Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Der nächste Morgen hätte jeden, der nicht ein frisch gebackener Bräutigam war, mit Entsetzen erfüllt. Der Regen goß in Strömen herab und so dauerhaft und emsig, daß man die Absicht merkte, er wolle den ganzen Tag bei der Arbeit bleiben. Der Himmel war mit undurchdringlichen, bleiernen Wolken bedeckt; das Wasser stand auf den Straßen in großen Pfützen; die Blumen ließen ihre Köpfchen hängen, als hätten sie sich die ganze Nacht herumgetrieben und schämten sich nun vor dem Tageslicht. Sogar die Hühner standen in niedergeschlagener Haltung da, und verirrte Hähne von anderen Höfen suchten in Thomas' Stall Unterkunft, ohne vorher vor dessen Hühnerhäuptling eine Probe von ihrer Stärke und Kampfgewandtheit abgelegt zu haben.

Jedoch ein Mensch, der sich in einer Seelenstimmung gleich der meinigen befindet, läßt sich durch schlechtes Wetter nicht so leicht aus seiner guten Laune bringen. Ich wäre gar nicht so abgeneigt gewesen, in der schönen, frischen Luft eine Spazierfahrt zu machen oder unter den Bäumen herumzulungern oder am Nachmittag nach dem Postamt zu gehen, wobei ich bei Klarksons vorüber mußte; aber der Mensch soll ja nicht an sich allein denken. Im Nebenzimmer schliefen zwei kleine Wesen, denen ich sehr viel verdankte, und die sehr traurig sein würden, wenn sie diesen Zustand des Himmels sahen. Es war also meine Pflicht mich diesen holden Wesen zu widmen und es zu versuchen, sie so glücklich zu machen, daß sie den Sonnenschein, der heute draußen fehlte, im Zimmer nicht vermißten. An ihr Bett wollte ich mich setzen und ihnen, sobald sie erwachten, eine schöne Geschichte vorlesen und sie dadurch so lustig und froh gelaunt machen, daß sie mit mir über Regen und Wolken lachen konnten.

Ich fing auch sogleich an, mir eine für sie besonders geeignete Geschichte auszudenken. Ort der Handlung war ein ländliches Wohnhaus an einem Regentage und die Figuren waren zwei kleine Knaben, die trotz des schlechten Wetters fröhlich waren. Es ging mir aber wie allen Leuten, die nicht geübt sind, Geschichten zu ersinnen; ich kam damit nicht recht vorwärts. Ich hatte thatsächlich noch nichts als diesen Plan erdacht, als ein Ausruf unverkennbarer Entrüstung aus dem Kinderzimmer ertönte.

»Was giebt's denn, Willy?« rief ich und kleidete mich so schnell wie möglich an.

»Oo – oo – ja – ne – buh – ja –«, war die schwer verständliche Antwort.

»Was sagtest du da, Willy?« –

»Ich sagte nichts!« –

»Na, was willst du denn?«

»Ich will auch nichts.«

»So sei doch artig, Willy.«

»Will aber nicht artig sein.«

»Na komm, wir wollen einmal lustig sein, Willy. Sollen wir kobolzen?«

»Ah-h, mag nicht kobolzen.«

»Willst du vielleicht Bonbons, Willy?«

»Nein, du hast ja gar keine mehr.«

»Wenn du solch ungezogener Junge bist, bekommst du gewiß keinen.«

Die einzige Antwort war ein kräftiges und hörbares Rascheln in dem Bettzeug, dem ein Laut folgte, der genau wie ein Klaps klang, darauf ein Wehgeheul, das an ein ungeschmiertes Wagenrad erinnerte.

»Was ist denn los, Bob?«

»Willy mich – hat – dehaut – ah – ah – ah!« –

»Wie konntest du dich unterstehen, deinen Bruder zu schlagen?«

»Ich hab' ihn ja nicht geschlagen.«

»Doch, er miß – hat– dehaut.«

»Es ist doch aber nicht wahr! Bob, du bist ein nichtswürdiger, schlechter Junge, ein alter Lügenpeter.«

»Was hast du denn gemacht, Willy?«

»Nun, ich drehte mich im Bett mal um, da rutschte meine Hand aus und fiel auf Bob. Das ist alles.«

Inzwischen hatte ich mich angekleidet und trat in das Zimmer der Jungen. Meine beiden Neffen saßen aufrecht im Bett, Willy finster und verschlossen wie ein alter Zuchthäusler und Bob mit thränenüberströmtem Gesichtchen.

»Jungens,« sagte ich, »zankt euch doch nicht, was soll denn der liebe Gott davon denken wenn er euch im Unfrieden sieht?«

»Gar nichts denkt er; meinst du denn, er soll durch solch dicken, schwarzen Himmel durchgucken.«

»Er kann überall hinsehen und ist sehr betrübt, wenn er kleine Brüder im Zank mit einander sieht.«

»Na, ich bin auch sehr betrübt, wenn ich den alten Regen sehe.«

»Was sollen denn aber die armen Pflanzen und Blumen sagen, wenn es nicht regnet? Wo sollten denn ohne Regen die Flüsse bleiben, auf denen ihr Kahn fahren könnt?«

»Un die dute, nasse Erde, sum Tuchen backen,« fügte Bob hinzu. »Du bist ein böser Sung Willy,« und seine Thränen begannen vor Schmerz aufs neue zu fließen.

»Ich bin gar kein böser Junge, aber ich brauche den alten Regen nicht, und ich stehe gar nicht auf, und Marie muß mir das Frühstück ins Bett bringen.«

»Buh – hu – u – hu,« weinte Bob, »will auch mein Lühstück ins Bett ham.«

»Jungens,« begann ich jetzt in ernstem Tone, »ihr bekommt überhaupt kein Frühstück, wenn ihr nicht sofort aufsteht und euch anzieht. Nur wenn ihr brav seid, bekommt ihr euer schönes Frühstück. Dann werdet ihr auch viel vergnügter sein, und Onkel Heinrich spielt mit euch den ganzen Tag und erzählt euch schöne Geschichten.«

Willy kroch zögernd aus seinem Bett und griff nach seinen Strümpfen, während Bob weiter heulte.

»Bob,« schrie ich, »hör' mit dem entsetzlichen Geheul auf und zieh dich an. Warum weinst du denn eigentlich?«

»Iß bin sehr t'auriß.«

»Zieh dich nur an, dann wird dir schon besser werden.«

»Du mußt miß anßiehn.«

»Na, dann bring mir dein Zeug her, aber fix.«

Die Thränenströme flossen aufs neue. »Iß will sie niß b'ingen – oh – oh – oh – oh –«

»Gleich kommst du hierher!« rief ich wütend, zog ihn durch das Zimmer und griff nach seinen winzigen Kleidungsstücken. Seit ich selbst ein so kleiner Knirps gewesen war, hatte ich derartige Sachen nicht wieder in Händen gehabt. Das Ankleiden bereitete mir denn auch viele Verlegenheit, doch glaubte ich schließlich bis auf die Schuhe fertig zu sein, als mich ein höhnisches Gelächter Willys unterbrach.

»Wie soll er denn über all den Krempel sein Hemd ankriegen?« fragte mein ältester Neffe.

»Und du, Willy,« gab ich ihm mit gleicher Schärfe zurück, weil ich mich getroffen fühlte, »wie willst du denn dein Frühstück bekommen, wenn du weiter nichts als einen Strumpf anhast?«

Das Selbstbewußtsein des jungen Mannes sank ein wenig, besonders als gerade in diesem Augenblick die Frühstücksglocke ertönte. Sein Gesicht zeigte wirkliche Bestürzung, er lief nach der Treppe und rief:

»Marie!«

»Was ist denn los, Willy?«

»War das die Weckglocke oder die Frühstücksglocke?«

»Das war die Frühstücksglocke.«

Tödliches Schweigen für einen Augenblick, dann brüllte Willy:

»Na, wenn es die Frühstücksglocke ist, dann können wir es ja die Weckglocke nennen; wenn ich angezogen bin, dann klingelst du noch einmal und dann können wir es ja die Frühstücksglocke nennen.« Nach dieser eigenmächtigen Änderung der Hausordnung kehrte er gemessen zurück und ging mit großem Eifer an die Vervollständigung seiner Toilette, während ich mich mit Bobs Garderobe abmühte.

»Wo ist der Stiefelknöpfer, Willy?«

»Ja – der ist – hm – ich legte ihn – Bob, wo hast du denn gestern den Stiefelknöpfer gelassen?«

»Iß habe den Nopfzumacher niß dehabt,« behauptete Bob.

»Doch, du hattest ihn; weißt du denn nicht mehr, wie wir Zahnausziehen spielten? Dem Doktor sein Hund hatte so fürchterliches Zahnweh, und ich mußte ihm den schlechten Zahn ausziehen, und du warst mein Lehrjunge und mußtest mir die Zahnzange halten. Nun, wo hast du denn den Stiefelknöpfer gelassen?«

»Iß habe ihn niß,« murrte Bob, versenkte aber trotzdem seine Hand in die Tasche und brachte – eine halbtote Kröte zum Vorschein.

