nicht? Wir haben doch schon so viele Tage gelebt.«

»Gott will, wir sollen so lange leben, bis wir gut, stark und klug geworden sind, und dann sollen wir noch recht viel Gutes thun, ehe wir sterben, alter Junge; deshalb sterben wir noch nicht gleich.«

»Ja, ich möcht' aber so gern den Philly mal sehen, und wenn der liebe Gott ihn nicht herunterkommen läßt, könnte er mich doch sterben lassen. Klein Philly lachte immer so vergnügt, wenn ich ihm was vortanzte. Haben denn die Engel wirklich Flügel, Onkel Heinrich?«

»Viele Leute glauben das, lieber Junge.«

»Na, ich glaube es nicht; denn wenn Philly Flügel hätte, wäre er längst einmal zu uns geflogen.«

»Er hat aber vielleicht etwas anderes zu thun, oder du kannst ihn nicht sehen, wenn er kommt. Wir können die Engel eben mit unseren Augen nicht sehen!«

»Wie konnten denn aber die Männer im feurigen Ofen sie sehen? Die hatten doch eben solche Augen wie wir? Ich möchte den kleinen Philly fürchterlich gern sehen. Onkel Heinrich, weißt du, was ich mache, wenn ich in den Himmel komme?«

»Na, was denn?«

»Zuerst geh' ich zum kleinen Philly, dann lauf' ich zum lieben Gott und gebe ihm einen tüchtigen Kuß.«

»Warum denn, Willy?«

»Er läßt uns so gute Tage leben, schenkte mir Mama, Papa und Philly, aber Philly hat er freilich auch wieder fortgenommen und Bob, der ist manchmal ein furchtbar ungezogener Junge.«

»Sehr wahr,« sagte ich und dachte dabei an meinen Koffer und die Ursache dieser Spazierfahrt.

»Onkel Heinrich, hast du den lieben Gott mal gesehen?«

»Nein, Willy; er ist mir oft sehr nahe gewesen, aber gesehen habe ich ihn niemals.«

»Nicht? Ich hab' ihn aber gesehen, ich seh' ihn immer, wenn ich ganz allein bin und in den Himmel gucke.«

Hier drehte sich der Kutscher um und flüsterte: »Das sagt er immer, und weiß Gott, dem glaub' ich's auch. Wenn der Junge mal so ins Sprechen kommt, so könnte man manchmal meinen, einen Heiligen reden zu hören.«

Es war wunderbar. Willys Antlitz schien von überirdischer Reinheit, als er fortfuhr, seine Gedanken über das Jenseits und seine Bewohner auszusprechen. Bobs Zunge war indessen auch unaufhörlich in Bewegung, obgleich seine kleine Stimme kaum zu hören war. Was ich jedoch von seinem Geplauder auffing, klang so komisch und phantastisch, daß ich ihn auf den Schoß nahm, um mehr zu hören. Ich unterzog dabei den beabsichtigten Brief an Helene in seinem Gedankengange einer genauen Prüfung und schämte mich jetzt desselben. Aber weder Bobs Phantasie noch Willys Himmelsgedanken veranlaßten mich, den Hauptzweck meiner Fahrt zu vergessen. Ich fand auch einen Schlosser und ließ zu dem mitgebrachten Schloß einen Schlüssel machen; dann fuhren wir weiter bis zum Wasserfall. Jeder der beiden Knaben hatte einen Haufen Fragen auf dem Herzen und suchte sich Erleichterung zu verschaffen, während wir an dem Schlund standen. Der Umstand, daß das Geräusch des Wasserfalls mich ihre tausend Fragen nicht verstehen ließ, hinderte ihren Redefluß nicht im geringsten. Ich ging dann mit den Kindern nach dem Hotel, um mir eine Cigarre zu kaufen. Während ich mir eine auswählte und anzündete und mich gleichzeitig bei dem Kellner über den Wasserfall erkundigte, konnten kaum drei Minuten vergangen sein. Als ich mich aber umwandte, waren die Kinder verschwunden; ich konnte sie nirgends erblicken. Ängstlich ließ ich meine Blicke hin und her schweifen, bis meine Augen am Rand der Schlucht zwei gelbe Punkte entdeckten, in denen ich die Hüte meiner Neffen erkannte; zwischen diesen beiden Scheiben sah ich zwei kleine menschliche Körper, die flach ausgestreckt auf der Erde lagen. Ich wagte nicht, sie anzurufen, aus Furcht sie zu erschrecken, wenn sie mich hörten. Rasch, aber behutsam sprang ich über den Rasen, bald fluchend, bald betend. Sie lagen gemütlich auf dem Bauch und sahen über den Klippenrand hinab. Ich näherte mich ihnen auf den Fußspitzen, warf mich dann plötzlich zur Erde und packte jeden bei einem Fuß.

»Denk' dir nur, Onkel Heinrich,« schrie mir Willy ins Ohr, als ich ihn an mich preßte, und ihn bald küßte, bald schüttelte, »ich hing mehr über als Bob.«

»O iß – iß hängte auch sehr viel über,« verteidigte sich Bob. – –

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