Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Den Nachmittag benutzte ich dazu, für Fräulein Mayton ein Bouquet zu machen, und dies bereitete mir sehr viel Vergnügen. Es sollte kein Gärtnerbouquet werden in der üblichen abgezirkelten Form aus grellfarbigen auf Draht gesteckten Blumen. Manche Blüte war darunter, die ein Gärtner ihrer Einfachheit wegen kaum gewählt haben würde: dafür erzielte ich aber die mannigfaltigsten Farbennüancen und einen balsamischen Duft, wie er in der Stadt wohl selten zu finden ist.

Sträußewinden war stets eine Leidenschaft von mir, bei dieser Gelegenheit bereitete mir jedoch mein Werk eine Freude, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Ich war nicht gerade in Fräulein Mayton verliebt; ein Mann kann ein hübsches, glänzendes Mädchen aufrichtig und ehrlich bewundern, ohne in sie verliebt zu sein; er kann Entzücken darin finden, ihr ein Vergnügen zu bereiten, ohne es für nötig zu halten, daß sie seine Gefühle erwidert. Ich hatte bereits das Alter erreicht, wo man über die Großmut und Freigebigkeit Verliebter sarkastisch lächelt; es schien mir immer, als forderten sie einen ungeheuren Preis für das, was sie selbst boten. Ein derartiges Gefühl Fräulein Mayton gegenüber hatte ich nicht. Es gab Heiden, die ihren Göttinnen Gaben darbrachten aus reiner Anbetung; so verehrte ich Fräulein Mayton; im Sinne dieser Heiden widmete ich ihr meine Aufmerksamkeiten. Je schöner mein Strauß wurde, desto mehr wuchs meine Freude und mein Vergnügen bei dem Gedanken, wie sehr sie sich über denselben als den eklatanten Beweis meines Geschmackes freuen würde.

Als er jedoch endlich fertig war, wurde mein Entzücken durch den schrecklichen Gedanken gedämpft: »Was werden die Leute dazu sagen?« Wären wir in New-York anstatt in Hillcrest gewesen, so hätte niemand außer dem Gärtner, seinem Boten, der Dame und mir selbst etwas davon erfahren, daß ich Fräulein Mayton ein Bouquet geschickt. In Hillcrest mit seinen hundert eingeborenen Klatschschwestern jedoch, wo jeder den andern ganz genau kannte und jeder sich ganz genau um den andern kümmerte, fürchtete ich das Geschwätz der Leute. Auf die Diskretion Michels, des Kutschers, konnte ich mich sicher verlassen; jeder wußte aber, wo Michel diente; jeder wußte – und geheimnisvoll, unsichtbar und schnell sind die Späher auf dem Lande – daß ich augenblicklich der einzige Herr war, der beim Oberst Lawrence wohnte. Aber halt! jetzt hatte ich's? Ich hatte im Lesezimmer in einer Schublade eine kleine Pappschachtel gesehen, die wie eine Putzschachtel aussah – da konnte ich das Bouquet sehr schön verbergen. Ich fand die Schachtel, die gerade die Größe hatte, welche ich brauchte, legte meine Karte auf den Boden – eine Karte, welche eine Blumensendung begleitet, findet eine Dame ja immer – steckte das Bouquet fein säuberlich in die Schachtel und machte mich auf die Suche nach Michel. Er blinzelte verständnisinnig, als ich ihm die Natur seines Auftrages erklärte, und flüsterte:

»Das wollen wir schon besorgen, gnädiger Herr. Ich und die Köchin bei Klarksons, wir verstehen uns sehr gut und den Weg durch die Hinterthür kenne ich auch ganz genau. Kein Mensch soll von Ihren Blumen etwas zu sehen bekommen und die Engel im Himmel – na, die plaudern nichts aus.«

»Nun desto besser, Michel; hier haben Sie einen Thaler für sich; die Schachtel finden Sie auf dem Hutgestell im Korridor.«

»Eine halbe Stunde später, als ich lesend am Fenster saß, sah ich, wie Michel, sorgfältig rasirt und in seinem Bratenrock, die Schachtel in einer seiner ungeheuren Hände balancierend sich auf den Weg machte. Vergnügt und mit den angenehmsten Gedanken beschäftigt ging ich zum Thee hinunter. Meine neuen Freunde waren ungewöhnlich artig. Der Spaziergang schien ihr ungestümes Wesen herabgestimmt und ihre kleinen Seelen geläutert und erhoben zu haben; ihre Eßlust zeigte allerdings keine Verminderung ihrer früheren Stärke; aber alles was sie sagten, war so außerordentlich pfiffig und drollig, daß, als sie mich nach Tisch aufforderten, sie zu Bett zu bringen, ich gern ihrer Einladung folgte. Bob verschwand irgendwo und kam bald darauf ganz trostlos zurück.

