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Viertes Kapitel

Der nächste Tag war ein Sonntag. Da ich voll und ganz an die bindende Kraft und die weltliche Weisheit des dritten Gebotes glaube, soweit es sich auf die Ruhe bezieht, hatte ich die Absicht, gewissenhaft zwei Stunden länger zu schlafen, als ich es mir in der Woche gestattete. Da ich indessen außer meiner puritanischen Gewissenhaftigkeit auch einen puritanischen Abscheu vor der Verschwendung geerbt habe, blieb ich Sonnabends Abends regelmäßig zwei Stunden länger auf, und der vorangegangene Sonnabend hatte keine Ausnahme von dieser Regel gebildet, wie der Leser meiner obigen Beichte entnommen haben wird. Um 5 Uhr 30 Minuten erfuhr ich jedoch, daß meine Neffen anders über das Gesetz des Moses dachten. Sie waren nicht allein wach, sondern sie zankten sich sogar schon so heftig und laut, daß ich jedes Wort hörte. Mit schläfriger Herablassung suchte ich diese geräuschvollen Gesetzesübertreter zu ignorieren, aber urplötzlich wurde mir die Lehre von der stellvertretenden Buße greifbar vor Augen gebracht durch ein Wurfgeschoß, das mit mehr Wucht als Gewicht gegen mein Nasenbein flog und sich mit ganz unnötiger Kraft in meine Augenhöhlen drängte. Nach einem Augenblick schmerzlicher Überraschung, in dem ich nicht begreifen konnte, wie dieses Wurfgeschoß durch geschlossene Thüren und Fenster käme, griff ich danach und sah, daß mein Schmerz durch eine jener Puppen verursacht wurde, und da dieselbe äußerst schmutzig, war die Vermutung jedenfalls berechtigt, daß Bob der Eigentümer jenes Geschosses sei; dann entdeckte ich auch, daß die Thür zwischen den Zimmern offen stand.

»Wer hat die Puppe geworfen?« rief ich mit Strenge.

Keine Antwort.

»Hört ihr denn nicht?«

»Was wünschest du, Onkel?« fragte Willy äußerst höflich.

»Wer hat die Puppe geworfen?«

»Wa–a–s?«

»Ich frage, wer die Puppe geworfen hat?«

»Nun, niemand.«

»Bob, wer hat die Puppe geworfen?«

»Willy hat deworfen«, erwiderte Bob in halbunterdrückten Tönen, die verrieten, daß sich eine brüderliche Hand energisch auf seine kleinen Lippen legte.«

»Warum thatest du das, Willy?«

»W–ei–l, w–ei–l, du siehst – weil – Bob werfte mir seine Puppe gerade in den Mund, ihr altes Haar kam mir in den Mund, und ich wollte seine Puppe nicht in meinen Mund und werfte sie zurück, und das Bett war nicht hoch genug, so flog die Puppe ganz von selbst zu dir ins Bett.«

Diese Erklärung schien sehr wahrscheinlich, doch das linderte meinen Schmerz im Auge nicht. Die Anstrengung des Verhörs hatte mich außerdem so völlig wach gemacht, daß an Schlaf gar nicht mehr zu denken war. Und dann – was hatte die offene Thür zu bedeuten? War ein Dieb in dem Zimmer gewesen? Nein, meine Uhr und meine Brieftasche lagen noch da.

»Willy, wer hat die Thür aufgemacht?«

Nach einigem Zögern, als ob der Attentäter ungewiß sei sagte Willy: »Ich Onkel.«

»Wie machtest du denn das?«

»Ja, wir wollten trinken, und die Thür war fest zu, und da stiegen wir aus dem Fenster auf die Miranda und kommten in dein Fenster.« (Hier entstand eine kleine Pause.) »Das war mal'n Spaß! Dann riegelten wir die Thür auf und konnten wieder zurück.«

So mußte ich also des Nachts die Fenster in ihrem oder meinem Zimmer zuriegeln, und das mitten im Sommer! O wenn doch nur Helene gerade vor dem Hause vorbeigekommen wäre und diese weißgekleidete Prozession auf dem Verandadache gesehen hätte! Ich grübelte eben über den ungeheuren Vorrat an Scharfsinn nach, der in den Tausenden von Kinderköpfen unbenutzt aufgespeichert ist und der nur dazu dient, über Erwachsene Verderben und Unglück herauf zu beschwören, als ich kleine, watschelnde Tritte vor meinem Bette hörte und sah, wie sich ein kleines Gesichtchen mir näherte und sagte:

»Iß mößte in dein Bett kommen.«

»Was willst du denn bei mir, Bob?«

»Tobolzen mößt ich mit dir; Papa läßt uns seden Sonntag morgen in sein Bett tobolzen; tomm, Willy, Onkel Heini will mit uns tobolzen.«

Willy antwortete mit einem wilden Entzückungsschrei, stürzte aus dem Bett und eilte auf die Seite meines Bettes, die Bob nicht besetzt hatte. Dann ließen die beiden kleinen Wilden ihren Schlachtruf ertönen und stürzten auf mich los. Wie oft hatte ich mich als Knabe in meinen Träumen in die Prärien des Westens versetzt, wo ich als Verkörperung der überlegenen Intelligenz des Blaßgesichts, blutgierige Scharen wilder, tomahawkschwingender Indianer kaltblütig zurückschlug. Und nun, wie brachen jetzt die stolzen Träume kläglich zusammen, wie erbärmlich klein fühlte ich mich diesen winzigen Kriegern gegenüber! Nach Bobs Worten sollte ich mit ihnen tobolzen,« sie nahmen jedoch von Anfang an die Sache in ihre kleinen, aber energischen Hände. Bob erklärte meine beiden Kniee für sein Hottehüpferd, bestieg sie und lachte vergnügt über meine Versuche, ihn abzuschütteln. Er klammerte sich dabei mit seinen dicken Fingern an meinem Körper fest, wo er gerade hingreifen konnte. Willy rief aus: ich muß auch ein Hottehüpferd haben, und schwang sich auf meine Brust. »Trapp, trapp, trapp, geht mein Pferdchen, Schritt für Schritt!« Mit diesen Worten suchte er mich anzuspornen, während er sich langsam hin und her schaukelte. Ach! ich fing jetzt an zu verstehen, warum mein Schwager, der einst so flotte Turner, einen so eingesunkenen Brustkasten bekommen hatte. Jetzt nahm Willys Gesicht einen belebteren Ausdruck an, seine Augen öffneten sich weit und glänzten, als er rief: »Hopp! hopp! hopp! So läuft mein Pferdchen im Galopp!« Dabei stand er auf, warf seine Beine in die Höhe und ließ dann seine zwanzig Kilo mit ganzer Wucht auf mich fallen. Dies wiederholte er mehrere Male, ehe mir seine ganze Unverschämtheit und Wuchtigkeit noch recht klar werden konnte. Der Schmerz rief mich indessen bald zur Besinnung zurück, mit einem wilden Sprunge warf ich meine beiden teuflischen Reiter ab und gewann die Mitte des Zimmers.

