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Erstes Kapitel

Die erste Veranlassung zu diesem Buche, so weit sie sich nachweisen läßt, gab ein Brief, den mir meine einzige verheiratete Schwester schrieb und den ich, ein Kaufmann und Junggeselle im Alter von 28 Jahren, gerade erhielt, als ich mir überlegte, wo ich einen Urlaub von vierzehn Tagen zubringen sollte. Dieser Brief lautete:

 

Hillcrest, den 15. Juni 1875.

Lieber Heinrich! Da ich weiß, daß Du dich immer darüber beklagtest, du kämest nie dazu, ungestört zu lesen, und da Du dies auch wohl in diesem Sommer nicht erreichen würdest, wenn Du Deine Ferien wieder unter Deinesgleichen zubrächtest, bitte ich Dich hiermit, uns zu besuchen. Ich gebe zu, daß ich Dich nicht ganz ohne Nebenabsicht einlade. Offen gestanden, die Sache verhält sich so: Thomas und ich sind eingeladen worden, vierzehn Tage bei meiner alten Schulfreundin, Alice Wayne zuzubringen, welche, wie Du weißt, das prächtigste Geschöpf von der Welt ist. Schade, daß Du mir nicht gefolgt bist und sie geheiratet hast, ehe Franz Wayne Dir zuvorkam. Wir haben nun sehr große Lust, hinzugehen, denn Alice und Franz machen ein großes Haus; da sie aber unsere Kinder in ihre Einladung nicht mit eingeschlossen haben und selbst keine Kinder besitzen, müssen wir Willy und Bob zu Hause lassen. Die wären ja nun trotzdem in guten Händen, denn mein Mädchen ist ein Juwel und den Kindern sehr zugethan, aber ich würde doch bedeutend beruhigter sein, wenn ein Mann im Hause wäre. Dann ist es auch wegen des Silberzeugs; die Diebe haben nämlich gewaltigen Respekt, wenn ein grimmig dreinschauender Mann das Haus hütet. (Bitte, Du brauchst Dich für dies Kompliment nicht zu bedanken.) Wenn Du kommen würdest, so wäre mir das in der That eine große Beruhigung. Die Knaben würden Dich nicht im geringsten stören, es sind die besten Kinder von der Welt, wie jeder, der sie kennt, mir versichert. Thomas hat prachtvolle Cigarren – ich weiß es, denn das für ein neues Kleid bestimmte Geld wanderte leider zu dem Cigarren-Lieferanten. Er führt auch einen Rotwein der prima Qualität sein soll, obgleich ich denselben nur durch die Farbe von schwarzer Tinte unterscheiden kann. Unsere Pferde sind in vorzüglicher Verfassung, ebenso der Garten – Du siehst, ich vergesse Deine alte Leidenschaft für Blumen nicht. Und das Letzte und Beste ist: niemals gab es in Hillcrest unter den Sommergästen so viele hübsche Mädchen, wie gerade jetzt; Deine hiesigen Damenbekanntschaften von früher werden Dir die neuesten Acquisitionen schon zuführen.

Antworte umgehend telegraphisch, natürlich: ja.

In großer Elle

Deine Dich liebende Schwester
Helene.

P. S. »Du sollst unser eigenes Zimmer haben, es ist äußerst luftig und hat die schönste Aussicht. Das Kinderzimmer stößt daran; Du kannst es daher gleich hören, wenn meinen Lieblingen in der Nacht etwas passieren sollte.«

 

»Das trifft sich ja herrlich!« rief ich aus.

Fünf Minuten später hatte ich Helenen telegraphiert, daß Ich ihre Einladung annähme, und hatte im Gedanken schon so viel Bücher ausgewählt, daß ich für ein ganzes Dutzend Ferienmonate daran vollauf genug gehabt hätte. Ohne nun Helenens Glauben zu teilen, daß ihre Kinder die besten der Welt seien, kannte ich sie doch gut genug, um mich versichert zu halten, daß sie mir nicht allzusehr im Wege sein würden. Sie hatte nur zwei, nachdem der kleine Philipp kürzlich gestorben war. Willy, der ältere, war fünf Jahre alt und hatte sich gewöhnlich, wenn ich Helene flüchtig besuchte, so zurückhaltend, ernst und sinnend gezeigt, hatte so große, klare, durchdringende Augen, daß mir manchmal fast etwas unbehaglich geworden war, wenn der Junge mich angesehen hatte. Thomas erklärte ihn für einen geborenen Weltverbesserer oder Propheten, und Helene sah in ihm den künftigen Mädcheneroberer und Herzensbrecher. Bob hatte erst drei Sommer erlebt und war ein kleiner, glücklicher Guckindiewelt, mit hübschem, goldblonden Lockenkopf, der ein besonderes Vergnügen daran fand, nach Sonnenstrahlen zu haschen und sich den ganzen Tag darin herumzutummeln.