»Mei Püppßen seine Wiede iß weg;« heulte er.

»Thut nichts, mein Jüngelchen,« sagte ich besänftigend. »Komm, Onkel läßt dich auf seinem Knie reiten.«

»Muß aber für mei Püppßen seine Wiede haben,« jammerte er kläglich.

Vor meine Seele trat in schrecklicher Klarheit jene Scene mit: »Mößt' aber die 'äder 'umlaufen sehen« und ich begann vor Angst zu zittern.

»Bob,« sagte ich zu ihm in einem so überzeugungsvollen Tone, daß er – hätte er als Geschäftsmann mir nur immer zu Gebote gestanden – mir mindestens tausend Thaler jährlich mehr eingebracht haben würde, »Bob, willst du nicht auf Onkel Huckepacke reiten?«

»N-ei-n, iß will mei Püppßen seine Wiede haben.«

»Soll dir der Onkel nicht eine hübsche Geschichte erzählen?«

Einen Augenblick zeigte Bobs Gesicht einen fürchterlichen Kampf zwischen seinem alten Adam und Mutter Eva; aber die letztere siegte über die Lieblingssünde, den Eigensinn, und Bob murmelte weinerlich:

»Sa-a.«

»Wovon soll ich dir denn erzählen?«

»Von Hartenoah!«

»Was ist denn das?«

»Er meint Arche Noah,« erklärte Willy.

»Sa, Hartenoah, sagt iß 'ja auch«, bestätigte Bob.

»Gut,« sagte ich, indem ich schnell mein Gedächtnis durch einen Blick in die Bibel auffrischte (Helene vergißt nämlich gewöhnlich, wie die meisten Leute, ihre Bibel mitzunehmen, wenn sie auf ein paar Tage verreist) »gut; also es regnete einst vierzig Tage und vierzig Nächte, und alle Menschen auf der Erde ertranken, nur Noah nicht, weil er ein gerechter Mann war, der hatte sich mit seiner ganzen Familie in der Arche gerettet, die der Herr ihm zu bauen befohlen hatte.

»Onkel Heinrich,« unterbrach mich Willy, nachdem er mich mindestens zwei Minuten ganz verwundert angestarrt hatte, »glaubst du denn, daß das die Geschichte von Noah ist?«

»Gewiß, Willy; hier in der Bibel steht sie ja so.«

»Das ist aber Noahs Geschichte noch lange nicht,« sagte er mit steigender Emphase.

»Es kommt mir fast so vor, als ob wir beide verschiedene Bibelausgaben hätten, Willy; na, laß doch deine Lesart mal hören.«

»Was?«

»Erzähle doch du von Noah, wenn du so viel von ihm weißt!«

»Na ja, wenn du es willst. Einst war der liebe Gott ganz traurig, denn die Menschen waren so schlecht, daß es ihm leid that, daß er sie jemals geschaffen hatte, sie und die ganze Welt und überhaupt alles. Noah aber war nicht schlecht, Gott liebte ihn sehr und daher befahl er Noah, eine große Arche zu bauen. Und in die Arche sollte Noah gehen, wenn Gott es regnen lassen würde, damit alle Menschen vertilgt würden, nur Noah nicht, und seine kleinen Söhne und Töchter und seine Hunde und Kühe und die kleinen Kälber nicht; die sollten auch in die Arche gehen und nicht ein bißchen naß werden, wenn es regnete. Und Noah nahm auch zu essen und zu trinken mit in die Arche: Stachelbeeren, Semmel, Milch und Plumpudding. Noah wollte es aber doch nicht gern, daß die andern Leute alle ertrinken sollten und sagte zu ihnen: ›Es wird bald ganz furchtbar toll regnen, bessert euch doch, dann erlaubt euch der Herr auch, daß ihr in meine Arche kommt.‹ Aber die Leute sagten: ›Ach, wenn es regnet, denn gehen wir ins Haus, bis es aufhört,‹ und andere Leute sagten: ›Wir haben keine Angst vor dem Regen, wir haben ja einen Regenschirm.‹ Andere wieder sagten, sie würden nicht in die Arche gehen, da sie sich überhaupt auch vor einem solchen Regen nicht fürchteten. Als es aber nun wirklich regnete, gingen die Leute in ihre Häuser, und als das Wasser da hineinkam, kletterten sie auf das Dach und auf hohe Bäume, und als es noch weiter kam, gingen sie auf die Berge. Und das Wasser kam überall hin und vertilgte alle Menschen außer Noah und den Leuten in der Arche. Und es regnete vierzig Tage, dann aber hörte es auf, und Noah ging aus der Arche und seine kleinen Söhne und Töchter, und sie gingen, wohin sie wollten und alles in der Welt gehörte ihnen. Und da war keiner, der zu ihnen sagen konnte: Macht, daß ihr fortkommt, und es gab keine Schulen und keine schlechten Jungens, die sie prügeln konnten. So, nun erzähle uns eine andere Geschichte.«