»Ah–h–h–h–h–h,« rief Bob, »iß will Huckepacke 'eiten.«

»Buh–uh–uh–uh–uh,« brüllte Willy. »Du bist unartig, ich kann dich gar nicht mehr leiden.«

Ohne auf Bobs Wünsche zu hören oder auf Willys Meinung zu achten, vollendete ich hastig meine Toilette. Trotz der eingebüßten Ruhe dankte ich meinem Schöpfer, daß es Sonntag war. In der Kirche wenigstens konnte ich von meinen Quälgeistern frei sein. Beim Frühstück boten sie mir ihre Begleitung an, ich lehnte jedoch dankend ab. Freilich hätte ich sie durch Gewährung ihrer Bitte zu einer segensreichen Gewohnheit erziehen können; aber ich bezweifle, ob selbst die strengste Vorsehung es mir zur Pflicht machen konnte, die etwaigen Folgen eines derartigen Versuches auf mich zu nehmen. Außerdem hoffte ich, Fräulein Mayton zu treffen. Ich hoffte und fürchtete es und konnte den Gedanken nicht ertragen, mit dem Urheber meiner reizenden ›Aufmerksamkeit‹ zu erscheinen. Willy protestierte und Bob weinte, ich aber blieb fest, obwohl ich sonst bereit war, allen erfüllbaren Wünschen nachzukommen und mich sogar vor der Kirchzeit zu einem langen Spaziergang mit meinen Neffen hergab. Während desselben tötete ich zum Entzücken der Kinder eine kleine Schlange und zerbrach dabei meinen dünnen Stock, wobei mein einziger Trost war, daß die Reste noch zu einem Stöckchen für Willy ausreichten. Nach Hause zurückgekehrt, machte ich mich für die Kirche fertig und schloß einen förmlichen und feierlichen Vertrag mit Willy, dem Chef der Firma Gebrüder Lawrence. Willy mußte für sich und seinen Bruder folgende Verpflichtungen auf sich nehmen:

1) Keine Versuche zu machen, in mein Zimmer einzudringen.

2) Jede Prügelei zu unterlassen.

3) Sand nur mit der Schaufel aufzunehmen und sich dazu nicht der Schürze oder des Hutes zu bedienen.

4) Keine Blumen abzupflücken.

5) Am Brunnen kein Wasser zu pumpen.

6) Alle Streitigkeiten der Köchin als Schiedsrichterin zu unterbreiten.

7) Aus den neuen, von mir mitgebrachten Büchern, die ich auf den Tisch des Lesezimmers gelegt hatte, keine Häuser zu bauen.

Unter Voraussetzung des gewissenhaften Innehaltens dieser Bedingungen ließ ich mich zu der Erlaubnis herbei, daß Willy ganz allein in die Sonntagsschule gehen dürfe, welche sich unmittelbar an den Vormittagsgottesdienst anschloß, nachdem ihn Marie als »rein und zweifelsohne« befunden hätte. Da Bob von 11–1 Uhr schlafen gelegt wurde, ging ich beruhigt und erleichtert in die Kirche: denn Willy ganz allein konnte doch in einer Stunde erhebliche Missethaten nicht ausführen.

Die Kirche in Hillcrest hat mehr Plätze als Gemeindemitglieder, und da erst wenige Sommergäste erschienen waren, sah ich die Blicke der sämtlichen Einheimischen neugierig auf mich gerichtet. Das war an sich unangenehm genug, und nun mußte ich auch noch durch die ganze Kirche hindurch defilieren, denn der eifrige Kirchendiener wies mir einen geschlossenen Stuhl ganz nahe bei dem Altar an, in dem ich – Fräulein Mayton fand. Die Dame grüßte mich natürlich kaum; sie war zu gut erzogen, um in der Kirche Herrenbekanntschaften anzuerkennen. So konnte ich denn zehn Minuten über den Zwang der Umgangsformen der guten Gesellschaft im geheimen räsonnieren. Der Anfang des Gottesdienstes endete mein Unbehagen zum Teil; aber ich hatte kein Gesangbuch, in dem Kirchenstuhl lag auch keins – und so ließ Fräulein Mayton mich in das ihre einsehen. Dabei war ihr Benehmen aber so höflich fremd, daß ich sehr ungewiß war, ob nicht bloße Christenpflicht sie zu dieser Freundlichkeit veranlaßt habe. Wahrhaftig wenn ich der Schah von Persien gewesen wäre, hätte sie nicht höflich kälter mir gegenüber sein können. Die Melodie zu dem ersten Liede war mir völlig fremd, so daß ich mich nur mühsam mit meinem Tenor durchstümperte, während Fräulein Maytons herrlicher Sopran mit voller Sicherheit ihre Schwierigkeiten überwand. Die Predigt dauerte länger, als ich es sonst gewohnt war, und ich ertappte mich dabei, daß meine Gedanken nicht immer ganz bei der Sache waren. Niemals erschienen mir meine Lebensstellung und äußere Erscheinung so unbedeutend wie gerade während dieses Gottesdienstes.

Endlich sagte der Prediger: »Und zum Schlusse, geliebte Brüder –« Ich wünschte inbrünstig, daß er nun rasch und glücklich zu Ende käme. Es kam mir auch so vor, als habe die ganze Versammlung denselben Wunsch, denn es entstand bei diesen Worten hinter mir eine allgemeine Bewegung. Es wurde mir indessen bald klar, daß die Zuhörer von ganz andern Gefühlen bewegt wurden, denn ich hörte so etwas wie ein unterdrücktes Gelächter hinter mir. Sogar Fräulein Mayton drehte sich mit einer Plötzlichkeit um, die gar nicht mit der gewöhnlichen maßvollen Anmut ihrer Bewegungen übereinstimmte, und auch der Prediger machte eine ungewöhnlich lange Pause. Ich wandte mich ebenfalls um und sah – meinen Neffen Willy in seinem Sonntagsstaat, unehrerbietig bedeckten Hauptes, den neuen Spazierstock wie ein Gigerl schlenkernd. Bei jedem Kirchenstuhle blieb er stehen und musterte die Insassen genau. Er schien den Gegenstand seines Suchens nicht zu finden, obwohl ich mich bemühte, seine Blicke auf mich zu lenken. Endlich entdeckte er einen Bekannten des Hauses, dem er sein Herz ausschüttete, indem er so laut, daß man es fast in der ganzen Kirche hören konnte, sagte:

»Ich kann meinen Onkel nicht finden.«

Da gerade gewahrten mich seine Blicke; strahlend vor Freude eilte er auf mich los und drückte seine schlingelhafte, weiche Wange vertraulich gegen die meinige, was in der Kirche ein hörbares Aufsehen erregte. Ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte, meine Verlegenheit wurde jedoch in Staunen verwandelt, als Fräulein Mayton, schlecht verhehlte Heiterkeit im Gesicht, den kleinen Taugenichts mit mütterlicher Zärtlichkeit an sich zog und ihn herzlich küßte. In demselben Augenblick sagte der Prediger mit etwas stockender Stimme: »Lasset uns beten!« Ich neigte schnell mein Haupt und war froh, daß ich eine Gelegenheit hatte, dasselbe zu verbergen; als ich aber den Urheber dieser andachtswidrigen Störung ansah, traf ich Fräulein Maytons Auge. Sie lachte so herzlich, daß die Ansteckung unvermeidlich war, und ich lachte um so herzhafter, als ich fühlte, daß das Unheil, welches der eine der mutwilligen Knaben angerichtet hatte, durch den andern wieder gut gemacht worden war.

Nachdem endlich der Segen gesprochen, war Willy der Gegenstand allseitiger Aufmerksamkeit und ich ergriff sofort diese Gelegenheit:

»Finden Sie immer noch, Fräulein Mayton,« begann ich, »daß meine Schwester in Bezug auf meine Neffen recht hat?«

»O doch, ich finde sie äußerst drollig,« erwiderte die Dame begeistert, »und wünschte wohl, daß Sie sie einmal zu mir brächten. Ich sehe so originelle kleine Menschen gar zu gern.«

»Herzlich gern,« sagte ich, »Bob soll Ihnen auch zur Buße ein Bouquet mitbringen.«

»Ach, bitte ja,« erwiderte sie kaum hörbar, als ich zur Seite trat, um sie aus dem Kirchenstuhl zu lassen. Es waren nur ein paar unscheinbare Worte, aber sie machten mich noch einmal so glücklich.