»Sieh doch nochmal nach,« befahl ich und warf die Kröte aus dem Fenster, worüber Bob ein entsetzliches Geschrei erhob. Er ließ sich jedoch bewegen, nochmals die Tiefen seiner Taschen zu erforschen und förderte den Schraubenzieher von Helenens Nähmaschine zu Tage. Darauf machte ich selbst einen Versuch, fühlte aber sofort, daß meine Finger an einer klebrigen Substanz hängen blieben. Schnell zog ich die Hand zurück und fragte:

»Was hast du denn da für ekelhaftes Zeug in deiner Tasche?«

»Das is tein etelhaftes Teuß, das is ßönes B'ot un Syrup. Willy un iß deben Desellschaft im Hühnertall un da essen wirs, un smeckt wunderßön.«

So ekelhaft und drollig zugleich dies war, den Stiefelknöpfer bekamen wir dadurch nicht, und das Frühstück drohte kalt zu werden. Ich knöpfte schließlich Bobs Schuhe mit den Fingern zu, wobei ich mir verschiedene Nägel einriß. Bei dieser Beschäftigung hatte ich natürlich auf Willy nicht achten können. Jetzt sah ich, daß er erst halb angekleidet war und an den Fensterscheiben Fliegen fing. Ich ergriff Bob und wollte eben zum Frühstück hinunter gehen, als Willy in vorwurfsvollem Tone bemerkte:

»Onkel Heinrich, du darfst doch noch nicht frühstücken gehen, du bist ja noch gar nicht angezogen.«

Wahr genug. Ich war noch ohne Halskragen, Kravatte und Rock. Schnell wurde diesem Mangel abgeholfen, und abermals schickte ich mich an, hinunter zu gehen, als ich wieder aufgehalten wurde.

»Onkel Heinrich, muß ich mir noch die Zähne bürsten?«

»Komm doch nur, heute nicht,« entgegnete ich. »Es wird ja sonst Mittag, ehe wir mit dem Frühstück fertig sind.«

Da wurde der Schlingel zum ersten male an diesem Morgen in gute Laune versetzt und sagte kichernd:

»Ah, da müßten wir dann aber dicke Magen haben, nicht wahr?«

Beim Frühstück fing Bob wieder an zu wimmern, weil ich anfangen wollte, ehe Willy da war. Dann wußte wieder keiner der Knaben, was er eigentlich essen wollte. Zur Abwechslung schüttete Willy den größten Teil seiner Brocksuppe auf seinen Schoß, und als ich ihm half, diese Rudera zu entfernen, benutzte Bob die Gelegenheit, um seine Milch auf den Tisch zu gießen und mir mehrere Löffel voll Hafergrütze in meinen Kaffee zu bugsieren. Das war zu viel. Ich stand auf und überließ die Kinder dem Dienstmädchen. Fühlte ich mich doch so müde, als hätte ich den ganzen Tag schwer gearbeitet und erschrak ordentlich bei dem Gedanken, daß der Tag kaum erst angefangen hatte. Seufzend zündete ich mir eine Cigarre an und setzte mich an Helenens Klavier. Ich bin nicht besonders musikalisch, aber an dem Tage glaube ich, wären mir sogar die Klänge eines Leierkastens himmlische Musik gewesen. Das Notenbuch, das mir gerade zur Hand lag, enthielt Choräle. Ich griff voll in die Tasten und erfreute mich an den alten, wunderbaren, ernsten Melodien. Die Freude sollte aber nicht lange dauern, denn bald ließ sich eine seltsame, entsetzliche Begleitung hören. Ich wandte mich um und erblickte Bob schon wieder in Thränen gebadet. Schnell brach ich ab und fragte:

»Was ist denn nun schon wieder los, Bob?«

»Die olle Mußik mag iß niß hören. Iß will Tans-Mußik, daß is tansen tann.«

Ich spielte sofort: »O du himmelblauer See,« und Bob setzte sich rund durch das Zimmer in Trab mit der Miene eines Mannes, der auf jeden Fall seine Pflicht voll und ganz erfüllen will. Darauf erschien Willy, der mühsam ein großes dickes Buch herbeischleppte, und kaum hatte Bob ihn bemerkt, als er auch schon das Tanzen aufgab und seine – für heute wie es schien liebste – Beschäftigung, das steinerweichende Heulen wieder aufnahm.

»Bob,« schrie ich ihn an und sprang ganz verzweifelt von dem Klaviersessel auf, »was soll denn das heißen? Willst du denn bei jeder Gelegenheit schreien? Ich stecke dich gleich wieder ins Bett, wenn du solch alberner Junge bist.«

»So ist er immer, wenn es draußen regnet,« erklärte Willy in geschäftlichem Tone.

»Iß mößte den Walfiß sehen, der Sonas aufeßte,« schluchzte Bob.

»Kannst du denn nicht was anderes verlangen, das etwas mehr im Bereiche der Möglichkeit liegt?« fragte ich sanft und mild.

»Er meint ja nur den Walfisch hier in dem großen roten Buche,« verständigte mich Willy. »Komm, kleiner Bob, ich will ihn dir suchen.«

Ein Freudengeschrei Bobs zeigte plötzlich an, daß das Ungethüm gefunden war, und ich beeilte mich, es anzustaunen. Es war in der That ein schrecklich aussehendes Untier mit einem ungeheuren Rachen, den Bob mit seiner kleinen, dicken Hand streichelte und zärtlich küßte, indem er murmelte:

»Lieber oller Walfiß, diß hab iß lieb. Is Sonas aus deinem Magen wieder rausdelauft? Un nu hast du lieber Walfiß nißts su essen?«

»Natürlich ist Jonas wieder herausgegangen,« sagte Willy, »der ist ja schon längst im Himmel; da kam er bald darauf hin, als er in Ninive gewesen war und gethan hatte, was ihm der Herr befohlen. Jetzt wollen wir aber schaukeln, Onkel Heinrich.«

Die Schaukel befand sich auf der Veranda und war gegen den Regen geschützt, ich gehorchte daher. Nun stritten sich erst die beiden Jungen darum, wer zuerst schaukeln sollte, und als ich mich für Willy entschied, ging Bob heulend ab und erklärte, er wollte sich wieder seinen lieben Walfisch ansehen. Einen Augenblick später verwandelte sich seine Wehklage in einen durchdringenden Schrei. Als ich ihm zu Hilfe eilte, sah ich, wie er einen Finger hoch hielt und auf der Leiche einer Wespe herumtrampelte.

»Was ist denn nun wieder los, Bob?«

»Oh – oh – eh – eh – eh – ich that die Wepse nur schtreicheln, un die olle, darstige Wepse hat miß debeißt. Iß tann die Wepsen niß leiden, aber die Walfiße – oh – oh – eh – eh.«

Ein glücklicher Gedanke durchzuckte mich. »Ihr könnt ja mit der großen Spielzeugkiste auf eurem Zimmer Walfisch spielen.«

Ein langgedehnter Schrei des Entzückens folgte dieser Eingebung, und beide Jungen stürzten die Treppe hinauf, mich als freien Mann zurücklassend. Mit ziemlichen Gewissensbissen blickte ich nun auf den Tisch voll Bücher, die ich zum Lesen mitgebracht und schon seit einer Woche nicht angesehen hatte. Aber auch jetzt veranlaßte mich meine Reue nicht, sie zu öffnen – ich fühlte mich zu Thomas' Bibliothek unwiderstehlich hingezogen, und zwar zu den Novellen und Gedichten. Mein Auge fiel auf eine Liebesgeschichte, die ich bisher immer gemieden hatte, weil ich gefühlvolle junge Mädchen davon hatte schwärmen hören; jetzt nahm ich sie zur Hand und ließ mich in einen Lehnstuhl nieder. Plötzlich hörte ich Michels, des Kutschers, rauhe Stimme unten ertönen.

»Willst du wohl da herunter, du Schlingel! Na wart' nur, es ist ein Glück, daß dein Vater nicht sieht, wie du da herumkletterst. Mach, daß du da herunter kommst, sonst sage ich es sofort deinem Onkel!«

»Ach was, is miß danz edal, der olle darstige Ontel,« piepte Bobs Stimme.

Seufzend legte ich mein Buch zur Seite und eilte in den Garten hinunter. Als Michel mich sah, rief er:

»Herr Burton, sehen Sie doch nur den Jungen da!«

Ich blickte nach dem Fenster des Kinderzimmers und sah zu meinem Entsetzen, daß Bob auf der Fensterbank herumturnte.

»Sogleich gehst du hinein, Bob,« rief ich, eilte rasch unter das Fenster und breitete meine Arme aus für den Fall, daß er hinausstürzen sollte.