Ich beschloß, keine biblische Geschichte wieder zu wagen, meine Erfahrungen auf diesem Gebiete waren nicht gerade ermutigend gewesen. So versuchte ich's denn mit einer Kriegsgeschichte.

»Wißt ihr, was ein Krieg ist?« rekognoscierte ich das Terrain.

»O ja,« sagte Willy, »Papa war selbst mit und hat einen Säbel mitgebracht; hast du ihn nicht schon da oben hängen sehen?«

Ja, ich sah ihn, und der gewaltige Abstand zwischen dem blutgetränkten Schlachtfelde, wo ich Thomas' Säbel zum letzten Male in Thätigkeit sah, und diesem friedlichen Zimmer, wo er nun hing, versetzte mich in eine Art träumerisches Sinnen, aus dem mich Willy mit den Worten weckte:

»Erzählst du denn noch immer nichts?«

»Gewiß, Willy, höre nur zu. Eines Tages, während des Krieges, ritten viele, viele Soldaten einen Weg entlang und waren furchtbar hungrig, und sie wußten gar nicht, was sie an dem Tage essen sollten.«

»Warum gingen sie denn nicht in die Häuser hinein und sagten den Leuten, daß sie hungrig seien? So würde ich es machen, wenn ich irgend einen Weg lang gehen würde.«

»Weil die Leute in jenem Lande sie nicht leiden konnten; die Brüder, Väter und Söhne in jenem Lande waren auch Soldaten; aber sie konnten die andern nicht leiden und wollten sie totschießen.«

»Das waren ja schreckliche Kerls,« sagte Willy entschieden.

»Nun aber, die andern Soldaten hatten sie ja zuerst totschießen wollen.«

»Dann waren sie alle zusammen schlecht, sonst hätten sie sich nicht totmachen wollen.«

»O nein, das waren sie doch nicht, es waren wirklich sehr viele gute Leute auf beiden Seiten.«

Der arme Willy sah ganz verdutzt und ratlos aus, wozu er auch wirklich berechtigt war, denn bisher haben selbst die besten und weisesten Männer das Rätsel ›Krieg‹ nicht zu lösen vermocht.

»Beide Parteien der Soldaten waren zu Pferde,« fuhr ich fort, »und sie waren sich schon sehr nahe, und als sie sich sahen, ließen sie ihre Pferde galoppieren, die Trompeten schmetterten und sie zogen ihre Säbel, um sich gegenseitig totzuschlagen; da lief gerade ein kleiner Junge, der in den Wäldern Beeren für seine Mama gepflückt hatte, quer über die Straße, fiel nieder und schrie. Da riefen einige: ›Halt!‹ und alle Pferde auf der einen Seite blieben stehen; da bliesen bei den Feinden die Trompeten auch Halt, und auch die Pferde der Feinde standen still, und ein Soldat sprang von seinem Pferd und hob den kleinen Knaben auf – er war erst ebenso groß, wie du, Willy – und suchte ihn zu beruhigen. Und von den Feinden kam auch ein Soldat und sah sich den kleinen Jungen an, und es kamen immer mehr Soldaten hinzu, und als der Junge sich beruhigt hatte und keine Schmerzen mehr fühlte und nach Hause ging, ritten die Soldaten alle fort, weil sie keine Lust mehr verspürten, sich gegenseitig totzuschlagen.«

»O Onkel Heinrich, das muß ein furchtbar guter Soldat gewesen sein, der den kleinen Jungen auf sein Pferd hob.«

»Weißt du denn auch, wer es war, Willy?«

»Nein.«

»Es war dein Papa.«

»Oh–h–h–h–h!« Wenn Thomas nur die Freude hätte sehen können, die das Gesicht seines Jungen jetzt verklärte, so hätte er sich aus dem damaligen Verlust seiner großen Aussichten als Kavallerie-Offizier gewiß nichts mehr gemacht. Willy schien die Geschichte in ihrer ganzen Bedeutung zu fassen, und seine großen Augen wurden tiefer und tiefer, als sie den weitschauenden, weltvergessenen Ausdruck annahmen, der für ein Erdenwesen fast zu heilig schien.