»Ja, siehst du, Onkel Heinrich,« rief Willy, als wir die Kirche zusammen verließen, »die Sonntagsschule war noch nicht offen, und ich wollte hören, ob die Leute in der Kirche wieder so schön singen würden. Darum ging ich hinein, und da du in Papas Stuhl nicht saßest und doch irgendwo sein mußtest so sah ich mich nach dir um.«

»Segen über dich!« dachte ich, als ich ihn in den Arm nahm, als ob es mit der Sonntagsschule große Eile habe; in Wirklichkeit wollte ich ihm aber einen recht herzhaften Kuß geben und sagte: »Du thatest ganz recht so, mein lieber Junge!«

Mein Sonntagsdiner war qualitativ und quantitativ ganz vorzüglich, und eine Flasche des bewußten Rotweins erwies sich als köstlich; doch verhinderte mich ein gewisses Unbehagen, mich dem Genuß des Mahles so hinzugeben, wie ich es unter andern Umständen gethan hätte. Diese Unruhe entsprang einem Gefühle von Verantwortlichkeit einerseits und der Ratlosigkeit andererseits. Ich fühlte, daß ich meinen Neffen doch eigentlich auf irgend eine Weise zu Gemüte führen müßte, daß heute Sonntag sei. Für eine Bibelstunde waren die Jungen noch zu klein und schienen mir zu lebhaft, um durch gewöhnliche Mittel ruhig gehalten zu werden. Nachdem ich hin und her gedacht hatte, beschloß ich, die Kinder selbst zu fragen, wie ihre Eltern es gehalten hätten.

»Willy,« sagte ich, »was macht ihr Sonntags, wenn Papa und Mama zu Hause sind? Was lesen sie euch vor – worüber sprechen sie mit euch?«

»O, sie schaukeln uns tüchtig,« entgegnete Willy mit leuchtenden Augen.

»Un sie suchen Bitbeeren mit uns.«

»O ja,« rief Willy aus, »Bickbeeren! Weißt du, was das ist?«

»Hm, ja, ich entsinne mich, als kleiner Junge auch welche gesucht zu haben. Wo sie wachsen ist es aber sehr schmutzig, nicht wahr?«

»Ja! Und da ist ein kleiner Bach und Farnkraut und Eicheln, und wer nicht aufpaßt, der fällt in den Bach, wenn er Bickbeeren haben will.«

»Un wir dehen auf die Flippe (Klippe)« pipte Bob, »und Papa läßt uns Huckepacke 'eiten, wenn wir müde sind.«

»Und er macht uns auch Pfeifen,« sagte Willy.

»Willy,« entgegnete ich rasch, »genug, genug!« und dachte mit dem Dichter dabei:

›Diese Erdenfreuden lass' ich gern.‹

»Hat euch denn euer Papa nichts anderes gelehrt? Las er euch nie etwas vor?«

»O ja,« rief Willy, indem er in die Hände klatschte, als ob ihm ein plötzlicher Gedanke gekommen wäre. »Er nimmt immer die Bibel herunter, die große, dicke Bibel, und dann liegen wir immer auf der Erde und er liest uns Geschichten vor. Von David und Noah und Christus, als er noch ein kleiner Junge war, und Joseph und –«

»Oh, un Papa und Mama dehen mit uns in'n Wald un sneiden uns Töcke,« sagte Bob.

»Ja, und wo das neue Haus gebaut wird, dürfen wir auf die Leitern klettern.«

»Hält er denn nicht am Nachmittag auch eine kleine Siesta?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, was das ist,« erwiderte Willy. »Aber manchmal legt er einen großen Regenmantel auf das Gras, und dann legen wir uns alle darauf hin und spielen Soldaten, die bilaquieren. Wenn wir dann aufwachen, dann schläft Papa manchmal noch, und Mama erlaubt uns nicht, daß wir ihn wecken; das Spiel kann ich gar nicht leiden.«

»Nicht wahr, eine hübsche biblische Geschichte ist doch das Beste von allem?« fragte ich.

Willy schien einen Augenblick zweifelhaft. »Schaukeln ist eigentlich noch hübscher. Aber – nein. Wir wollen Eicheln suchen – oder ich will dir was sagen, mach uns erst Pfeifen, dann pfeifen wir, wenn wir die Eicheln suchen. Nicht wahr, Bob, Pfeifen und Eicheln sind doch das Hübscheste?«

»Sa, un ßaukeln – un – nach der Flippe dehen,« antwortete Bob.

»Zuerst wollen wir aber die biblischen Geschichten nehmen,« sagte ich. »Der liebe Gott will, daß man an jedem Tage etwas Gutes lerne.«

»Na,« erklärte Willy mit verständiger Pflichtmiene, »denn man los; die Geschichte von Joseph ist, glaube ich, die beste.«

»Verßähl uns von Doliath,« schlug Bob vor.

»Ach was, Bob!« fiel Willy ein, »Josephs Rock war ebenso blutig wie Goliaths Kopf.« Dann wandte er sich zu mir und sagte: »Bob kann Goliath nur deshalb so gut leiden, weil sein Kopf so blutig war als er abgeschlagen wurde.« Und dann stierte mich Bob, dieses ästhetische Genie, von welchem seine Mutter behauptete, er fühle sich zu allem, was schön sei, unwiderstehlich hingezogen, dieser Bob stierte mich an, wie vielleicht ein Schlächterlehrling ein Lamm, das er eben niederstechen will, ansieht:

»Doliaths Topf war danz b'utis, un Davids Swert war danz b'utis, danz fuchbar b'utis.«

»Ich sprach schnell ein kurzes Gebet, öffnete die Bibel, schlug die Geschichte von Joseph auf, und da sie sehr lang war, trug ich sie in kurzem Auszuge folgendermaßen vor:

»Joseph war ein kleiner, guter Junge, den sein Vater sehr liebte. Aber seine Brüder konnten ihn nicht leiden. Und sie verkauften ihn nach Ägypten. Und er war sehr klug und sagte dem König von Ägypten, was seine Träume bedeuteten, und er wurde ein vornehmer Herr. Und seine Brüder kamen nach Ägypten, um Getreide zu kaufen, und Joseph verkaufte ihnen welches und sagte ihnen, wer er sei. Und er schickte sie nach Hause, damit sie ihren Vater auch nach Ägypten holten. Und da lebten sie dann in Herrlichkeit und in Freuden.«

»Das is doch niß die Desißte vom Soseph?« erklärte Bob mit der Miene eines Menschen, dem eine schreiende Ungerechtigkeit widerfahren ist. »Is das von Soseph, Willy?« –

»Nein, Onkel Heinrich,« sagte jetzt Willy, »das hast du garnicht schön vorgelesen; ich will dir mal erzählen, wie es ist. Es war einmal ein kleiner Knabe, der hieß Joseph; der hatte elf Brüder, die waren alle furchtbar schlecht. Eines Tages gab ihm sein Vater einen schönen Rock, und seine Brüder hatten nur alte Röcke und wurden neidisch auf ihn. Und sie warfen ihn in eine tiefe, dunkle Grube, seinen schönen Rock warfen sie aber nicht hinein, töteten eine Ziege, tunkten den Rock ins Blut – denke bloß, den hübschen, neuen Rock machten sie ganz blutig.«

»Dans b'utis,« wiederholte Bob mit wilder Begeisterung.