Ich hatte meinen Schwager schon immer um seine Pferde, seinen Garten, sein Haus und seine ganze Lebensstellung im stillen beneidet, und der Gedanke, dies alles so vierzehn Tage beherrschen zu können, war für mich sehr verlockend. Seinen Geschmack in Cigarren und Rotwein hatte ich immer unumwunden anerkennen müssen, und der Damenflor in Hillcrest war, so weit ich mich entsinnen konnte, so schön, wie er es eben nur in einer Villenvorstadt sein kann.

Drei Tage später hatte ich die anderthalbstündige Reise von New-York nach Hillcrest zurückgelegt und nahm mir auf dem Bahnhofe einen Lohnkutscher, der mich zu Thomas fahren sollte. Kurz vor der Wohnung meines Schwagers scheuten plötzlich unsere Pferde. Nachdem der Kutscher sie beruhigt hatte, wandte er sich nach mir um und bemerkte:

»Das war wieder einer von den Rangen!«

»Was gab's denn?« fragte ich.

»Na, der Junge, der mir die Pferde scheu machte! Da steht er ja mit dem großen Zweige in der Hand. Es fehlt nur noch, daß er kommt und mitfahren will, der Schlingel. Zuzutrauen wär's ihm schon. Wo mag denn nur der andere stecken, sie sind doch sonst immer beisammen; wir nennen sie nur die » Rangen,« weil sie nichts als dummes Zeug im Kopfe haben. Vor denen hat weder Pferd, noch Katze, noch sonst irgend ein Tier Ruhe! Und Vater und Mutter sind doch so liebe, nette Leute, wo die Jungens das nur her haben!«

Während dieses Redeergusses keuchte der kleine Sünder an unseren Wagen heran; er steckte in einem sehr schmutzigen Matrosen Anzug und unter einem breitkrempigen Strohhut; der eine Strumpf war bis zum Knöchel heruntergerutscht, an den Stiefeln fehlten fast alle Knöpfe, und als ich näher zusah entdeckte ich in ihm – meinen Neffen Willy. Zu derselben Zeit brach aus dem Gebüsch ein kleinerer Junge hervor, in einem grünen Kittelchen, einst weiß gewesener Halskrause, mit blauen Pantoffeln, aus denen ganz gemütlich die Zehen herausguckten, und dem Fragment eines Strohhuts auf dem struppigen Haupte. Der Racker warf einen großen Zweig auf den Weg und rannte mit den Worten: »Da liegt meine 'ichel!« auf den Wagen los, indem er eine Staubwolke aufwirbelte, welche genügt hätte, einst die Kinder Israels in Ägypten vollständig einzuhüllen. Als diese sich endlich etwas teilte, sah ich die unverkennbaren Gesichtszüge meines jüngeren Neffen Bob.

»Das – das sind ja – meine Neffen!« stieß ich hervor

»I du meine Güte!« rief der Kutscher. »Ich habe ja auch garnicht daran gedacht, daß ich zum Oberst Lawrence fahren toll! Na, nichts für ungut, ich sagte nur die Wahrheit. Jugend muß sich austoben; – es sind ja sonst ganz gute Kerlchen, aber von der Sorte, die frühzeitig in den Himmel kommen, weil sie zu gut für diese Erde sind – von der sind sie gerade nicht.«

»Willy,« sagte ich, und suchte so ernst als möglich auszusehen, »kennst du mich?«

Die durchbohrenden Augen des zukünftigen Weltverbesserers und Philanthropen prüften mich einen Augenblick, dann erwiderte ihr Besitzer:

»Ja, du bist Onkel Heinrich. Hast du uns etwas mitgebracht?«

»Was mittebacht?« echote Bob.

»Eine tüchtige Rute hätte ich euch mitbringen sollen, ihr unartigen Jungens,« sagte ich im strengen Tone. »Kommt, steigt ein!«

»Komm Bob,« schrie Willy, obgleich dieser dicht neben seiner brüderlichen Liebe stand, »Onkel Heinrich will uns ausfahren.«

»Will uns aufahren!« wiederholte Bob mit einem Ausdruck träumerischer Weltvergessenheit. Dieses Echo und diese Weltvergessenheit waren, wie ich bald erfahren sollte, überhaupt für Bob charakteristisch.

Als sie in den Wagen, geklettert waren, bemerkte ich, daß jeder ein sehr schmutziges Handtuch trug, das in der Mitte zu einem festen Knoten gebunden war. Nachdem ich mir die schmutzigen Lappen eine Zeitlang betrachtet hatte, ohne über ihren Zweck klar zu werden, fragte ich Willy, was diese Tücher zu bedeuten hätten.