»Iß tann niß,« klagte Bob.

»Michel, gehen Sie schnell hinauf und reißen Sie ihn zurück. Bob, geh hinein, sage ich dir!«

»Iß tann dja niß, der Walfiß is dja d'in, un iß bin Sonas, un der Walfiß will miß aufessen.«

»Das darf er nicht, ich leide es nicht. Gleich gehst du jetzt hinein!«

»Willst du ihm einen Pfennis deben, daß er miß niß aufeßt?« fragte Bob.

»Ja, ja, einen ganzen Haufen Pfennige.«

»Du lieber Walfiß, iß miß niß auf, Ontel Heini diebt dir auch ville, ville Pfennisse, un iß taufe dir dann Bomboms für deine Pfennisse.«

Gerade in dem Augenblick packten zwei große Hände Bobs Kittel, und er verschwand mit einem kläglichen Geheul, während ich, fast einer Ohnmacht nahe, mich auf die Suche nach Hammer, Nägeln und einigen Latten machte, um das Fenster von außen zu vernageln. Da sich keine Latten finden wollten, ging ich in das Kinderzimmer und nahm ein paar Stücke der großen Kiste, die den Walfisch vorstellte. Ein jämmerliches Geschrei Bobs veranlaßte mich, in meiner Arbeit innezuhalten.

»Du thust dja meinem a'men Walfiß was, du hast seinen danzen Magen aufdereißt, du bist ein slester Mens – du thust mein Walfiß weh – eh – eh – eh, oh – oh!«

»Ich thu ihm ja nichts, ich mache nur sein Maul größer, dann kann er dich leichter wegschnappen.«

Das leuchtete Bob ein, und er lächelte unter Thränen. »Dann tann er Willy ja auch noch aufsnappen und hat dwei Sonas im Bauch – ha – ha – ha. Mach sein Maul so droß, daß er auch noch den ollen darstigen Mißel wegsnappen tann.«

Ich erklärte, daß Michel nicht wieder kommen würde; das beruhigte ihn einigermaßen und ich konnte mich wieder zurückziehen, nachdem ich das Fenster versichert hatte.

Zum zweiten Male machte ich mir's mit Buch und Cigarre bequem. Ich hatte nun wenigstens das Gefühl, ehrlich meine Arbeit gethan und so mein Wohlbehagen verdient zu haben. Das dauerte aber nicht lange. Bald kam Willy leise ins Zimmer geschlichen. Ich that so, als ob ich ihn nicht sähe, er ließ sich aber dadurch nicht aus der Fassung bringen.

»Onkel Heinrich,« sagte er – indem er sich mir auf den Schoß warf, »ich fühle mich garnicht wohl.«

»Was fehlt dir denn, alter Junge?« fragte ich ziemlich milde. Ehe er den Mund aufthat, hätte ich ihm am liebsten eins hinter die Ohren gegeben; aber in allem, was der Junge sagt, liegt ein gewisses Etwas, ein so inniges Gefühl, das einem unwillkürlich Hochachtung abzwingt.

»Ach ich habe gar keine Lust mehr, mit Bob zu spielen, und ich fühle mich so – so furchtbar einsam. Willst du mir nicht eine Geschichte erzählen?«

»Was soll dann der arme Bob thun?«

»Ach, das schadet nichts. Er hat eine tote Maus, die ist nun Jonas. Ich habe gar keinen Spaß mehr daran. Erzähle mir doch eine Geschichte.«

»Was soll es denn sein?«

»Erzähle mir etwas, das ich noch nie gehört habe.«

»Schön. Laß sehen, vielleicht von« –

»Ah – ah – ah – ah – ah – ah – ah –,« klang es unheilvoll aus der Ferne; dann kam es näher und näher die Treppe herunter und ins Lesezimmer – natürlich war es Bob, der, als er mich erspähte, sein unartikuliertes Schreien einstellte, beide Hände hoch hielt und jammernd ausrief:

»Sonas hat den Swanz deb'ochen!«

Wahr genug! In der einen Hand hielt Bob den Leichnam einer Maus und in der andern ihren Schwanz. Der Thatbestand war augenscheinlich, nicht nur die Gesichts- sondern auch die Geruchsnerven mußten ihn bestätigen.

»Pfui! baba! Bob, lauf' schnell und wirf diesen schlimmen Jonas in den Hühnerstall; ich schenke dir dann auch Bonbons.«

»Mir auch,« fiel hier Willy ein, »ich habe ihm ja die Maus erst gegeben.«

Beglückt trollten die beiden Kerlchen ab, um ihren Auftrag auszuführen. Nachdem ich dann durch die versprochene Bonbonspende noch das Gelöbnis erhalten hatte, daß sie nicht in den Regen hinausgehen wollten, ließ ich sie auf der Veranda herumtoben und kehrte zu meiner Lektüre zurück. Etwa sechs Seiten mochte ich gelesen haben, als ein immer stärker und stärker anschwellender Schrei Bobs an meine Ohren drang. Mit dem verzweifelten Entschluß, beide Jungen auf Stühlen festzubinden und ihnen ein Heftpflaster auf den Mund zu kleben, stürzte ich auf die Veranda hinaus.

»Willy hat mei Sucker'tänsen aufessen dewollt,« klagte Bob

»I wo,« entgegnete Willy.

»Was hast du denn gemacht?« herrschte ich ihn an.

»Ich hab' ja gar nicht rein gebissen, ich wollte nur mal sehen, wie es sich zwischen meinen Zähnen anfühlte – weiter nichts«.

Mühsam unterdrückte ich ein Lächeln über die Sophistik des kleinen Missethäters und eilte ins Lesezimmer zurück, wo ich über den demoralisierenden Einfluß nachdachte, den das Lächerliche auf den Menschen ausüben kann. Während einiger Zeit begnügten sich die Schlingels mit einem entsetzlichen Lärm, der in mir den Entschluß wachrief, irgend eine Methode ausfindig zu machen, um den Schall der Veranda-Fußböden zu dämpfen, für den Fall, daß ich einmal ein eigenes Landhaus besitzen sollte. In den gelegentlichen Pausen verhältnismäßiger Ruhe fing ich Bruchstücke einer höchst originellen Unterhaltung auf. Die Knaben hatten viele ganz eigenartige Ausdrücke erfunden, die immer sehr sinngemäß und treffend waren; aber ich mußte mich doch wundern, weshalb Thomas und Helene ihnen nicht die richtigen Bezeichnungen beigebracht hatten.

»Bob,« schrie da auf einmal Willy, »dort kommt ein Tontemann. Siehst du nicht, wie die Leute da draußen vorbeiziehen? Da muß ein Totenmann dabei sein.«

»Das is lußtis,« jauchzte Bob.

»Sieh doch nur all die Leute.« »Komm doch! Hallo! Totenmann!«

»Hallo! Totenmann!« wiederholte Bob.

Totenmann? Was sollte denn das heißen?

Meine Neugierde war stärker als mein Verdruß. Ich trat an das Vorderfenster, sah hinaus und bemerkte einen Leichenzug! In einer Sekunde war ich auf der Veranda und hatte die Kinder beim Kragen; eine Sekunde später befanden sich dieselben im Hausflur, die Thür war verschlossen und zwei energische Hände bedeckten zwei drohende Mäulchen.

Als der Zug am Hause vorbei war, ließ ich die Jungen los und mußte nun zwei langgedehnte Wehklagen für meine Mühe über mich ergehen lassen. Dann fragte ich Willy, ob er sich nicht schämte so zu reden, wenn ein Leichenzug vorüberginge.

»Das war kein Leichenzug, das war ein Totenmann, und Totenmänner können nichts hören.«

»Aber die Leute in den Wagen konnten es,« sagte ich.

»Ja,« sagte er, »die waren so froh, daß der andere Teil des Totenmannes in den Himmel gekommen war, daß sie garnicht hörten, was ich sagte. Jeder freut sich, wenn der andere Teil eines Totenmannes in den Himmel geht. Papa sagte, ich sollte mich nur freuen, daß der liebe kleine Philipp in den Himmel gekommen wäre, und ich that 's auch, aber ich möchte ihn doch furchtbar gern wieder sehen.«

»Iß will Philly auch sehen,« accompagnierte Bob, als ich Willy küßte und nach dem Lesezimmer eilte, da ich unfähig war, irgend eine weitere Belehrung oder Tadel zu erteilen. Eins war sicher – ich wünschte, daß der Regen aufhören würde, damit die Kinder hinausgehen könnten, und ich endlich ein bischen Ruhe und Freiheit hätte. Aber die tief herabhängenden dunklen Wolkenmassen schienen noch lange nicht welchen zu wollen, die Knaben maulten, und ich war nahe daran, meine Geduld ganz zu verlieren.