»Als nun ägyptische Kaufleute des Weges kamen, zogen die schlechten Brüder den armen Joseph wieder aus dem alten Loch 'raus und verkauften ihn nach Ägypten. Und sein armer Papa weinte und weinte und weinte immerfort, weil er dachte, ein großer Löwe habe Joseph aufgegessen. Und in Ägypten war keine Post, keine Eisenbahn und kein Tillergraph, und der arme Joseph konnte seinem Papa nicht schreiben, wo er war; und er wurde so klug, daß der König von Ägypten ihm sagte, er solle alles Korn verkaufen und das Geld dafür sollte er für den König aufheben. Eines Tages kamen nun Männer, um Korn zu kaufen, und Joseph sah sie an und sah, daß es seine eigenen Brüder waren. Und er jagte ihnen einen Schreck ein, sonst that er ihnen nichts. Weißt du, was ich gemacht hätte, wenn ich Joseph gewesen wäre? Ich hätte ihnen ordentlich eins hinter die Ohren gegeben. Und er sagte zu ihnen: ›Ich bin Joseph, euer Bruder.‹ Und er verhaute sie nicht, sondern küßte sie und stellte sie nicht in die Ecke, ließ sie auch nicht hungern. Nein, er schickte sie ihrem Papa zurück und umarmte und küßte sie, und sie mußten auch ihren Papa holen. Und als er kam, fragte er nicht, ob er ihm Bonbons oder sonst etwas mitgebracht habe, sondern freute sich fürchterlich, daß er ihn sah. Und der König schenkte Josephs Vater einen schönen Bauernhof, und sie lebten nun alle herrlich und in Freuden.«

»Un sie tunkteten den Rock in B'ut und machten ihn danz b'utis,« wiederholte Bob.

»Onkel Heinrich,« fragte jetzt Willy, »was glaubst du, daß mein Papa thun würde, wenn er glaubte, ich sei von einem Löwen aufgefressen? Ich glaube, er würde furchtbar weinen. Nun erzähle uns eine andere Geschichte – lies uns vor von –«

»Von Doliath,« unterbrach Bob.

»Nun, jetzt kannst du mir einmal etwas von Goliath erzählen, Bob,« antwortete ich.

»Nun,« sagte Bob, »Doliath war ein fuchbar dicker Mann un Davi war ein danz tleiner Mann un Doliath sagte: ›Tomm mal her, iß will dich aufessen.‹ Un Davi sagte: ›Iß hab dar teine Angst vor dir!‹ Dann teckte Davi fünf tleine Teine in eine Slinge un betete zum lieben Dott, ihm zu helfen. Un Davi smißte die Slinge mit den Teinen in Doliaths Augen un Doliath fallte um un war mausetot. Un Davi nahm Doliaths Swert un haute seinen Topf ab un machte ihn fuchbar b'utis.« Diese kurze Erzählung wurde durch so lebhafte und treffende Gesten unterstützt, daß ihn sicher mancher Parlamentsredner darum beneidet hätte.

»Ich kann Goliath doch nicht leiden,« bemerkte Willy, »ich möchte die Geschichte von Ferus hören.«

»Von wem?«

»Von Ferus; kennst du den nicht?«

»Ich habe noch niemals etwas von ihm gehört, Willy.«

»Nanu! Hattest du denn keinen Papa, als du ein kleiner Junge warest?«

»Ja, aber er erzählte mir niemals etwas von einem Ferus. Wer war denn Ferus?«

»Na, es war einmal ein Mann, der hieß Ferus – Offerus; und er suchte sich Könige, um für sie zu kämpfen; sah er aber, daß die Könige sich vor einem andern fürchteten, dann wollte er nicht mehr für sie kämpfen. Und eines Tages konnte er keinen König mehr finden, der sich nicht gefürchtet hätte. Und die Leute erzählten ihm, der liebe Gott wäre der größte König der Welt, und er fürchtete sich vor niemand und vor nichts in der Welt. Da fragte er sie, wo er den Herrn finden könnte, und sie sagten ihm, er wäre im Himmel und es könnte ihn niemand sehen als die Engel, aber er wünschte, daß man für ihn arbeite und nicht für ihn kämpfe. Da fragte Ferus, was er denn thun solle, und man sagte ihm, es wäre ein Fluß in der Nähe, der keine Brücke hätte, weil das Wasser zu schnell liefe. Da sollte er nur hingehen und die Leute 'rüber tragen, darüber würde sich der liebe Gott freuen. Das that Ferus auch und schnitt sich einen guten, kräftigen Stock, und wenn jemand über den Fluß wollte, dann trug er ihn Huckepacke 'rüber.

Eines Abends saß er in seinem kleinen Hause und rauchte die Pfeife und las die Zeitung, und es regnete und hagelte und stürmte draußen, und er war froh, daß niemand über den Fluß wollte; da hörte er mit einemmale, wie jemand ›Ferus‹ rief. Er sah aus dem Fenster, konnte aber niemand sehen und setzte sich wieder. Da rief wieder einer: ›Ferus!‹ Er machte nun die Thür auf und sah einen ganz kleinen Knaben, ganz ebenso klein wie Bob. Und Ferus sagte: ›Heida, mein Junge, weiß denn deine Mutter, daß du weggegangen bist?‹ Und der kleine Junge sagte: ›Ich möchte über den Fluß.‹ – ›Na,‹ erwiderte Ferus, ›du bist ja eigentlich ein furchtbar kleiner Knirps, um so allein zu reisen, aber klettere man rauf.‹ Da kletterte der kleine Junge auf Ferus' Rücken, und Ferus stieg ins Wasser. Huh!! Das war aber mal kalt! Bei jedem Schritt fühlte er, daß der kleine Junge schwerer wurde, so daß Ferus fast umsank und beide beinahe ertrunken wären. Als Ferus 'rüber war, sagte er: ›Na, du bist der schwerste kleine Knirps, den ich je sah.‹ Und als er ihn genau ansah, war es gar kein Junge mehr, sondern ein großer Mann – Christus. Und Christus sagte: ›Ferus, ich hörte, daß du für mich arbeiten wolltest, und ich wollte dich mal besuchen und dir nicht sagen, wer ich wäre. Und jetzt sollst du einen neuen Namen haben, du sollst Christophorus heißen, das heißt Christträger.‹ Da nannten ihn alle Leute Christophorus, und als er starb, den heiligen Christophorus, denn die guten Menschen werden nach ihrem Tode heilig genannt.«

Willy sah aus wie ein verzückter Heiliger, als er seine Geschichte erzählte. Bob hingegen war diese Erzählung nicht blutig genug, er war heimlich in den Garten gelaufen, hatte ein Wespennest untersucht und war dabei gestochen worden. Jetzt stieß er einen furchtbaren Schrei aus und rannte heulend zu mir. Als ich ihn hastig auf den Arm nahm, schluchzte er:

»Onkel, soll miß wieden!«

Ich wiegte ihn tüchtig, streichelte ihn zärtlich und sagte im singenden Tone:

»Buscheken, buscheken, beichen,
Koch unserm Bob ein Eichen,
Thu' ein bischen Butter dran,
Daß unser Kindchen essen kann.«

Er schluchzte aber jämmerlich und sagte

»Sing: ›Fißlein sind tommen.‹«

»Was meint denn der Junge eigentlich?« fragte ich ratlos.

»Du sollst ihm vorsingen: »Fischlein sind gekommen,« sagte Willy. »Das singt ihm Mama immer vor, wenn er was schlimmes hat; dann hört er auf zu weinen.«

»Das kann ich aber nicht,« antwortete ich; »kann ich ihm denn nicht etwas anderes vorsingen?«

»Dann werde ich 's dir vorsagen und vorsingen,« sagte Willy, und ich wiederholte Wort für Wort was ich hörte:

»Bob am Bach
Hatt' lauter gute Sach';
Sind Fischlein gekommen,
Haben sie fortgenommen.

Bob am Bach
Wußt' was er mach';
Hat Fischlein gefangen,
Ist heim gegangen.«

Worin die Nutzanwendung dieses Gedichtes für meinen Neffen eigentlich lag, konnte ich nicht recht verstehen; als ich aber mit dem Liede fertig war, machte sein Schluchzen einem Seufzer der Erleichterung Platz.