»Das sind keine Tücher,« war die schnelle Antwort, »das sind unsere Püppchen.«

»Aber um des Himmels willen, weshalb kauft euch denn eure Mutter nicht anständige Puppen und läßt euch mit so schmutzigen Dingern herumlaufen?«

»Wir wollen keine gekauften Puppen,« erklärte Willy entschieden; »diese Püppchen sind uns lieber; meine heißt Maria und Bobs Marfa.«

»Marfa?« fragte ich.

»Gewiß, Marfa; weißt du denn nicht, daß dies zwei Schwestern waren?

Martha und Marte die beiden
Gingen Klingelglocken läuten.«

»Ah, du meinst Martha?«

»Ja, Marfa, so sage ich ja. Bobs Puppe hat braune Augen und meine blaue.«

»Is will dein Ticke-Tacke-Uhr sehen,« rief plötzlich Bob, griff nach meiner Kette und wälzte sich auf meinen Schoß.

»Juchhei, ich auch!« brüllte Willy und beeilte sich, von einem meiner Knie Besitz zu ergreifen, indem er nebenbei seine Schuhe an meinen Hosen und an meinem Rockschoß abwischte. Jeder der Racker legte nun einen Arm um mich, um ja recht fest zu sitzen, während ich meine Dreihundert Thaler-Uhr hervorholte und ihnen das Zifferblatt zeigte.

»Ich möchte gern sehen wie die Räder rumlaufen,« rief Willy.

»– Dern sehn, wie die 'äder 'umlaufen,« echote Bob.

»Das geht nicht; der Staub fliegt in die Uhr und verdirbt sie dann,« sagte ich.

»Will aber dern sehn, wie die 'äder 'umlaufen!« wiederholte Bob noch einmal.

»Ich sagte dir ja, es geht nicht, Bob,« erwiderte ich nun mit nachdrücklicher Strenge, »Staub verdirbt die Uhren.«

Die unschuldigen grauen Augen blickten verwundert auf, die schmutzigen, aber hübschen Lippen öffneten sich und Bob murmelte weinerlich:

»– Dern sehn, wie die 'äder 'umlaufen.«

Ich klappte die Uhr hastig zu und steckte sie in die Tasche. Bobs Unterlippe begann sofort herabzusinken immer weiter und weiter, so daß ich die Befürchtung hegte, demnächst müßten die Knochenteile seines Kinns zum Vorschein kommen. Dann zog er die Lippe zurück und schrie aus Leibeskräften:

»'äder … 'umlaufen … sehn … Ah-h-h-h-h …«

»Robert,« rief ich jetzt heftig, »augenblicklich bist du still! Verstehst du?«

»Jaaa … uh … uh … uh .. ahu … ahu.«

»Na, dann sei aber auch still.«

»'äder 'umlaufen sehn …«

»Bob, ich habe in meinem Koffer wunderschöne Bonbons mitgebracht, du bekommst aber kein einziges, wenn du nicht mit diesem Höllenspektakel aufhörst!«

»Jaaa … is will dern 'äder 'umlaufen sehn … Ah … ah … ah – ah.«

»Bob, mein Herzblatt, schrei doch nicht so. Sieh, dort kommen zwei Damen in einem schönen Wagen; denen wirst du doch nicht zeigen wollen, daß du weinst? Du sollst ja die Räder sehen, sobald wir zu Hause sind.«

Inzwischen hatte sich der Wagen mit den beiden Damen rasch genähert, als Bob von neuem begann:

»Aaa-h-h-h, dern 'äder 'umlaufen sehn.«

Wütend riß ich meine Uhr aus der Tasche, öffnete das Gehäuse und zeigte ihnen das Werk. Der andere Wagen kam auf uns zu und ich senkte das Haupt so viel wie möglich, um von den unbekannten Insassen nicht gesehen zu werden, denn die kurze Berührung mit meinen schrecklichen Neffen hatte mich nicht gerade sauberer gemacht. Plötzlich blieb der Wagen mit den beiden Damen halten. Ich hörte, wie mein Name gerufen wurde; schnell erhob ich den Kopf (wobei ich gegen Willys harten Schädel stieß und meinen Hut völlig aus dem Gleichgewicht brachte) und blickte in den anderen Wagen. Dort saß in all ihrer Frische, Zierlichkeit, Anmut und Liebenswürdigkeit Fräulein Alice Mayton; mit glänzenden Augen und lächelndem Munde sah sie mich fragend an. Wenn der Engel der Auferstehung seinen schrecklichsten Ton geblasen, hätte ich nicht entsetzter sein können. Fräulein Mayton war die Dame, die ich schon vor einem Jahre von weitem angebetet hatte!