Plötzlich fiel mir etwas ein, was mir in meiner Kindheit stets großes Entzücken bereitet hatte: das Kleben von Albums. In einer Schublade lag ein großer Haufen von Damen-Journalen; Helene schien sie einbinden lassen zu wollen, aber ich konnte ihr ja die paar Nummern wiederkaufen, die höchstens ein paar Dollar kosten mochten; der Friede war zu diesem Preise sehr wohlfeil erkauft. Auf einem hohen Bücherbrett im Kinderzimmer hatte ich ein paar alte Kataloge gesehen; ein Glas mit Gummi und eine alte Schere fand sich auch, und so saßen denn innerhalb fünf Minuten zwei glückliche Kinder auf dem Teppich des Badezimmers; ich zeigte ihnen, wie sie die Bilder ausschneiden sollten (was sie übrigens fast besser verstanden als ich) und wie dieselben dann in das improvisierte Album eingeklebt würden. Dann verließ ich sie und phllosophirte lange über das »Recht auf Arbeit.« Warum war ich nicht schon längst auf den Gedanken gekommen, Kopf und Hände meiner Neffen angemessen zu beschäftigen? Wer konnte es ihnen denn verdenken, wenn sie mangels gehöriger Leitung ihres Thätigkeitstriebes auf Dummheiten verfielen? Wie oft hatte ich nicht im Elternhause, wenn ich mich zur Beschäftigung in Haus und Garten erst antreiben ließ, jenes so wahre Wort hören müssen: »Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Ich gelobte mir, nie wieder meine Neffen für alle Dummheiten, die sie begingen, verantwortlich zu machen, sobald dieselben auf mangelnder Befriedigung ihres Thätigkeitsdranges beruhten.

Ich hatte eine friedliche, angenehme Stunde über der Lektüre meiner Novelle verbracht, als ich das Bedürfnis nach einer neuen Cigarre fühlte. Um mir eine zu holen, stieg ich in den oberen Theil des Hauses hinauf und ertappte dort Willy dabei, wie er die Badewanne mit Wasser gefüllt hatte und Kähne, d. h. Haarbürsten und alles desgl., dessen er habhaft geworden war, in derselben schwimmen ließ. Das schien mir jedoch ein zu gelinder Verstoß, um einen Tadel zu rechtfertigen, und so ging ich vorüber, ohne ihn zu stören, und kehrte nach meinem Zimmer zurück. Hier vernahm ich Bobs Stimme, und da ich von meiner Schwester gehört hatte, daß Bobs Selbstgespräche sehr interessant wären, blieb ich draußen stehen und vernahm, wie der Junge leise vor sich hin murmelte:

»Tomm, hübse Dame, tomm hie'her; diß, tleiner Sung, setze iß zu deinem Mutting, Muttings wollen ihre Tinder dern bei sich haben. Dann tommt deine Swester an deine Seite. Swester un B'uder sein Mutting bist du nun froh? Is es niß dut, daß iß dir deine tleinen Tinder debe? Nu sag auch: danke szön, Bob – du bist ein lieber, tleine Mann.«

Vorsichtig öffnete ich die Thür, lugte hinein und trat dann schnell in das Zimmer. Im ersten Augenblick war ich sprachlos, denn es war unmöglich, völlig unvorbereitet dem sich mir darbietenden Anblick volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Bob war augenscheinlich zu der Ansicht gelangt, daß Bilder sich nicht allein auf ein improvisiertes Album zu beschränken brauchten, und hatte in richtiger Folgerung den Bilderschmuck auch auf die zarten, rosengemusterten Tapeten in dem Lieblingszimmer meiner Schwester ausgedehnt. Als Mitglied der Hängekommission eines Ausstellungs-Komités würde er freilich kaum die Anerkennung eines Kunstverständigen gefunden haben; doch hatte er wenigstens die Bilder ganz regelmäßig in der Höhe seiner eigenen Augen aufgeklebt und auch keinen Künstler vor dem andern bevorzugt, denn Genrebilder, Landschaften etc. wechselten in bunter Weise. Die Unterbrechung der Serie durch die Verbindungsthür hatte er dadurch zu beseitigen gewußt, daß er auch die Bekleidung derselben beklebte. Mit dem Gummi hatte er dabei nicht im geringsten gespart, und wenn hier und da Bilder herabgefallen waren, blieb doch dieser Klebestoff mit der ihm eigentümlichen Zähigkeit und dem ihm eigenen Glanz haften. Trotz aller Vorzüge dieser Kunstausstellung blieb ich jedoch ungerührt, und sobald ich meiner Stimme wieder mächtig war, erklang das Wort »Bob« in einem so furchtbaren Tone, daß der ganz in seine Arbeit vertiefte Künstler den Topf mit dem Gummi vor Schrecken fallen ließ und seinen Inhalt auf den kostbaren Teppich entleerte.

»Was wird Mama dazu sagen?« rief ich entsetzt.

Bob sah mich erst bestürzt, dann fragend an, und da er in meinem Gesicht weder eine Antwort noch Sympathie fand, brach er in Thränen aus und schluchzte:

»Weiß – weiß niß.«

In diesem Augenblick rief die Glocke zum zweiten Frühstück, und der bekannte Ton verwandelte Bob sehr rasch aus einem weinenden Cherub in einen recht praktischen Jungen. Mit den Worten: »Tomm doch, Willy,« ließ er mich allein und lief die Treppe hinunter, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie wohl am besten die Spuren des angerichteten Unheils zu entfernen wären.

Ich muß hier meinen Neffen Gerechtigkeit widerfahren lassen und einräumen, daß sie während der folgenden Mahlzeit sich sehr ruhig betrugen. Da sie von ihren beiden Hauptfähigkeiten, Essen und Sprechen, hier nur die eine wählen konnten, so entschieden sie sich einstimmig für das erstere, was für mich endlich eine ziemlich ruhige halbe Stunde zur Folge hatte. Erst als ich beim Dessert eine Melone zu zerschneiden begann, brach Willy das Schweigen:

»Onkel Heinrich, wir sind heute noch gar nicht bei der Ziege gewesen!«

»Willy,« erwiderte ich, »ich trage dich nachher unter einem Schirm zu ihr, und du kannst, wenn du willst, den ganzen Nachmittag mit ihr spielen.«

»Ei, das ist ja herrlich!« rief Willy. »Die arme Ziege! Sie wird denken, daß ich sie nicht ein bischen lieb habe, weil ich mich den ganzen Tag nicht um sie gekümmert habe. Kommen Ziegen in den Himmel, wenn sie sterben, Onkel Heinrich?«

»Das glaube ich nicht, sie würden sich dort viel zu unartig betragen.«

»Das ist aber schade! Dann kann ja der kleine Philipp meine Ziege gar nicht sehen. Das thut mir sehr, sehr leid.«

»Iß tann aber deine Tiege sehen,« tröstete Bob.

»Puh!« antwortete Willy verächtlich. »Du! Du bist ja nicht gestorben!«

»Na, eines ßönen Tages sterbe iß auch un dann tann iß die olle, darstisse Tiege auch niß mehr sehen,« sagte Bob und machte einen wütenden Angriff auf ein Stück Melone, das so groß war wie er selbst.

Nach dem Frühstück wurde Bob auf sein Zimmer geschickt, um sein gewohntes Mittagsschläfchen zu machen, und dann trug ich Willy unter dem Schutzdach eines Regenschirmes auf meinen Schultern in den Ziegenstall. Michel ließ sich durch eine Extraspende gern bereit finden, auf Willy besonders acht zu geben, und ja zu verhindern, daß er von dem Tier gestoßen oder gar aufgespießt würde. Dann machte ich es mir in einem Schaukelstuhl bequem und mußte mir da unwillkürlich die Frage vorlegen, ob denn wirklich erst ein halber Tag vergangen sei, seit ich mit dem anbetungswürdigsten aller Mädchen so unendlich glücklich gewesen war. Um wie viel glücklicher mußte ich erst sein, wenn ich erst wieder in ihrer Nähe weilen durfte! Gerade die entsetzlichen Qualen dieses Regentages mußten die Wonne des Wiedersehens desto größer und seliger machen! So träumte ich einige Minuten mit offenen Augen, dann fielen sie nach und nach zu, ohne daß ich es merkte. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich gerade von Schiffbruch, Donner und Blitz und rauschenden Meereswellen träumte. Als ich die Augen wieder aufschlug, hörte das donnerähnliche Geräusch nicht auf. Was war denn das nur? Schnell eilte ich auf die Veranda hinaus – jetzt erdröhnte der Donner gerade über mir. Im Nu war ich unten im Garten, sah hinauf und – erblickte meinen jüngsten Neffen, der auf dem Zinkdach der Veranda, einen großen, zerrissenen Regenschirm in den kleinen Fäusten haltend, in gemessener Würde auf- und abspazierte.