»Bob,« sagte ich, »liebst du Onkel Heinrich?«

»Sa, iß thu ihn lieb haben?«

»Dann sage mir doch, wie dieses verrückte Lied dich trösten kann.«

»Wehwehßen is fort und is alles dut,« erwiderte Bob.

»Würde es dich denn nicht ebenso trösten, wenn ich singen würde: ›Lott' ist tot, Lott' ist tot, Jule liegt im Sterben?‹«

»Iß tann Lotte niß leiden, un wenn Lotte was thut, slage iß sie auch mausetot.«

Mit dieser logischen Bemerkung endete unsere Unterhaltung, und ich fragte mich, ob die Geistesstörung, an der unser Großvater zeitweilig gelitten, etwa in diesem jüngsten Nachkommen wieder zum Ausbruch käme. Ich hatte indessen nicht lange Zeit mich zu wundern, denn Willy bemerkte in vertraulichem Tone:

»Na, Onkel, wie steht's denn mit den Pfeifen?«

Ich folgte diesem Winke und ging mit meinen Neffen nach dem Walde. Seit Jahren hatte ich keine Weidenschößlinge mehr abgeschnitten, seit dem Kriege nicht, wo ich gelernt hatte, daß sie vortrefflich zum Feuer zu verwenden wären. Zu Pfeifen hatte ich seit nahezu einem Vierteljahrhundert keine Schößlinge mehr gesucht.

Die verschiedenartigen Gedankenverbindungen, welche durch diese Erinnerungen wach gerufen wurden, drohten mich in einen Zustand zu versetzen, der vielleicht Ursache eines schlechten Gedichtes geworden wäre, wenn meine Neffen mich nicht mit einer Reihe von Fragen bombardiert hätten, wie sie eben nur Kinder ausdenken können. Als die Pfeifen fertig waren, wurde ich mit Musik auf die Stelle geführt, wo die Eicheln zu finden sein sollten. Es war solch Ort, wie Jungen ihn instinktiv gern haben – niedrig gelegen, feucht, sumpfig – ein Bach, der unter Farn und überhängenden Gräsern verräterisch verborgen lag. Die Kinder kannten die Sträucher genau, die Eicheln trugen, und die Entdeckung eines solchen wurde sofort mit Jubelgeschrei begrüßt. Anfangs stürzte ich nach jedem gellenden Schrei hastig nach dem Bach, bald aber gewöhnte ich mich daran und richtete meine Aufmerksamkeit auf ein paar prachtvolle Farn. Mit einem male kündigte mir jedoch ein andauerndes Zetergeschrei an, daß wirklich etwas passiert wäre, und als ich mich umwandte, erblickte ich über die Farnkräuter hinweg ein kleines Gesicht in bleicher Todesangst. Willy eilte schleunigst seinem Bruder zu Hilfe, war aber bald ebenso tief in den Morast gesunken, wie Bob. Mit langen Sätzen eilte ich zu ihrer Befreiung herbei und gab, rittlings über den Bachufern stehend, jedem der beiden Knaben eine Hand, als ein verräterischer Grasbüschel nachgab, und plumps – lag ich selber darin. Dieser Unfall veranlaßte Bob, ein unbändiges Gelächter anzustimmen; daß ich auch Lust zum Lachen verspürte, kann ich nicht gerade sagen. In reines Wasser zu fallen, ist schon nicht angenehm, selbst wenn man ein leidenschaftlicher Angler ist, aber in hellen Sommerhosen bis über die Knie in den morastigen Schoß der Mutter Erde zu versinken, das ist mehr denn zuviel. Schnell zog ich die Kinder heraus und warf sie aufs Trockene. Dann watete ich selbst wütend hinaus und schüttelte mich wie ein Neufundländer Hund, der aus dem Wasser kommt. Irgend welchen Erfolg hatte das aber nicht, meine Hosen klatschten mir nur mit aller Macht um die Knöchel und ergossen neue Ströme des schmutzigen Sumpfwassers in meine Schuhe. Mein Filzhut, der neben dem Bache lag, bekam bei dieser Gelegenheit auch etwas ab. Ich sah meinen jüngsten Neffen sprachlos vor Entrüstung an.

»Onkel Heinrich,« sagte Willy, »es war recht hübsch vom lieben Gott, daß er dich bei uns sein ließ, sonst wäre Bob ertrunken.«

»Ja,« sagte ich, »und geschadet hätte –«

»Ontel Heini,« rief Bob, indem er auf mich zu lief, mich zu sich niederzog und mir mit seinen schmutzigen Händen das Gesicht streichelte, »iß bin dir sehr dut, weil du miß aus dem Wasser denehmt hast.«

»Na gut, ich lasse deine Verteidigung gelten,« erwiderte ich mürrisch, »jetzt aber rasch nach Hause!« Es war zum Glück nur eine Wohnung zu passieren, und die war so von Gebüsch verdeckt, daß die Bewohner uns nicht sehen konnten. Der Weg, den wir benutzen mußten, war freilich sehr belebt; wir konnten aber in fünf Minuten zu Hause sein und schnell in den Wald laufen, wenn wir einen Wagen sahen. Horch! Da kam ja schon ein Wagen und wir –? Damen in dem Wagen! Natürlich! Himmel, das ist ja Fräulein Mayton! Hatte denn der böse Geist, der diese Kinder leitete, auch bei Fräulein Mayton einen Bundesgenossen, wenn er seine Teufelsränke in Scene setzte? Da saß sie, zierlich, elegant, scheinbar gefaßt, doch auffallend rot und offenbar verblüfft über die plötzliche Begegnung. Es half nichts, daß ich die Augen niederschlug, denn sie hatte mich schon erkannt; so wandte ich ihr denn mein Gesicht zu mit einem Ausdruck, wie ich ihn bei dem ersten Kavallerie-Angriff gehabt haben muß, den ich im Feldzuge mitmachte, und vielleicht noch etwas trotziger.

»Sie scheinen sich ja sehr amüsiert zu haben,« sagte sie lächelnd, als der Wagen vorbeifuhr. »Vergessen Sie nur morgen nachmittag den versprochenen Besuch mit Ihren beiden Schutzbefohlenen nicht!«

Das liebe, gute Mädchen! Ihr Herz war ebenso schnell wie ihre Augen. Jedes andere junge Mädchen hätte ihre ganze Kraft zusammennehmen müssen, um nicht laut aufzulachen. Sie wußte es sofort so einzurichten, daß ich erleichtert aufatmen konnte. Verdiente ich wirklich, daß solch ein Mädchenherz – ich fühlte, wie ich unter dem Schmutz, den ich Bobs Händen verdankte, errötete. Ich leitete nunmehr unseren Rückzug mit vornehmerem Anstand, als man meiner äußeren Erscheinung hätte zutrauen sollen, und übergab zu Hause dem Mädchen meine Neffen mit der Miene eines Offiziers, der eine stattliche Anzahl selbstgemachter Gefangener abliefert. Dann vertauschte ich meinen beschmutzten Anzug mit meinem besten, nicht weil ich irgend einen Besuch erwartete, sondern in einer Anwandlung erhöhten Selbstgefühls. Als die Kinder zu Bett gebracht und ich mit meinen Gedanken allein war, verbrachte ich einige schöne Stunden damit, phantastische Zukunftspläne zu schmieden und Luftschlösser zu bauen, an die ich vorher niemals gedacht haben würde.