»Wann sind Sie denn angekommen, Herr Burton?« fragte sie, »und seit wann spielen Sie Kinderfrau? Sie bilden ja ein nettes Trio – so ganz zwanglos. Ich kann die Kinder nicht leiden, die aufgeputzt wie kleine Herren und Damen spazieren geführt werden. Sie scheinen sich ja sehr gut mit den Kleinen amüsiert zu haben!«

»Ich versichere Sie, gnädiges Fräulein,« sagte ich, »daß meine bisherigen Erfahrungen nichts weniger als amüsant gewesen sind. Wenn König Herodes noch lebte, würde ich mich sofort als Henkersknecht engagieren lassen, um diese beiden kleinen Racker aus der Welt zu schaffen.«

»Sie Wüterich!« rief das Fräulein aus. »Mutter, gestatte, daß ich dir Herrn Burton vorstelle, den Bruder von Helene Lawrence. Wie geht es Ihrer Schwester, Herr Burton?«

»Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben,« entgegnete ich. »Sie ist nämlich auf vierzehn Tage mit ihrem Manne bei Hauptmann Wayne auf Besuch, und ich bin unvorsichtig genug gewesen, mich inzwischen zum Haushüter herzugeben.«

»Das muß doch aber reizend für Sie sein, bedenken Sie nur! Die schönen Pferde, der schöne Garten! Die gute Küche!«

»Und die artigen Kinder!« erwiderte ich, indem ich die Racker vielsagend ansah und Bob das Taschentuch entriß, das er mir aus der Tasche gezogen hatte, um es als Windfahne zu benutzen.

»Nun, es sind die besten Kinder von der Welt. Das war das erste, was mir Helene sagte, als ich sie neulich sah. Kinder sind eben Kinder, das müssen Sie bedenken. Vorigen Sommer hatten wir auch drei kleine Vettern bei uns, ich weiß daher Bescheid. Sie ließen mich in den paar Wochen um einige Jahre altern.«

»Dann müssen Sie in der That noch sehr jung gewesen sein, Fräulein Mayton,« entgegnete ich. Ich mußte wohl bei diesen Worten ein sehr ehrlich überzeugtes Gesicht gemacht haben, denn obwohl sie schalkhaft ihr Köpfchen neigte und »Danke verbindlichst« sagte, schien sie doch mein Kompliment nicht mit ihrer sonstigen ruhigen Kälte an sich abgleiten zu lassen. Doch mehr als höchstens hundert Sekunden lang ließ sich Fräulein Mayton nie aus der Fassung bringen; schon im nächsten Augenblick hatte ihr Angesicht wieder den gewohnten Ausdruck angenommen und ihre nächste Bemerkung bewies, daß sie ihre Selbstbeherrschung voll und ganz wiedergewonnen hatte.

»Wissen Sie noch, Herr Burton, wie Sie im vorigen Winter auf unserem Feste die Dekoration des Saales ausführten? Es war doch zu schön! Gewiß das herrlichste Fest der Saison! Jedermann lobte Ihren Geschmack. Ich will Ihnen keinen Wink mit dem Zaunpfahl geben, aber bei Klarksons, wo wir wohnen, ist nicht eine einzige Blume im Garten. Jedesmal, wenn ich an Oberst Lawrences Garten vorübergehe, muß ich gegen das zehnte Gebot sündigen. Leben Sie wohl, Herr Burton!«

»Oh, tausend Dank! Wird mir das größte Vergnügen machen! Empfehle mich den Damen!«

»Sie werden mich doch nicht mißverstehen,« fügte Fräulein Mayton hinzu, als ihr Wagen sich in Bewegung setzte, »es ist so entsetzlich öde hier, nur Sonntags sieht man manchmal Herrenbesuch.«

Ich verbeugte mich zustimmend. In der Betrachtung all der angenehmen Möglichkeiten, welche mein kurzes Geplauder mit Fräulein Mayton mir eröffnete, hatte ich meinen staubigten Rock and die beiden lebenden Ursachen dieses bedauernswerten Zustandes ganz vergessen. Die Rangen hatten sich auch in Fräulein Maytons Gegenwart ganz ruhig betragen, jetzt aber schien ihr Mundwerk wieder in rastlose Bewegung zu kommen.

»Onkel Heinrich,« fragte Willy, »kannst du Pfeifen machen?«

»Onkel Heini,« murmelte Bob, »thust du die Dame lieb 'aben?«

»Nein, Bob, bewahre!«

»Dann bist du ein böse Mens und Dott läßt nur dute Menßen in 'immel tommen, die dute Damen lieb 'aben.«

»Jawohl, Willy,« antwortete ich eiligst auf die andere Frage, »ich kann Pfeifen machen und ihr sollt auch welche haben.«

»Liebe Dott will aber 'aben, daß Menßen an're Menßen lieb 'aben,« wiederholte hartnäckig Bob.