»Bob, du infamer Schlingel,« brüllte ich, »willst du machen, daß du da herunter kommst!«

Der Ton meiner Stimme mußte den jungen Mann gewaltig erschreckt haben. Seine Füßchen verloren den Halt und mit unheimlicher Geschwindigkeit und unter gräßlichem Geschrei rutschte der kleine Kerl nach dem Dachrande hinab. Ich sprang eiligst hinzu, um ihn aufzufangen, falls er herunterfallen sollte. Zum Glück erwies sich die Dachrinne als stark genug, den winzigen Körper aufzuhalten, wenn sie auch sein wildes Klagegeheul nicht vermindern konnte.

»Bob,« rief ich ängstlich, »bleib' ganz still liegen, bis Onkel zu dir kommt, verstehst du?«

»Sa, aber iß will niß till lieden,« kam die Antwort vom Dache. »Hier is dja darnißts als Himmel und 'egen.«

»Liege ja still,« wiederholte ich, »oder ich haue dich ganz fürchterlich durch.« Damit stürzte ich hinauf, zog meine Schuhe aus, kletterte durch das offene Fenster und brachte Bob glücklich in Sicherheit. Dann schüttelte ich erst ihn und darauf mich tüchtig.

»Iß hab' nur Mama pilen dewollt und Mama deht auch immer mit Sirm patschieren,« erklärte Bob.

Ich steckte ihn sofort wieder ins Bett und ging hinunter. Es war klar, daß weder Vernunftgründe, nach Drohungen, noch Lebensgefahr dieses schreckliche Kind davon zurückhalten konnten, zu thun, was ihm gerade einfiel. Welche andere Mittel, welchen Zwang sollte man denn anwenden? Obgleich ich nicht so fromm war, wie meine gute Mutter es wünschte, so fragte ich mich thatsächlich, ob vielleicht das Gebet als letzte Rettung helfen könnte. Zu seinem Besten und zu meiner eigenen Beruhigung nahm ich das Gebetbuch zur Hand. Kaum war dies geschehen, als Michel eine Audienz nachsuchte und mir über die unerhörten Missethaten Willys im Ziegenstall berichtete; der Bengel hatte der Ziege den Wagenschwamm zu fressen gegeben, verschiedene Händevoll Hafer in die Brunnenröhre gestopft, der schwarzen Stute einen Haufen Haare aus dem Schwanz gerissen und mit einem scharfen Nagel Bilder in den neuen Lack der Equipage gekratzt. Der kleine Sünder leugnete dies auch gar nicht, sah aber sehr betrübt aus und eröffnete mir mit einem Gesicht, das von tiefem Weltschmerz zeugte, daß er lieber gar nicht leben wolle, wenn er sich nicht »amüsieren« könne; wenn es nach ihm ginge, dürfte es auf der Welt niemand anders als Leierkastenmänner und Bonbonverkäufer geben. Er folgte mir ins Haus, warf sich hier in einen Stuhl, und mit einem Blick, wie ihn Byron gehabt haben muß, ehe er mit den zunehmenden Jahren boshaft wurde, rief er aus:

»Ich sehe gar nicht ein, warum kleine Jungens überhaupt auf der Welt sind; immer und immer wird gezankt und gescholten und nie dürften sie thun, was sie gern haben. Ich will wetten, daß, wenn ich in den Himmel komme, der liebe Gott lange nicht so garstig gegen mich ist wie Michel und – und gewisse andre Leute auch. Ich möchte wahrhaftig, ich könnte sterben und gleich begraben werden und die Ziege auch; dann würden wir zum Himmel gehen und dort würden wir gewiß nicht in einemfort Zanke bekommen.«

Armer kleiner Kerl! Zuerst lachte ich innerlich über seine Vorstellung vom Himmel und dann fragte ich mich, ob denn meine eigene Auffassung so sehr verschieden von der seinigen oder gar richtiger sei. Ich hatte jedoch keine Zeit, lange darüber Betrachtungen anzustellen. Willy war ganz naß, seine Schuhe waren voll Wasser und er hustete schon bedenklich. So trug ich ihn denn nach dem Kinderzimmer und kleidete ihn um, während ich darüber nachdachte, wie oft wohl mein eigener Vater mir gegenüber ähnliche Pflichten zu erfüllen gehabt hatte und um wie viele Tage sie sein Leben gekürzt haben mochten. Der Gedanke, daß all die Qualen, die mir meine Neffen bereiteten, in gewissem Grade eine Sühne meiner eigenen Kinderjahre seien, nahm meine Aufmerksamkeit so in Anspruch, daß ich Bobs Abwesenheit erst gar nicht bemerkte. Als ich endlich gewahr wurde, daß mein jüngster Neffe sich nicht mehr in seinem Bette befand, machte ich mich durch die früheren Erfahrungen beunruhigt sogleich auf die Suche. In keinem der vielen Zimmer war er zu finden; erst als ich auf den Boden hinaufstieg, hörte ich aus einer Kammer ein leises Gemurmel herausdringen; vorsichtig sah ich hinein und erblickte Bob, der in der Mitte auf der Erde saß und fröhlich den Käse aus einer Mausefalle verzehrte. Das Geräusch meiner Tritte mußte mich verrathen haben, Bob sprang auf und rief:

»Iß der tleinen Maus nißts than haben, iß hab sie nur ein tlein weniß rausdelassen un da, da laufte sie fort.«

Und noch immer regnete es. O, nur eine einzige Stunde Sonnenschein, damit der Schlamm draußen sich in gewöhnlichen Schmutz verwandeln und die Kinder im Freien spielen könnten, ohne andere Leute so unsäglich zu quälen! Aber es sollte nicht sein; langsam und mit Hilfe von Liedern, Geschichten und einer improvisierten Menagerie, in der ich alle möglichen Tiere darstellte, den Vogel Strauß und das Gürteltier mimte, neigte sich der Nachmittag seinem Ende zu, und ich fing an, erleichtert aufzuatmen. Nur noch eine oder zwei Stunden, und die Kinder wären eine ganze Nacht im Bette, und dann würde ich den Genuß der paar friedlichen Stunden, die mir dann noch blieben, in höchster Potenz auskosten dürfen. Jetzt bereits schienen die Kinder geneigt, sich ruhiger betragen zu wollen, denn sie waren müde und hungrig geworden und legten sich im Eßzimmer auf den Fußboden, um das Essen zu erwarten. Ich ergriff die Gelegenheit, um zu meinem Buche zurückzukehren, aber kaum hatte ich eine Seite gelesen, als ein fürchterliches Gekrach und darauffolgendes Geschrei mich in das Speisezimmer zurückrief. Auf dem Fußboden lagen Bob, verschiedene Schüsseln, eine geschmorte Kalbskeule, diverse Gemüse, die Butterdose samt Inhalt und verschiedene andere Eßwaren in malerischem Durcheinander. Zu meinem größten Schrecken bemerkte ich dann noch, daß der siedende Inhalt der Suppenterrine sich auf Bobs Arme ergossen hatte; wie gräßlich konnte sich der Junge verbrüht haben! Rasch schnitt ich den Ärmel vom Handgelenk bis zur Schulter auf und fand die Haut bedenklich rot. Da erinnerte ich mich zum Glück, wie meine Mutter Brand- und Brühwunden immer zu behandeln pflegte, und strich schnell etwas Kartoffelbrei auf eine reine Serviette, mit der ich dann den Arm des kleinen Verwundeten fest umwickelte. Jetzt erst erkundigte ich mich nach dem Hergang.

»Iß hab nur ein Stückßen B'ot nehmen dewollt,« schluchzte Bob, »un da – da der olle böse Tiß fallte um – un – un hat alles auf miß d'auf deßmissen!«

Er sagte zweifellos die Wahrheit, so gut er sie wußte. Aber es ist eben eine sehr schlechte und gefährliche Angewohnheit kleiner Jungen, über gedeckte Tische zu langen, besonders, wenn ihre Mütter noch an altmodischen Erbstücken hängen, die nicht mehr fest auf den Beinen stehen. Deshalb wurde Bob ohne weiteres ins Kinderzimmer verbannt, wo er mit leerem Magen über seine Missethaten nachdenken und in Sack und Asche Buße thun konnte. Mit Willy allein hielt ich dann ein vorzügliches, wenn auch kärgliches Mahl von dem, was aus dem durch Bob verursachten Schiffbruch noch gerettet worden war, und ging darauf hinauf, um zu sehen, ob der kleine Sünder auch wirklich zerknirscht sei. Das war nun schwer zu sagen, denn als ich eintrat, drehte er mir gerade den Rücken zu und quetschte seine Nase gegen die Fensterscheibe. Eins sah ich aber auf den ersten Blick: der Verband war verschwunden.

»Wo hast du denn das gelassen, was dir Onkel um den Arm gelegt hat?« fragte ich.

»Hab iß aufdedessen,« erwiderte kurz der wahrheitsliebende Jüngling.