Am Montag früh war ich schon vor Sonnenaufgang in dem Garten, denn heute sollte ja Bob Fräulein Mayton das Sühne-Bouquet überreichen, und ich hatte mir vorgenommen, keine Mühe zu scheuen, um seine Buße möglichst vollkommen zu machen. Jedes Beet, jede Rabatte wurde sorgfältig geprüft, bis mir das vorhandene Material so genau bekannt war, als wenn ich ein vollständiges Inventar mit Tinte und Feder davon aufgenommen hätte. Nach Beendigung dieser Herkulesarbeit ließ ich mir von dem Mädchen den noch nicht beschmutzten Garderobenvorrat meiner Neffen zeigen und wählte nach einer genauen Prüfung die Anzüge aus, die sie am Nachmittag tragen sollten. Dann eröffnete ich diesem weiblichen Mentor, daß die Knaben heute nachmittag bei Damen einen Besuch machen sollten und daß ich wünschte, sie sollte sie vorher äußerst sorgfältig waschen und kleiden.

»Sagen Sie mir nur, wann Sie fortgehen, Herr Burton,« entgegnete sie; »ich fange dann eine Stunde vorher an, das ist das einzige Mittel, wenn sie Ihnen keine Schande machen sollen.«

Zum Frühstück gab es unter anderm gedämpfte Austern, die in Suppentellern serviert wurden.

»O Bob,« rief Willy, »das sind die Schildkrötenteller wieder, das ist aber mal 'n Spaß.«

»Oo – ii – Szildt'ötenteller,« quiekte Bob.

»Jungens, was meint ihr denn eigentlich?« fragte ich.

»Das will ich dir zeigen,« sagte Willy, sprang vom Stuhle auf und brachte mir vorsichtig seinen Austernteller. »Nun steck mal deinen Kopf unter meinen Teller und guck nach oben – da ist die Schildkröte.«

Für den Augenblick vergaß ich, daß ich nicht in einem Restaurant saß, nahm den Teller, hielt ihn hoch und prüfte den Boden.

»Siehst du,« sagte Willy und zeigte auf die farbige Handelsmarke, »siehst du die Schildkröte nun?«

Das war also alles! Kurz befahl ich Willy, er solle sich nur wieder setzen und blieb sogar unbewegt durch Bobs Bemerkung:

»Sin richtige Szildt'öden, tönnen nur niß rumtrabbeln unter andern Szildt'öten.«

Nach dem Frühstück beschäftigte ich mich sehr eingehend mit meiner eigenen Persönlichkeit. Noch nie war mir meine Garderobe so dürftig erschienen; niemals hatte ich mich so oft beim Rasieren geschnitten, niemals hatten meine Lackstiefel so miserabel ausgesehen wie gerade heute. Schließlich verzweifelte ich daran, meine Anstrengungen, nobel zu erscheinen, von Erfolg gekrönt zu sehen, und widmete mich ganz dem Bouquet. Ich schnitt so viel Blumen ab, daß ich eine ganze Kirche damit hätte dekorieren können und schloß unbarmherzig jede aus, die nur den kleinsten Vollkommenheitsfehler aufwies. Beim Binden hatte ich das Vergnügen, meine Neffen um mich zu haben und ihre gütigen Ratschläge zu hören, sowie in eine Konversation über Blumen verwickelt zu werden.

»Ontel Heini,« sagte Bob, »is der Himmel auch so doll voll lauter Blumen? Dann b'auchen die Engel da doch niß wedzuflieden?«

»Onkel Heinrich,« bemerkte nun Willy, »wenn die Blätter so hin und hergehen, sprechen sie dann mit dem Wind?«

»Das mag schon sein, mein Junge.«

»Für wen machst du das Bouquet?« fragte Willy.

»Für eine Dame – für Fräulein Mayton, die uns gestern so schmutzig sah,« erwiderte ich.

»O, die hab' ich sehr gern,« sagte Willy. »Die sieht so hübsch, so lecker aus, gerade wie ein Kuchen, daß man sie fast anbeißen möchte – o, ich hab' sie so lieb, du auch?«

»Ja, ich schätze sie sehr hoch, Willy.«

»Zätze? Was ist denn das?«

»Nun, ich meine, ich denke, sie ist eine Dame – nun ein nette Dame – so eine Dame, die ich immer bei mir haben möchte.«

»Dann ist ja zätzen ganz dasselbe wie lieb haben, Onkel Heinrich.«

»Willy,« unterbrach ich ihn schnell, »lauf rasch zu Marie und hole etwas Bindfaden.«

»Gut,« sagte Willy im Fortlaufen, »aber dasselbe ist es doch, nicht wahr?« –

Um zwei Uhr instruierte ich Marie, meine Neffen anzukleiden, und um drei Uhr brachen wir auf, unsern Besuch zu machen. Bobs Strauß zu tragen und gleichzeitig beide Knaben an der Hund zu führen, damit sie nicht unter die Hecken krochen, um Grashüpfer zu suchen oder auf der Jagd nach Schmetterlingen in die Rinnsteine fielen, war keine geringe Aufgabe; ich entledigte mich ihrer jedoch mit ziemlichem Anstand. Als wir uns Klarksons Logierhause näherten, fühlte ich, daß mir der Hut auf einem Ohr saß, und meine Kravatte sich verschoben hatte; doch jetzt war keine Zeit mehr, diesen Übelständen abzuhelfen, denn ich sah Fräulein Mayton auf der Veranda sitzen und fühlte instinktiv, daß sie auch mich bereits bemerkt hatte. Ich händigte Bob den Strauß ein, versprach ihm Bonbons, wenn er seine Sache gut machen und das Bouquet nicht fallen lassen würde, und so betraten wir den Garten. Kaum waren wir innerhalb der Hecke, als Bob unglücklicher Weise einen Mann entdeckte, der eine kleine Rasenmähmaschine handhabte. Begeistert rief er aus: »O sieh nur, ein Drasneider, ein Drasneider,« und ließ das kostbare Bouquet fallen, das ich aber noch rechtzeitig auffangen konnte, ehe es die Erde berührte. Nun zog ich den kleinen Schlingel den Kiesweg lang, begrüßte Fräulein Mayton und befahl dem kleinen Ausreißer energisch, das Bouquet der Dame jetzt zu überreichen. Das glückte ihm auch wirklich, als aber Fräulein Mayton ihm dankte und sich niederbeugte um ihn zu küssen, entwand er sich gewandt wie ein Aal ihren Armen, entschlüpfte aus der Veranda und rief seinem Bruder zu: »Nu tomm, nu tomm!« Einen Augenblick später sahen wir die beiden dem »Drasneider« in respektvoller Entfernung folgen.

»Das sind nun die besten Kinder der Welt, Fräulein Mayton,« begann ich, als wir allein waren.

»Es sind aber auch wirklich reizende Kinder,« entgegnete die Dame. »Mir sind die Kinder am liebsten, die so recht ausgelassen sind.«

»Mir auch, sobald ich nicht für die Folgen verantwortlich bin. Was habe ich aber mit diesen Schlingeln schon zu schaffen gehabt! Wenn ich im Geschäfte die Anstrengung und Aufmerksamkeit entwickeln würde, die ich hier nötig habe, so müßte mich mein Associé für geradezu unbezahlbar taxieren.«

Fräulein Mayton antwortete in der ihr eigenen witzigen Weise, und wir plauderten bald über alles mögliche, über gemeinsame Bekannte, Bücher, Bilder, Musik. Ich hätte ebenso gern über Herbert Spencers Philosophie, über Keilschriften-Entzifferung oder über noch trocknere Sachen mit ihr gesprochen, denn ich wurde reichlich durch das Vergnügen entschädigt, sie nur zu sehen. Hübsch, geistreich, formgewandt, geschmackvoll gekleidet und doch keine Modepuppe saß sie vor mir und ließ mein ganzes Herz ihr in bewundernder Verehrung entgegenschlagen. Aber ach! Meine Freude sollte nicht lange dauern, sie war kürzer, als ich es verdiente. Es wohnten bei Klarksons noch andere Damen, und Männer waren, wie Fräulein Mayton schon neulich richtig bemerkt hatte, in Hillcrest sehr selten. So erschien natürlich ganz zufällig eine Dame nach der andern auf der Veranda, und die Höflichkeit verbot mir, mich Fräulein Mayton ausschließlich zu widmen. Zu jeder andern Zeit und Gelegenheit würde ich das Zusammentreffen mit so vielen hübschen jungen Damen als etwas Entzückendes betrachtet haben – aber jetzt –

Da ertönte plötzlich ein markerschütternder Schrei vom Rasen her, so daß alle Damen entsetzt aufsprangen. Ich folgte ihrem Beispiel, und zähneknirschend in ohnmächtiger Wut wünschte ich innerlich, daß einer meiner Neffen jetzt endlich einmal eine tüchtige Lektion erhalten hätte.