»Ganz recht, Bob,« sagte ich. »Na, ich will sehen, daß ich es dem lieben Gott recht mache. Kutscher, fahren Sie zu. Ich möchte diese jungen Bürschchen so bald wie möglich dem Mädchen übergeben, damit sie schleunigst in die Badewanne wandern.«

Ich fand, daß Helene sich die größte Mühe gegeben hatte für meine Bequemlichkeit zu sorgen. Ihr Zimmer bot eine herrliche Aussicht auf Berg und Thal, und sogar der Umstand, daß die Rangen im Nebenzimmer schliefen, schien mir ein Trost; so konnte ich sie mit ruhiger Genugthuung betrachten, denn wenigstens im Schlaf hatten sie doch keine Macht, ihren schwer getäuschten Onkel zu quälen.

Zum Abendessen erschienen Willy und Bob reinlich gekleidet und sauber gewaschen. Willy setzte sich selbst zu Tisch, Bob schob seinen hohen Stuhl zurück, kletterte auf denselben und rief: »Teck mal meine Beine unter'n Tiß.« Diese Bemerkung deutete ich ganz richtig dahin, daß er an den Tisch geschoben zu werden wünschte, und beeilte mich diesen Wunsch zu erfüllen. Das Mädchen goß Thee für mich und Milch für die Kinder ein und zog sich dann zurück. Jetzt erinnerte ich mich – und durchaus nicht zu meiner Freude – daß Helene niemals einen dienstbaren Geist im Speisezimmer dulden mochte in der wohl gerechtfertigten Befürchtung, daß die Dienstboten den Inhalt der häuslichen Privatgespräche ausplaudern könnten. Im Prinzip stimmte ich mit ihr überein, in der Praxis jedoch war das Alleinsein mit diesen beiden kleinen Vielfraßen das größte Leiden, das sich für mich jemals aus der Befolgung eines Prinzips ergeben hat; aber das nützte nun einmal nichts. Ich klopfte resigniert auf den Tisch, beugte mein Haupt und sprach ein kurzes Tischgebet. Dann fragte ich Willy, ob er Brot oder Biscuit haben wolle.

»Wir haben ja noch gar nicht gebetet, Onkel,« sagte er.

»Gewiß, Willy; hörtest du denn nicht?«

»Meinst du etwa das, was du eben sagtest?«

»Ja.«

»Oh, das war doch kein Gebet, Papa spricht nie ein solches Gebet.«

»Wie betet denn Papa?« fragte ich.

»Papa sagt: Vater unser, wir danken dir für Speise und Trank und bitten dich, daß du aller Hungrigen und Notdürftigen ebenso gedenkest um Jesu Christi willen. Amen. So sagt Papa.«

»Ich meinte doch ganz dasselbe, Willy.«

»Du sagtest aber nicht dasselbe, und Bob hatte auch gar nicht Zeit, sein Gebet zu sagen. So wie du betest, hört der liebe Gott gar nicht danach hin.«

»Doch, alter Junge, er weiß, was die Menschen meinen.«

»Wie kann er denn wissen, was Bob meint, wenn Bob gar keine Zeit hat, etwas zu sagen?«

»Is will auch mein Debet sagen,« erklärte nun Bob mit weinerlicher Stimme.

Es war genug. Meine erste Unterhaltung mit Bob hatte mich gelehrt, die Charakterstärke dieses jungen Mannes zu respektieren. Ich neigte daher noch einmal mein Haupt und wiederholte, was Willy mir als »Papas Gebet« bezeichnet hatte. Willy soufflierte gütigst, wo mich mein Gedächtnis im Stiche ließ. In dem Augenblick, wo ich anfing, begann Bob laut und schnell zu plappern, und als ich »Amen« sagte, hob er sein Haupt und äußerte mit Befriedigung:

»Is habe mein Debet dsweimal debetet,« und Willy bemerkte würdevoll: »So, nun ist alles in Ordnung!«