»Hast du die Serviette auch aufgegessen?«

»Nein, die olle Fersiette hab iß aus dem Fenster dewerft, will in meiner tleinen Stube teine olle smutzise Fersietten.«

Ich war nur froh, daß er nach all dem weiter keinen Schaden davongetragen hatte, und in dieser versöhnlichen Stimmung vergab ich ihm die meiner Serviette zugefügte Beleidigung. Dann rief ich Willy, um endlich die beiden Quälgeister zu Bett bringen zu können und mich von den unwürdigen Sklavenketten zu befreien, in denen ich den ganzen Tag geschmachtet hatte. Diese Aufgabe war aber keine so leichte. Natürlich muß mein Schwager, Thomas Lawrence, besser als irgend jemand die Bedürfnisse seiner eigenen Kinder kennen, aber das steht fest, niemals sollen meine Kinder ein solches Virtuosentum im Mißbrauch meiner väterlichen Geduld erreichen dürfen. Sie hatten ein gar zu reichhaltiges Programm in ihren Wünschen: Geschichten-Erzählen, Lieder-Vorsingen, Pfennige-Schenken, Hineinwerfen derselben in die zinnernen Büchsen, anhaltendes Klappern damit; dann die Gebete und zwar keins der gebräuchlichen, sondern nach den eigenen Entwürfen der Racker, darauf die gewöhnlichen Abendgebete und schließlich der übliche Austausch von »Behüt dich Gott« u. s. w. Als ich mich endlich an diesem Abend zurückziehen durfte und ihre unschuldigen Segenswünsche mir noch im Ohre wiedertönten, veranlaßte mich das Gefühl vollständiger körperlicher und geistiger Hinfälligkeit, ihrem »Amen!« recht aufrichtig und inbrünstig zu antworten.

O ihr Mütter unserer Knaben! Laßt mich an dieser Stelle dem Gefühl unbegrenzter Hochachtung Ausdruck geben, einer Hochachtung, die sich nicht in Worte fassen läßt! Wie verschwinden die größten Wunder der Welt gegen euer erhabenes Wirken, das uns jene staunende Bewunderung abzwingt, wie sie der gläubige Katholik der Jungfrau Maria entgegenbringen mag. Ein einziger Tag hatte genügt, um mich, einen kräftigen jungen Mann, in einen Zustand vollständiger körperlicher und geistiger Erschöpfung zu versetzen und das nur durch die Anforderungen zweier nicht ungewöhnlich mutwilliger oder gar schlechter Knaben. Und ihr! – ihr ertragt Tage, Wochen, Monate, ja jahrelang, das ganze Leben hindurch dasselbe, und dazu ruht – der Himmel weiß, wie ihr es tragen könnt – noch die ganze Bürde des Haushalts auf euch, körperliche Leiden und Beschwerden, seelische Qualen nagen an eurem Dasein! Verglichen mit eurer Dulderkraft ist die Stärke des Athleten eitel Kinderspiel; das Geheimnis eurer Nerven ist gerade in ihrer Schwäche so wunderbar, ist ein Rätsel ebenso groß wie die Gewalt der Naturkräfte. Was ist die zähe Klugheit der Staatsmänner gegen eure Dulderstärke, was der Heldenmut auf dem Schlachtfelde gegen euren Heroismus! Die Spötter sagen, ihr könntet die Zügel der Regierung nicht leiten? Es ist leichter, über eine Herde von Wilden zu herrschen, als in eurem kleinen Königreich Herr zu sein. Mit dem Mann verglichen sind selbst eure Fehler noch Tugenden. Mögen dieselben sein, welche sie wollen, euer großer, geheimnisvoller, unerreichbarer Erfolg stellt jene in Schatten, erhebt euch über den Feldherrn, den Herrscher, den Priester!

Diese hier wiedergegebenen Betrachtungen gingen mir durch den Sinn, als ich auf dem Bette lag, auf das ich mich im Zustand völliger Erschöpfung geworfen hatte. Dort lag ich noch völlig angekleidet und in unbequemer Stellung, wie ich zu meiner Überraschung bemerkte, als ich am andern Morgen aus einem zwölfstündigen bleiernen Schlafe erwachte. Zunächst bemerkte ich, daß ein großer, umfangreicher Brief unter die Zimmerthür geschoben worden war. Wäre es möglich, daß mein Liebling –, rasch griff ich nach dem Umschlag – er zeigte die Handschrift meiner Schwester. Das bedeutende Volumen schien auf ein sehr umfangreiches Schreiben zu deuten – eines solchen hatte meine Frau Schwester mich bisher noch nie für würdig befunden. Ich öffnete das Couvert und heraus fiel eine Einlage, voraussichtlich wieder ein ganzes Verzeichnis von allen möglichen und unmöglichen Sachen, die ich einpacken und hinschicken sollte. Dann las ich folgendes:

 

»Am 1. Juli 1875.

Mein lieber, alter Bruder! Wie gerne möchte ich Dir sans façon um den Hals fallen und Dich so recht schwesterlich umarmen! Ich bin außer mir vor Freude darüber! Wer hätte sich auch vorstellen können, daß Du jenes herrliche Mädchen gewonnen hast, das schon an so viele höchst annehmbare Freier die umfangreichsten Körbe ausgeteilt hat, Du, mein nüchterner, praktischer, unromantischer Bruder – o, es ist wirklich herrlich! Und wenn ich es mir genau überlege, paßt gerade Ihr beiden so recht für einander. Wie schön wäre es, wenn ich nun sagen könnte, ich bin es ja eigentlich gewesen, die Euch beiden Leutchen zusammen gebracht hat, denn nur aus diesem Grunde habe ich Dich nach Hillcrest eingeladen. Das wäre so eine rechte Freude für mich, aber leider – ist es nicht wahr. Du hast ja auch immer gerade das gethan, was Dir beliebte und was niemand erwartete. Jetzt hast Du Dich aber selbst übertroffen.

Und der Gedanke, daß meine herzigen kleinen Lieblinge einen so hervorragenden Anteil an Eurem Herzensbunde gehabt haben! Das ist nun voll und ganz mein Verdienst. Denn wo hättest Du eine solche Unterstützung gefunden, wenn ich nicht gewesen wäre, verehrter Herr Bruder? Na, ich hoffe, daß Du Dich Weihnachten dafür geziemend erkenntlich zeigen wirst.

Ich glaube, daß ich mich keines Vertrauensbruches schuldig mache, wenn ich Dir die Anlage sende, die ich soeben von meiner Schwägerin in spe erhalten habe. Sie wird Dir einige Anhaltepunkte über die Ursachen Deines Erfolges bei ihr geben, an die Du bei der angeborenen Arroganz der männlichen Natur gewiß nicht gedacht hast, und wird Dich über die erste und so natürliche Besorgnis eines Mädchens in ihrer Lage aufklären, eine Besorgnis, die Du, soweit ich Dich kenne, schleunigst zerstreuen wirst. Da Du ein Mann bist, bist Du aber wahrscheinlich zu einfältig, um zwischen den Zeilen zu lesen, und so teile ich es Dir denn offen mit: Alice fürchtet nämlich, daß sie durch ihre schnelle und leichte Übergabe den Schein mangelnder weiblicher Zurückhaltung und Selbstachtung auf sich geladen habe. Daß diese Eigenschaften gerade ihr am allerwenigsten fehlen, brauche ich Dir wohl nicht erst zu versichern.

Gott behüte Dich, alter Junge. Du verdientest wahrhaftig Prügel, wenn Du Dich jetzt nicht für den Glücklichsten unter der Sonne halten würdest. Ich kann es hier nicht mehr lange aushalten, ich muß nach Hause, um Euch mit meinen eignen Augen zu sehen und mich zu überzeugen, daß diese wundersame Geschichte wirklich wahr ist. Gieb Alice einen Schwesterkuß von mir (wenn Du überhaupt über verschiedene Sorten Küsse verfügst), und meinen Engeln jedem deren hundert von ihrer Mutter, die sich nach einem baldigen Wiedersehen sehnt.

Mit vielen Grüßen und Segenswünschen

Deine Dich liebende Schwester
Helene.«

 

Der andere Brief, den ich mit großer Ehrfurcht und noch mehr Entzücken las, lautete folgendermaßen:

 

»Liebe Helene!

Es hat sich etwas sehr Wichtiges ereignet, und ich bin sehr glücklich darüber, aber zugleich auch beunruhigt, und da Du eine nahe beteiligte Person bist, beichte ich Dir so schnell wie möglich.

Heinrich, Dein Bruder, meine ich, wird Dir, falls es nicht schon geschehen ist, jedenfalls baldigst mitteilen, was sich zwischen uns ereignet hat, und ich möchte Dir so bald wie möglich feierlichst versichern, daß ich nicht die leiseste Ahnung davon hatte, daß sich derartiges ereignen könnte, und daß ich nicht das geringste dazu beigetragen habe, daß es so gekommen ist.