Eine Hand in den Mund haltend rannte Bob heulend auf uns zu, während Willy neben ihm lief und ihm fortwährend tröstend zurief:

»Lieber Bruder Bob, weine doch nicht so! Thut 's denn wirklich so furchtbar weh? Sei nur still, Onkel Heinrich schenkt dir auch was Schönes.«

Die beiden Jungen erreichten die Stufen der Veranda und kletterten dieselben hinauf, wo Willy dann oben meldete:

»Ach Onkel Heinrich, Bob tippte nur mit seinen Fingern an die kleinen Räder des Grasschneiders und da – da drehten die sich ein bischen und thaten ihm so furchtbar weh und machten seine Hand so schlimm.«

Bob rannte auf mich los, umklammerte meine Beine und schluchzte:

»Sing – sing ›sind Fißlein tommen.‹«

Mir erstarrte förmlich das Blut in den Adern und ich hätte den schrecklichen Jungen erdrosseln mögen, so jammervoll er auch aussah. Eiligst beugte ich mich über ihn, streichelte ihn, versprach ihm Bonbons, zog meine Uhr aus der Tasche und gab sie ihm zum Spielen, aber es half alles nichts; er blieb bei seinem fatalen Verlangen. Eine der Damen – die hübscheste und bescheidenste von allen – erbot sich sein Händchen zu verbinden, und ich segnete sie im stillen dafür. Aber trotzdem wiederholte Bob hartnäckig seine Bitte: »Sind Fißlein tommen« und schluchzte jämmerlich.

»Was will er denn eigentlich?« fragte Fräulein Mayton.

»Er will, daß Onkel Heinrich singt: ›Sind Fischlein gekommen,‹ erklärte Willy; er verlangt das immer, wenn er sich weh gethan hat.«

»O bitte, singen Sie es ihm doch vor,« bat da Fräulein Mayton, und die andern Damen schlossen sich ihrer Bitte an.

Zornerfüllt nahm ich Bob in meine Arme und summte die Melodie des verwünschten Liedes.

»Du mußt in Sauteltuhl sitzen,« peinigte mich Bob.

Ich gehorchte, und dann bemerkte der Quälgeist:

»Du singst sa niß ordentliß, Ontel, iß muß die Wörter hören.«

Ich sang ihm die Worte so leise wie möglich ins Ohr, doch er schrie:

»Ontel, du mußt aber vill, vill lauter singen!«

»Ich weiß aber doch die Worte nicht mehr genau, Bob,« stöhnte ich verzweifelt.

»Na, dann werde ich sie dir sagen, Onkel Heinrich,« erbot sich Willy, und so wurde ich vor der ganzen Zuhörerschaft und vor ihr gezwungen, jene schrecklichen Knittelverse Wort für Wort zu singen, wie Willy sie mir vorsagte. Ich biß die Zähne zusammen, kalter Schweiß perlte mir von der Stirn, und schreckliche Gedanken durchzuckten mein Hirn, während ich Bob anstarrte. Niemand lachte – ich war so verzweifelt, daß mir sogar ein Gekicher Erleichterung verschafft hätte. Zuletzt hörte ich jemand flüstern:

»Sieh nur, wie lieb er das Kind hat! Er ist ganz außer sich vor Sorge um den Jungen!«

Wäre das verrückte Lied nicht gerade zu Ende gewesen, ich glaube, ich hätte meinen verwundeten Neffen über das Geländer der Veranda geschleudert. So stellte ich denn einigermaßen erleichtert den Jungen wieder auf die Beine und erklärte mit Entschiedenheit nun aufbrechen zu müssen. Als ich aber ernstlich Anstalt machte, mich zu verabschieden, bestand Fräulein Maytons Mutter dringend darauf, daß wir doch noch zu Tisch bleiben sollten.

»Was mich betrifft so würde ich Ihrer liebenswürdigen Einladung herzlich gern folgen,« entgegnete ich; »ich fürchte aber, daß meine Neffen zu wenig salonfähig sind, und daß meine Schwester es mir nie verzeihen würde, wenn sie hörte, daß ich mit ihnen wo anders gespeist hätte.«

»O ich will schon auf die Kleinen achten. Bei mir werden sie gewiß artig sein,« entgegnete da Fräulein Mayton.«

»Es wäre unverzeihlich von mir, es auf einen Versuch ankommen zu lassen,« erwiderte ich. Sie bestand aber darauf, und das Vergnügen, mich ihrem Willen zu fügen, war so stark, daß ich sogar ein größeres Mißgeschick in den Kauf genommen haben würde. So nahm denn Fräulein Mayton zwischen Willy und Bob bei Tische Platz, während ich ihr glücklicherweise gegenüber zu sitzen kam, von wo aus ich wenigstens durch warnende Winke und Stirnrunzeln erzieherisch auf meine Neffen einwirken konnte. Die Suppe wurde serviert. Ich machte den Jungen Zeichen, sie sollten die Serviette unters Kinn stecken und wandte mich dann zu der Dame, die mir zur Rechten saß. Sie neigte verbindlich ihr Haupt, ihre Gedanken schienen aber anderswo zu sein. Ich folgte ihren Augen und sah, wie mein jüngster Neffe seinen Suppenteller mit beiden Händen hochhielt. Sein Kopf lag dabei auf dem Tischtuch, während er die Augen gewaltsam nach oben drehte. Ich wagte nicht zu sprechen, weil ich fürchtete, er würde den Teller fallen lassen. Plötzlich hob er den Kopf wieder hoch, nahm sein bekanntes überirdisches Lächeln an und drehte den Teller so, daß die Suppe zum Teil auf Fräulein Maytons elegantes Sommerkleid floß. Dann schrie der Schlingel:

»A – a – a – da is 'ne Szildt'öte! Willy, sieh mal die Szildt'öte!«

Willy wollte das Experiment sofort nachmachen, gab aber, als er meinen drohenden Blick bemerkte, sein Vorhaben auf. Das arme Fräulein Mayton sah ich zum ersten male ganz aus der Fassung gebracht, soweit dies überhaupt möglich war. Sie erholte sich aber schnell und behandelte den unartigen Bengel mit wahrhaft christlicher Duldsamkeit und Nachsicht. Sobald der Nachtisch vorüber war, beurlaubte sie sich schleunigst, während ich Bob in einem entfernten Winkel der Veranda eine gehörige Strafpredigt hielt, die ihn veranlaßte, jämmerlich zu heulen, was mich zwang, ihn wieder zu beruhigen, und alles, was ich Böses gesagt hatte, zurückzunehmen. Darauf zogen sich Willy und Bob wieder in die Rasenregion zurück, während ich das Wiedererscheinen Fräulein Maytons erwartete, um Bob zu entschuldigen und mich zu verabschieden. Die Damen, welche bei Klarksons wohnten, pflegten sich nach Tisch bis zum Beginn der Dämmerung auf den schönen ländlichen Spazierwegen zu ergehen. Dies thaten sie auch heute, und ich sah, wie sie zu zweien und dreien fortgingen, und so wurde ich gezwungen, meine Entschuldigung unter vier Augen vorzubringen. Das war mir gar nicht lieb; ich fühlte, daß ich für Bobs unschickliches Betragen allein die Verantwortung hätte und hatte nun nicht einmal Gelegenheit, meine Gewissensbisse durch eine Unterhaltung zu verscheuchen. Es schien mir eine Ewigkeit, bis Fräulein Mayton wiederkam, und ich rief sogar meine Neffen heran, um jemand zu haben, mit dem ich reden konnte.