Das Mittagessen war ausgezeichnet, aber die Gefräßigkeit dieser beiden schrecklichen Kinder verdarb mir thatsächlich den Appetit. Ich zog mich schnell zurück, rief das Mädchen und wies sie an, darauf zu achten, daß die Kinder genug zu essen erhielten und dann rechtzeitig zu Bett gebracht würden. Dann zündete ich mir eine Cigarre an und schlenderte in den Garten. Die Rosen waren gerade in vollster Blüte, der Jasmin duftete wunderbar, die Rhododendrons zeigten sich noch in schönster Pracht, und manche Lieblingsblume von mir versprach am nächsten Morgen aufzubrechen. Ich gestehe, daß ich den Garten hauptsächlich deshalb sorgfältig inspicierte, um zu sehen, ob ich aus dem Vorhandenen ein passendes Bouquet für Fräulein Mayton zusammenstellen könnte, und war so außerordentlich von dem Material vor mir befriedigt, daß es mich gelüstete, mein Werk sogleich zu beginnen; aber ich konnte doch auch nicht eiliger sein, als es der gute Ton zuließ. So durchschritt ich denn die Wege, die Hände auf dem Rücken, das Gesicht in wohlriechenden Rauchwolken verborgen und in träumerischen Gedanken verloren. Ich dachte darüber nach, ob wirklich ein Sinn in der Blumensprache läge, von der ich bei sentimentalen Dichtern so oft gelesen hatte. Ich fragte mich, ob Fräulein Mayton die Blumensprache wohl verstände. Auf jeden Fall bildete ich mir ein, daß ich Blumen nach dem Geschmack einer Dame arrangieren könnte, deren Gesicht ich auch nur einmal gesehen hätte, und für Fräulein Mayton könnte ich gewiß etwas zusammenstellen, worüber sie sich auf jeden Fall freuen mußte. Ich stellte mir vor, wie ihre bläulich-grauen Augen glänzen, wie ihre Wangen sich röten würden, nicht in Sentimentalität, gewiß nicht; wohl aber in unverfälschter, wahrer Freude; ich sah, wie ihre vollen Lippen sich öffneten und jene süßen weichen Linien sehen ließen, welche sich nie zeigten, wenn sie ihre Gesichtszüge beherrschte. Ich, ich, der vernünftige, kühl denkende, vorwärts strebende und vom Glück begünstigte Geschäftsmann wünschte augenblicklich, von all den Fähigkeiten und Eigenschaften, die das neunzehnte Jahrhundert charakterisieren, losgelöst und eine jener Märchengestalten oder Blumengenien zu sein, von denen nur sentimentale Mädchen und verrückte Dichter träumen, um ungesehen zu erspähen, wie meine Blumen von der vollkommensten ihrer menschlichen Schwestern aufgenommen würden. Welcher Blume glich sie am meisten? Der Lilie? Nein, dazu war sie – nicht zu keck, nein, aber zu – zu – ich konnte auf das richtige Wort nicht kommen, aber keck war es nicht. Der Rose? Sicherlich nicht jenen herrlichen und strahlenden Remontantrosen, auch nicht jenen schüchternen, zarten, ätherischen Theerosen mit ihren sanften Farbenreizen. Vielleicht gleicht sie dieser herrlichen Gloire de Dijon; voll, kräftig, selbstbewußt unter ihren mehr zarten Verwandten; stattlich, vollkommen in den Formen und in der Entwicklung, hinreißend in ihren Farbentönen, die sich nicht völlig analysieren lassen, jeden zur Bewunderung zwingend, ihren Anbeter unwiderstehlich nach sich ziehend durch den unaussprechlichen Reiz ihrer Vollkommenheit, durch den unveränderlichen Glanz ihrer Erscheinung, durch –

»Ah … h … h … h … ee … ee … ee … oo … oo … oh … h …« erklang es plötzlich aus einem Fenster über mir. Dann folgte in den mir leider wohlbekannten Tönen Willys der langgezogene Ruf: »Onkel Heiiineriiich!«

Ich antwortete nicht. Es giebt im Menschenleben Augenblicke, wo die Seele voll von Empfindungen ist, deren Ausdruck sich für ein kindliches Ohr nicht eignet. Da rief Willy schon wieder:

»Onkel Heinrich, du sollst zu uns kommen und uns Geschichten erzählen.«

Ich sah schnell nach oben und wollte gerade eine barsche Abweisung hinauf schicken, als ich in dem Fenster ein fremdes und doch wohlbekanntes Gesichtchen erblickte. Konnten diese großen, tiefsinnigen Augen, dieser engelhafte Mund, dieser durchgeistigte Ausdruck meinem Neffen Willy angehören? Ja, es mußte so sein, jene himmlische Nase und jene übergroßen Ohren konnten nur die seinigen sein. Ich wandte mich plötzlich ab, ging ins Haus und wurde oben an der Treppe von zwei kleinen weißen Engelgestalten empfangen, von denen die größere bemerkte:

»Du mußt uns Geschichten erzählen, Papa thut dies immer abends.«

»Ich will ja auch. Was für Geschichten habt ihr denn gern? Vor allem müßt ihr aber erst ins Bett.«

»O von Jonas,« sagte Willy.

»Sa, von Sonas,« bestätigte Bob.