Ich habe Deinen Bruder immer für einen prächtigen Menschen gehalten und mich auch nie gescheut, dies offen auszusprechen, wenn ich nur Mädchen als Zuhörerinnen hatte. Hier draußen aber habe ich ihn mehr als je schätzen gelernt. Ich muß ausdrücklich betonen, daß er es nicht darauf angelegt hat, sich in ein gutes Licht bei mir zu setzen. Wenn die verschiedenen Situationen, in denen ich ihn vor mir gesehen habe, einstudiert gewesen wären, so müßte er sicherlich der originellste Mensch sein, von dem ich je etwas gehört habe. Deine Kinder sind Engel – so hast du mir ja selbst gesagt – und ich kann es aus eigener Erfahrung bestätigen; daß sie aber darauf ausgehen, ihren Onkel in besonderes Ansehen zu bringen, kann man gerade nicht behaupten. Was hat der unglückselige Mann ihretwegen manchmal für eine Figur spielen müssen! Ich will es dir nicht auf dem Kapier beschreiben, aus Furcht, er könnte es einmal zu sehen bekommen und sich dann gekränkt fühlen. Trotzdem verlor er den kleinen Schlingeln gegenüber nie die Geduld; er widmete sich ihnen in wahrhaft rührender Weise, und das war es gerade, was mir an ihm gefiel. Ich konnte mich der Überzeugung nicht verschließen, daß ein Mann, der so liebreich und gütig gegen unvernünftige und gedankenlose Kinder sein konnte, geradezu anbetungswürdig und unwiderstehlich für die Frau sein müsse, die er liebt. Doch hatte ich nicht die blasseste Ahnung, daß ich diese Frau sein würde. Endlich kam der Tag, jener Tag, dessen glückseliges Verhängnis ich nicht im geringsten ahnte. Dein kleiner Bob verletzte sich ein klein wenig und bestand darauf, daß ihm dein Bruder einen nicht besonders geistvollen Vers vorsingen sollte – und das gerade, als Heinrich bei einem Dutzend junger Damen den angenehmen Schwerenöther spielte. Wenn du nur sein Gesicht hättest sehen können, Helene – es war zu komisch, wie unendliche Verlegenheit und wilder Grimm in ihm kämpften, wie sich dann allmählich sein Ärger in Besorgnis für den armen Burschen verwandelte, und wie er dann mit einem Male nur Zärtlichkeit und Liebe war. Da wünschte ich für einen Augenblick, daß all der konventionelle Zwang nicht existierte und ich ihm sogleich hätte – sagen können, daß er mein Ideal sei. Später goß mir dein Jüngster einen Teller Suppe aufs Kleid (ärgere dich nicht, es war gewöhnlicher Mousselin und läßt sich waschen). Natürlich mußte ich mich umziehen, und als ich mich zurückgezogen hatte, kam mir der glückliche Gedanke, eine so umständliche Toilette zu machen, daß ich nicht rechtzeitig fertig werden konnte, um mich an dem gewöhnlichen Abendspaziergang der anderen Damen zu beteiligen; daraus ergab sich für mich die Chance, einmal einen Herrn ein Halbstündchen für mich allein zu haben – ein Vorzug, den, zur Schande aller Herren in Hillcrest sei es gesagt, in diesem Sommer noch keine Dame hier gehabt hat. Jedesmal, wenn ich durch die Gardine lugte, um mich zu vergewissern, ob die andern Mädchen nicht schon fort seien, konnte ich ihn sehen, bemerken, wie er so besorgt über die beiden Kleinen wachte und sich mit ihnen freute, als ob er ihre Mutter sei. Da dachte ich: wie gut ist er doch! Als ich endlich wieder erschien, zeigte er aufrichtige Freude, und ich muß gestehen, daß ich mir auf das stillschweigende Kompliment, das hierin lag, etwas ganz Besonderes einbildete; alles, was er mir sagte, schien mir bedeutsamer, als wenn es aus dem Munde eines Mannes gekommen wäre, der nicht so gut wie er war. Dann kam dein Ältester auf den Gedanken, mir eine zwischen ihm und seinem Onkel stattgefundene intime Unterhaltung haarklein mitzuteilen, und das Ende war, daß – Heinrich sich erklärte. Er war nicht im geringsten verwirrt oder romantisch dabei, wohl aber offenherzig und echt männlich. Ich war wie betäubt und konnte kein Wort über die Lippen bringen. Dann küßte mich der unverschämte Mensch, und ich verlor mehr als je die Herrschaft über meine Zunge. Hätte ich vorher von seinen Gefühlen etwas geahnt, dann würde ich mich besser vorbereitet und mich gefaßter benommen haben; aber, Helene, eigentlich bin ich doch froh, daß ich's nicht gethan habe. Ich würde das glücklichste Mädchen von der Welt sein, wenn ich nicht fürchten müßte, daß du und dein Mann denken könntet, ich hätte mich zu leichtfertig und schnell hingegeben! Was die anderen Leute betrifft, so läßt es sich ja ganz gut machen, daß sie in den ersten Monaten noch nichts davon erfahren.

Schreibe mir, daß du mich nicht tadelst und gieb mir die Zuversicht, daß du mich als Schwester annehmen willst; denn wieder aufgeben kann ich Heinrich nicht, solltest du auch bereits eine Vollkommenere, Würdigere für ihn ausgesucht haben.

Deine aufrichtige Freundin
Alice Mayton.«

 

Konnte es wohl ein wonnigeres Erwachen geben? Der ganze Übermut meiner Knabenjahre schien plötzlich in mir wieder wach geworden zu sein, und anstatt alles das zu thun, was die Romanschreiber in solchen Momenten von ihren Helden verlangen, schrie ich aus voller Kehle: »Hurra!« und tanzte so stürmisch ins Kinderzimmer, daß Willy sich im Bett gerade aufrichtete und mich mit einem Blicke tiefen Vorwurfs ansah, während Bob herzlich laut auflachte und fröhlich mittanzte. Da bemerkte ich erst, daß der Regen aufgehört hatte und die Sonne heiter vom Himmel herunterlachte – ich konnte also Alice spazieren fahren und die Kinder einmal sich selbst überlassen. Doch plötzlich ging es mir wie ein Stich durchs Herz, als ich daran dachte, daß meine Ferien bald zu Ende waren, und eine verzehrende Ungeduld befiel mich bei dem Gedanken, wie viel länger Alice wohl in Hillcrest bleiben würde. Es wäre grausam ihr vor Ende August die Stadt zu wünschen, aber ich –

»Onkel Heinrich,« bemerkte da Willy höchst nachdrücklich, »mein Papa sagt, es schickt sich nicht, daß man sich so hinsetzt, wie du und sich allerlei zurechtdenkt, ehe man sich morgens das Haar gebürstet hat. So sagt mein Papa zu mir

»Bitte um Verzeihung,« sagte ich in einiger Verwirrung aufspringend und ganz zerknirscht, »ich dachte an eine Sache von großer Wichtigkeit.«

»Ach, wohl an meine Ziege?«

»Nein, natürlich nicht. Sei doch nicht so albern, Willy.«

»Na, ich denke immer bloß an sie, und das ist doch nicht albern. Ich hoffe doch, daß sie in den Himmel kommt, wenn sie stirbt. Haben die Engel eigentlich auch Ziegenwagen, Onkel Heinrich?«

»Nein, alter Junge, sie können ohne Wagen spazieren fahren.«

»Wenn iß in Himmel tomme,« sagte Bob, indem er sich im Bett aufrichtete, »b'inge vill Tiedenwaden und fahle die duten Engel alle patschieren.«

Eine ganze Reihe ähnlicher Prophezeiungen und Himmelsphantasien mußte ich noch über mich ergehen lassen und eilte deshalb hinaus, um im Garten mich ungestört meinen Gedanken überlassen zu können. Als ich beim Hühnerhof vorbeikam, sah ich zufällig eine nachdenkliche Schildkröte daliegen; ich hob sie auf und rief meine Neffen, um ihnen das Tier zu zeigen. Die Fensterflügel ihres Zimmers flogen sofort auf und ein einstimmiges »Oh« begrüßte meinen Fund.

»Wo hast du sie gefunden, Onkel Heinrich?« fragte Willy.