Da erschien sie endlich, und ich segnete in demselben Augenblicke Bob und die Suppe, welche veranlaßt hatten, daß ich sie in diesem Kostüme sah. Ich möchte lieber den Preis des Kleides auf den Tisch zählen, als Fräulein Maytons Anzug in Schnitt, Farbe und Eleganz regelrecht beschreiben. Sie sah geradezu entzückend aus, und ihre Züge, die ich bisher nur für anmutig und geistreich gehalten hatte, erschienen mir jetzt strahlend schön. Vielleicht hatte nur der zu verzeihliche Verdruß über Bobs Unart die Farbe ihrer zarten Wangen ein wenig gerötet und in ihre Augen jenen wunderbaren Glanz gelegt. Wie dem auch sein mochte, sie sah jedenfalls königlich aus, und ich glaubte fast, daß in ihrem Blick etwas wie Befriedigung über die staunende Bewunderung lag, mit der ich sie ansah. Sie nahm meine Entschuldigung Bobs mit der Huld einer Königin an und ließ sich dann, anstatt, wie ich gedacht hatte, den Damen zu folgen, in einen Stuhl nieder. Ich konnte der Versuchung, mich ebenfalls zu setzen, nicht widerstehen. Die Kinder hätten eigentlich schon eine halbe Stunde vorher im Bett sein müssen, aber das Gefühl der Verantwortlichkeit war seit dem Erscheinen Fräulein Maytons von mir gewichen. Die beiden kleinen Rangen waren ja sicher aufgehoben, bis sie irgend eine neue Teufelei ausführten. Sie gingen nach der anderen Seite der Veranda und beschäftigten sich damit, einen großen Neufundländer Hund zu peinigen, während ich, der glücklichste Mensch der Welt, mit dem strahlend schönen Mädchen vor mir sprach und mich in das Anschauen ihrer Schönheit vertiefte. Die Dämmerung sank hernieder und noch immer blickte ich sie anbetend an. Als es dunkel wurde und die Sternlein auftauchten, sprachen wir unwillkürlich leiser, und ihre Stimme kam mir vor wie die reinste Musik. Und doch sagten wir nichts, was nicht jeder hätte hören können, ohne eine geheime Beziehung zwischen uns zu mutmaßen. Die Damen kehrten in kleinen Gruppen zurück, aber sei es aus weiblicher Vorempfindung oder sei es in Folge meiner inbrünstigen, wenn auch leisen Gebete, sie gingen alle bei uns vorüber und ins Haus. Ich befand mich unter dem Eindrucke eines seltsamen Gemisches von verzweifeltem Mute und verächtlicher Feigheit. Ich wollte ihr alles sagen, aber ich schrak vor dieser Aufgabe mit größerem Bangen zurück, als ich es jemals früher vor Beginn der Schlacht empfunden hatte.

Da schob sich ganz plötzlich ein kleiner Schatten zwischen uns, und Willys kindliche Stimme ließ sich vernehmen:

»Weißt du was? Onkel Heinrich zätzst dich, Fräulein Mayton.«

»Was macht er?« fragte Fräulein Mayton und streichelte die Wange meines Neffen.

»Willy!« sagte ich, schrie ich fast, »Willy, ich bitte mir aus, daß du vertrauliche Mitteilungen heilig hältst.«

»Was macht er?« inquirierte Fräulein Mayton weiter. »Sie wissen, Herr Burton, daß ein gutes altes Sprichwort sagt: ›Kinder und Narren sprechen die Wahrheit.‹ Wie war's also Willy?«

»Er zätzst dich. Zätzen ist, wenn man jemand gern sieht, gern mit ihm spricht –«

»Schätzen ist, was der Knabe sich auszudrücken bemüht, Fräulein Mayton,« unterbrach ich ihn, um das, was ich befürchtete, zu verhüten. »Willy hat eine erstaunliche Gabe alles mögliche zu fragen, und heute morgen mußte ich ihm erklären, was ein Herr unter der Achtung versteht, welche er einer Dame gegenüber hegt.«

»Ja,« fuhr Willy fort, »ich weiß alles darüber. Onkel Heinrich erklärte es nur nicht ordentlich. Was er zätzen nennt, nenne ich lieb haben

Es entstand eine entsetzliche Pause – sie kam mir wie eine Ewigkeit vor – wieder eine furchtbare Dummheit, und an allem hatten diese Kinder schuld. Mir fiel nichts ein, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Auch Fräulein Mayton schien kein passendes Wort zu finden. Etwas mußte jedoch gesagt werden – ich mußte offen und ehrlich sein, was auch entstehen mochte – und ich war es.

»Fräulein Mayton,« sagte ich hastig mit ernster und leiser Stimme, »Willy ist ein Naseweis, aber er hat vollkommen recht. Wie nun auch Ihr Urteilsspruch lauten mag, glauben Sie nicht, daß meine Neigung nur in einer Ferientändelei besteht. Nein, die Krankheit ist schon Monate alt. Ich –«

»Ich will aber doch auch etwas dabei mitreden,« bemerkte Willy, »du sagst ja alles allein. Das machst du hier ganz falsch. Wenn ich jemand lieb habe, dann küsse ich ihn.«

Fräulein Mayton fuhr leicht zusammen, und meine Gedanken jagten sich mit furchtbarer Schnelligkeit. Sie hatte aber dem Gespräche keine andere Wendung gegeben, und daß sie es nicht gekonnt, wenn sie es gewollt, war doch kaum anzunehmen. Auch beleidigt war sie nicht, sonst hätte sie es sicher gezeigt. Wäre es möglich, daß –

Ich beugte mich zu ihr nieder und folgte Willys Rat. Noch immer keine widerstrebende Bewegung. Zum zweiten male preßte ich meine Lippen auf ihre Stirn. Da erhob sie langsam das Köpfchen, und ich sah trotz Dunkelheit und Schatten, daß sich Fräulein Mayton mir auf Gnade und Ungnade ergeben hatte. Glückselig ergriff ich ihre Hand, richtete mich zu meiner ganzen Höhe auf und dankte dem lieben Gott so heiß, so inbrünstig, wie ich es nie zuvor in einem seiner Tempel vermocht hatte. Dann hörte ich Willys Stimme an mein Ohr dringen: »Ich will dich auch küssen,« und ich sah, wie meine angebetete Alice den kleinen Racker in die Arme nahm, und ihn mit einer Zärtlichkeit küßte, die ich ihrem gesetzten Naturell gar nicht zugetraut hätte. Dann zog sie auch Bob auf ihren Schoß und gab ihm deutliche Beweise ihrer Verzeihung – oder waren es solche der Dankbarkeit?

Da tauchten plötzlich einige Damen auf der Veranda auf.

»Kommt Kinder,« rief ich. »Ich werde mir also die Ehre geben, Sie morgen um drei Uhr mit dem Wagen abzuholen, gute Nacht,« fügte ich, mich zu einem förmlichen Tone zwingend, hinzu.

»Gute Nacht,« erwiderte die süßeste Stimme der Welt; »ich werde um drei Uhr bereit sein.« – –

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