»Nun also: Jonas saß einmal in der Sonne, da wuchs plötzlich ein Kürbis und spendete ihm schönen Schatten; aber der Kürbis verging ebenso schnell, wie er gekommen war.«

Totenstille herrschte für einen Augenblick, dann bemerkte Willy entrüstet:

»Das ist doch nicht die Geschichte von Jonas?«

»So? Dann weißt du wohl mehr von der Geschichte,« sagte ich. »Da kannst du mich ja belehren.«

»Was sagst du?«

»Wenn du mehr von Jonas weißt, kannst du mir ja die Geschichte erzählen. Ich höre gern Geschichten.«

»Gewiß,« sagte Willy. »Einst sagte Gott zu Jonas, er sollte nach Ninive gehen und den Leuten sagen, daß sie alle sehr schlecht seien. Jonas hatte aber keine Lust, er wollte lieber Kahn fahren und fuhr nach Joppe. Da ließ der Herr einen großen Wind aufs Meer kommen und die Wellen gingen ganz hoch, so hoch wie unser Haus, und man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Und die Schiffsleute dachten sich schon, es sei einer unter ihnen, den der liebe Gott nicht leiden könne. Da sagte Jonas ich glaube, das bin ich. Und da packten sie ihn und schmissen ihn ins Meer, und das war nicht hübsch von ihnen; denn Jonas hatte doch die Wahrheit gesagt. Und ein großer Walfisch kam geschwommen, der war furchtbar hungrig, weil die kleinen Fische, die er so gern aß, alle auf den Grund des Meeres gegangen waren, als es so stürmisch wurde, und weil die Walfische nicht auch auf den Grund schwimmen können. Und der Walfisch verschluckte nun Jonas, als er ins Wasser fiel. Und in dem Walfisch war es ganz dunkel, Feuer war auch nicht da, und es war alles ganz naß, und er konnte seine Kleider nicht trocknen; Fenster waren auch nicht in dem Walfisch, wo Jonas hinaus sehen konnte, zu essen gab's auch nichts, und es gab überhaupt nichts, rein gar nichts. Da bat Jonas den lieben Gott, ihm heraus zu helfen, und der liebe Gott hatte Mitleid mit ihm, und der Walfisch mußte nahe ans Land 'ranschwimmen, und Jonas rausspringen lassen aus seinem Mund. Da freute sich Jonas aber einmal und ging gleich nach Ninive und that, was Gott ihm geheißen hatte. Wenn er gescheit gewesen wäre, hätte er das gleich gethan!«

»Dleich dethan,« stimmte ihm Bob bei; »nu verßähle uns eine andre Deschichte.«

»Ach nein, du, singe uns lieber ein Lied vor!«

»Sa, ein Lied,« wiederholte Bob.

Ich durchkramte mein Gedächtnis nach einem Lied, aber das einzige, auf das ich fiel, »Komm herab, o Madonna« behagte meinen jugendlichen Zuhörern nicht; kaum hatte ich einige Strophen gesungen, da unterbrach mich Willy:

»Du, Onkel, das ist aber gar kein schönes Lied.«

»Warum nicht, Willy?«

»Ich verstehe garnicht, was du da eigentlich singst,« erwiderte Willy. »Kannst du denn nicht ›Lobe den Herrn‹ singen?

Demütig gehorchte ich. Das alte Lied hat stets eine wunderbare Macht über mich geübt. Ich hörte es im fernen Westen bei den Gottesdiensten unter freiem Himmel und in den Negerhütten des Südens, als ich noch ein Knabe war; ich hörte es von rauhen Soldatenlippen während des Krieges gegen die Südstaaten. Es war kurz vor dem Gefecht; meine Brigade trat gerade an und da begann es, erst leise, aber mit einem Schwung, der in seinem Ernst etwas Furchtbares hatte. Dann hörte ich es am Grabe so manches Kameraden; ich hörte es mit spontaner Gewalt losbrechen an jenem Morgen, als wir erfuhren, daß der Krieg zu Ende sei, und als ich nachher zum ersten Male wieder mit den alten Freunden zusammen war, wie klang es da so freudig, und doch auch so feierlich, so ernst! Und jetzt traten alle diese Erinnerungen, während ich sang, wieder vor meine Seele, und die Bewegung riß mich fort, wohl mehr als ich mir bewußt war, denn plötzlich rief mich die gellende Stimme Willys wieder in die rauhe Wirklichkeit zurück:

»Singe das aber ja nicht alle Tage, Onkel Heinrich; du singst ja so furchtbar laut, ich bekomme solche Kopfschmerzen davon.«

»Das thut mir leid, Willy,« entgegnete ich. »Gute Nacht.«

»Willst du denn schon gehen, Onkel Heinrich?« Du hast uns ja noch gar nicht beten lassen. Papa thut dies immer.