»Unten beim Hühnerstall.«

Willy riß die Augen weit auf; er schien sich einem tiefen Nachdenken zu überlassen; dann rief er:

»Ich dachte nicht, daß die Hühner so große Dinger legen können. Bitte, lege sie so lange in deinen Hut, bis ich runter komme.«

Ich zog vor, die Schildkröte in Willys Schubkarren zu deponieren, und machte dann einen Gang durch den Garten. Die Blumen, die für mich von jeher eine Art Beredsamkeit besaßen, hatten plötzlich ganz neue Reize für mich. Der wundervolle Anblick riß mich so weit fort, daß ich, der nüchterne, ernste Geschäftsmann zum Poeten wurde. Ich konnte dem inneren Drange nicht widerstehen, obgleich, wie ich einräumen muß, das Resultat ein sehr armseliges war:

»Bescheiden wie das Veilchen blau
Bist du und wie ein Himmelstau;
Du hast der holden Rose Glanz,
Der Lilie gleichst du voll und ganz;
Bist meines Lebens höchstes Glück,
Mein Fühlen, Atmen, mein Geschick –«

Wenn ich dem Leser dieses Bruchstück meiner Poesie vorlege, habe ich nicht im entferntesten den Gedanken, daß er dasselbe vielleicht schön finden soll. Ich führe es nur an, um eine spätere Erfahrung verständlicher zu machen. Als ich diese elenden Verse fertig hatte, bemerkte ich, daß ich weder Bleistift noch Papier hatte, um sie aufzuzeichnen. Sollte ich sie verloren gehen lassen? Mein erstes selbstverfaßtes Gedicht? Um keinen Preis! Es war nicht das erste Mal, daß ich etwas nur in meinem Gedächtnis aufbewahrt hatte. So wiederholte ich meine »kostbaren« Verse immer und immer wieder, bis das beredte Gefühl, dessen stümperhafter Ausdruck sie waren, mich veranlaßte, meine Deklamation immer lauter werden zu lassen. Sechs – acht – ein Dutzend – zwanzig Mal sagte ich diese Worte her und begleitete sie mit immer stärkeren Gesten, bis ich eine dünne Stimme neben mir hörte:

»Ontel Heini, du thust sa derade so, als ob du swimmst.«

Als ich mich umdrehte, bemerkte ich meinen Neffen Bob. Wie lange er hinter mir gestanden hatte, wußte ich nicht. Er sah mir ernsthaft in die Augen und bemerkte dann:

»Ontel Heini, dein Desißt is danz naß, es sieht danz so aus wie ein Josenbukett.«

»Komm nur schnell hinein, wir wollen frühstücken,« befahl ich ihm laut, während ich innerlich grollte: »Die Jungens sehen doch aber auch alles.«

Sogleich nach dem Frühstück schickte ich Michel mit einem Briefchen an Alice, in welchem ich sie benachrichtigte, daß ich mir das Vergnügen machen würde, sie nachmittag um zwei Uhr zu einer Fahrt nach dem Wasserfall abzuholen. Dann stellte ich mich den Jungen widerstandslos für den Morgen zur Verfügung, indem ich ausdrücklich betonte, daß sie später auf mich nicht rechnen könnten. Zuerst mußte ich den Ziegenbock anschirren, welchem Befehl ich gehorchte. Dann beschränkte ich mich darauf, das würdige Tier zu bewachen, während es meine Neffen in dem Gartenwege auf und ab zog. Der Bock schnitt dabei ein so ehrwürdiges Gesicht, als läge ihm nichts ferner denn Ausreißergedanken, falls ich einmal den Rücken wenden sollte. Dabei quietschten die Räder des Wagens so entsetzlich, daß ich den vollen Ruin meiner Gehörnerven besorgte, und ich überredete daher die Jungen, so lange auszusteigen, bis ich die Achsen geschmiert hätte. Es war eine halbstündige, recht schmutzige Arbeit, die mir jedoch durch den weisen Rat der beiden Knaben angenehm versüßt wurde. Dann spannte ich das gehörnte Roß wieder in die Schere, Willy knallte mit der Peitsche, der Wagen setzte sich sanft und geräuschlos in Bewegung – Bob aber fing an, bitterlich zu weinen.

»Der Waden is sja dans entwei, die 'äder singen niß ein bißen mehr,« jammerte er, während Willy bemerkte:

»Mir kommt der Wagen jetzt so einsam vor, wenn er fährt, meinst du nicht auch, Onkel Heinrich?« Bald darauf fuhr er mit der ihm eigenen Schnelligkeit des Gedankenwechsels fort: »Weißt du, wie es kommt, daß es donnert?«

»Gewiß, Willy, das kommt daher, daß zwei Wolken auf einander stoßen, und das nennt man donnern.«

»Nein, haha, das ist ganz – ganz anders. Als es gestern donnerte, fuhr der liebe Gott mit einem großen Wagen durch den Himmel und das rummelte so. Das war der Donner.«

»Iß tann den ollen Donner niß leiden,« bemerkte Bob. »Er tommt immer in unse'n Teller un macht die ßöne Milli sauer. Dann hat Bob teine Milli zum Lühstück.«

»Aber wenn der liebe Gott mal so durch den Himmel fährt und alle die Engel hinter ihm her fliegen, das sieht mal schön aus,« fuhr Willy fort. »O, es ist prachtvoll schön, wenn sein großer Wagen so rummelt und es dann so toll bummst!«

»Wo hast du das denn gesehen, Willy?« fragte ich.

»Weißt du denn nicht, was das ist, wenn der Donner so bullert und bummst, und man dann im Himmel einen furchtbar hellen Fleck sehen kann? Dann ist der Wagen vom lieben Gott irgendwo gegen gefahren und hat ein großes Loch in den Himmel gerissen. Aber warum kann man denn durch die Löcher niemand im Himmel sehen?«

»Das weiß ich nicht, alter Junge. Ich glaube auch nicht, daß die hellen Flecke Löcher sind; es ist nur ein Feuer, welches der liebe Gott im Himmel anmacht. Wenn du größer bist, wirst du das alles schon besser verstehen lernen.«

»Ach, bloß Feuer? Das ist aber lange nicht so hübsch. Kennst du auch das komische Lied, das Papa immer darüber singt:

»Donnerrollen, Blitzesleuchten,
Preist des großen Schöpfers Macht.«

Ich weiß nicht ganz genau, was er eigentlich damit meint, aber es klingt immer so prachtvoll; meinst du nicht auch, Onkel?«

Ich kannte das alte Lied sehr wohl; hatte ich es doch schon gehört, als ich auch noch solch ein Knirps wie Willy war. Ich segnete im stillen sein empfängliches Herz und drückte ihn an mein Herz. Doch sofort kam der alte Adam in dem Jungen wieder zum Vorschein.

»Onkel Heinrich,« verlangte der Schlingel, »kriech doch mal auf allen Vieren und sei mein Hottopferd; ich möchte mal auf deinem Rücken reiten.«

»Danke, Willy, das ist mir denn doch zu schmutzig.«

»Weißt du, dann wollen wir Menagerie spielen, und du mußt uns alle Tiere vormachen.«

Auf diesen Vorschlag ging ich ein, und nachdem wir uns in einen entlegenen Winkel des Hauses zurückgezogen hatten, damit niemand merke, wer denn die friedliche Stille des Morgens durch ein so grausiges Geschrei störe, begann die Vorstellung. Ich war nach einander Bär, Löwe, Elefant, Hund der verschiedensten Racen und zum Schluß eine Katze. Als ich das letztgenannte Tier darstellte, ahmte Bob meine Stimme nach.

»Miau! Miau! So saden die Miesetatzen, wenn sie in B'unnen defallt sind.«

»Ja, das weiß der kleine Racker wohl,« bemerkte Michel, der unaufgefordert einen Freiplatz in unserer Menagerie eingenommen hatte und bei dem Applaus, der jeder Nummer folgte, redlich mithalf. »Halten Sie's wohl für möglich, Herr Burton? Der Schlingel hat sich einmal in aller Morgenfrühe vor die Thür geschlichen und ist dann nur in seinem Nachtkittelchen über den Doktor seinen Hof nebenan gekrabbelt. Da hat er die Katze, die vor der Thür lag, erwischt und sie in den Brunnen geschmissen. Der Doktor war nicht zu Hause, aber das Fräulein hat es gesehen, und der hat das arme Tier so leid gethan, daß sie gleich rausgelaufen ist und ein paar Bretter in den Brunnen geworfen hat, damit das arme Beest sich retten konnte. Dann hat sie in einem alten Eimer das arme Vieh wieder herausbugsiert. Fast dreißig Thaler hat aber der Herr blechen müssen, um den Brunnen wieder reine machen zu lassen.«

»Sa,« fügte Bob hinzu, der mit größter Aufmerksamkeit Michels Erzählung gefolgt war, »un die Miesetatze sagte: ›Miau, miau,‹ wie sie in den B'unnen nunterbullerte. Un das F'äulein hat desagt: ›Pfui, sleßter Sunge, deh nach Haus un tomm niß wiede her.‹ Sa, so hat F'äulein Dotter desagt. Nu aber noch mehr Tiere, Ontel Heini. Tannst du auch ein Walfiß sein?«

»Walfische können gar nicht schreien, Bob. Die plätschern nur im Wasser.«

»Na, denn tomm un t'auch' in die d'oße 'egentonne und thu fuchbar plätschen.«

.


 << zurück weiter >>