»So? Na, gut.«

»Du mußt dein Gebet zuerst aufsagen,« erwiderte Willy, »Papa macht es immer so.«

»Nun gut,« war meine Antwort, und ich betete das Vaterunser. Kaum hatte ich Amen gesagt, so bemerkte Willy:

»So was sagt mein Papa nie; ich glaube gar nicht, daß das ein richtiges Gebet war.«

»Nun, dann bete du uns ein richtiges Gebet, Willy.«

»Na ja.« Willy schloß die Augen, seine Züge nahmen den Ausdruck eines schlafenden Engels an; er dämpfte die Stimme und murmelte im andächtigsten Tone:

»Lieber Gott, wir danken dir, daß es uns heute so gut gegangen ist und bitten dich, daß es den kleinen Jungens überall so gut geht. Wir bitten dich, uns und alle andern Menschen diese Nacht zu behüten. Ja, und Onkel Heinrich hat Bonbons in seinem Koffer, er sagte es ja im Wagen. Wir danken dir, lieber Gott, daß Onkel Heinrich gekommen ist und hoffen, daß sein Koffer ganz voll von Bonbons ist. Und wir bitten dich, alle armen kleinen Knaben und Mädchen zu behüten, die weder Papas, noch Mamas und keine Onkel Heinrichs und keine Betten haben, in denen sie schlafen können. Und nimm uns alle in den Himmel, wenn wir sterben. Amen. Nun gieb uns die Bonbons.«

»St! Willy! Bob hat ja noch nicht gebetet!«

»Ja so! Ja so bete doch, Bob!«

Bob schloß die Augen, rückte hin und her, atmete tief und schnell, als ob Beten vorzugsweise eine physische Anstrengung wäre und begann dann:

»Lieber Dott, im Himmel d'oben mach mis nis slecht, beßütze Papa un Mama und O-Papa Großvater.un beide O-Mamas Großmutter. un alle duten Menßen in diesem Hause un auch meine Puppe. Amen.«

»Nun gieb uns aber die Bonbons,« sagte Willy, worauf Bobs gewöhnliches Echo folgte.

Ich entnahm meinem Koffer schnell die Bonbons, gab jedem Jungen einige, was mit lautem Entzücken begrüßt wurde und sagte nochmals gute Nacht.

»Aber du hast uns noch keine Pfennige gegeben,« jammerte Willy, »Papa giebt uns jeden Abend welche für unsere Sparbüchsen.«

»Ich habe jetzt keine bei mir, ihr müßt bis morgen warten.«

»Wir müssen auch noch mal trinken.«

»Marie soll euch etwas bringen.«

»Mößte meine Puppe haben,« murmelte Bob.

Ich fand die geknoteten Taschentücher, nahm die schmutzigen Dinger mit den Fingerspitzen auf und warf sie ihm auf das Bett.

»Nu mößte is die 'äder 'umlaufen sehn.«

Jetzt eilte ich schleunigst aus dem Zimmer und warf die Thür hinter mir zu. Ich sah nach meiner Uhr – es war halb neun; ich hatte anderthalb Stunden bei diesen schrecklichen Kindern zugebracht. Spaßig waren sie, das ließ sich nicht leugnen, und ich mußte trotz meines Ärgers lachen. Wenn sie indessen meine Zeit ferner ebenso in Anspruch nahmen, wie sie es bisher gethan hatten, wann sollte ich dann zum »Lesen« kommen? Ich nahm Fiskes »Kosmische Philosophie« aus meinem Koffer, ging ins Wohnzimmer, zündete Cigarre und Studienlampe an und begann zu lesen. Kaum hatte ich begonnen, als ich patschelnde kleine Tritte hörte – mein ältester Neffe stand vor mir. Es lag etwas wie vorwurfsvoller Kummer in jeder Linie seines Gesichtchens, als er zu mir sagte:

»Du hast garnicht mal »schlaf wohl« gesagt, auch nicht »Gott behüt' dich, überhaupt garnichts.«

»Nicht? Nun dann, schlaf wohl.« –

»Schlaf wohl.«

»Gott behüt' dich.« –

»Gott behüt' dich.«

Willy schien noch auf etwas anderes zu warten. Schließlich sagte er:

»Papa jagt auch: Gott behüt' uns alle.«

»Nun, meinetwegen: Gott behüt' uns alle.«

»Gott behüt' uns alle,« antwortete Willy, machte schweigend kehrt und verschwand.

»Gott behüte dein reines Herz, du kleiner Quälgeist,« sagte ich zu mir; »wenn die Menschen alle Gott so vertrauten, wie du deinem Papa, dann hätten die Pastoren wenig zu thun.«

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