Bob aber, in dem eine zärtliche Mutter den Künstlersinn witterte, hatte während meiner Erzählung den Ausdruck eines Menschen angenommen, der völlig mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist, und kaum war der begeisterte Ausruf Willys verklungen, als der Kleine anfing, ein Abenteuer seiner eigenen Phantasie zum Besten zu geben:

»Als iß mal Scholdat war,« bemerkte er sehr ernst, »hatte iß einen ßönen Rock an und einen ßönen Hut auf und 'ne Muffe un 'ne tleine Slange um'n Hals, die miß ßön warm hielt; un es regnete und sneite un mir war ßo sleßt; da sluckte iß meinen Säbel runter und war mausetot.«

»Und wie kamst du hierher?« fragte ich mit einem Interesse, das der Tragik von Bobs Erzählung entsprach.

»Iß stehte wieder auf und kommte hierher. Und iß möchte mein Püppßen seine Wiede haben.«

Wie zäh der kleine Schlingel war! Welche Aussichten mußte der Junge später einmal als Geschäftsmann haben!

»Onkel Heinrich, ich möchte, daß Papa bald wieder nach Hause käme,« sagte Willy.

»Warum denn, Willy?«

»Ich möchte ihn gar so gern lieb haben, weil er zu dem kleinen Jungen im Kriege so gut gewesen ist.«

»Onkel Heini, iß mößte mein Püppßen seine Wiede haben! Mein Püppßen is in seine Deidei, und iß muß es sehen!« wiederholte Bob nochmals mit weinerlicher Stimme.

»Glaubst du nicht, daß der liebe Gott meinen Vater sehr lieb hat, weil er so gut war?« fragte Willy.

»Gewiß, alter Junge, das glaube ich bestimmt.«

»Der liebe Dott hat mein Papa sehr lieb, darum habe iß ihn auch sehr lieb,« sagte Bob. »Aber iß möchte mein Püppßen und seine Wiede haben.«

»Bob, ich weiß doch nicht, wo sie sind, warte doch bis morgen, dann sucht sie dir Onkel.«

»Ich weiß nicht, wie der liebe Gott es im Himmel ohne meinen Papa aushalten kann,« bemerkte Willy.

»Der liebe Dott nimmt Papa in' Himmel un Willy un miß un wir sehen den lieben Dott un spielen mit den Engeln un sin fuchbar lustiß un b'auchen niß ins Bett zu dehen, niß einmal, niß einmal.«

O ihr reinen Kinderherzen in eurer Einfalt! Wie groß ist im Vergleich mit den Erwachsenen euer Glaube, wie gering sind eure Fehler, wie erhaben eure Liebe –!

Ein Klopfen unterbrach mich. Ich rief: »Herein!«

Michel trat mit äußerst geheimnisvoller Miene ein, gab mir einen Brief und dieselbe Schachtel, in welcher ich Fräulein Mayton die Blumen geschickt hatte. Was hatte das zu bedeuten? Rasch riß ich das Couvert auf. Im selben Augenblick schrie Bob:

»O mei liebes Püppßen seine Wiede!« ergriff die Schachtel, öffnete sie und heraus fiel – seine Puppe. Mir war, als sollte ich in die Erde sinken; die Lektüre der folgenden Zeilen erschien auch wenig geeignet mich zu trösten:

 

»Alice Mayton stellt hiermit Herrn Burton das soeben mit seiner Karte erhaltene Paket wieder zu. Sie erinnert sich, den Inhalt der Schachtel bei einem von Herrn Burtons Neffen gesehen zu haben, vermag jedoch nicht, den Zweck der Zusendung desselben einzusehen.«

»Am 20. Juni 1875.«

 

»Bob,« brüllte ich, als mein jüngerer Neffe seine ekelhafte Puppe streichelte und ihr die schönsten Schmeichelnamen gab, »wo hast du diese Schachtel her?«

»Vom Hutßtänder,« erwiderte der Junge ganz vergnügt. »Iß legte sie immer in Tischtasten, wo sie einer weßdenehmt un olle Blumen eindeteckt hatte.«

»Wo sind diese Blumen?« forschte ich weiter.

Bob sah mich etwas verdutzt an, dann sagte er:

»Die habe iß weßdewerft, was sollen denn olle Bumen in mein Püppßen seine Wiede! Buße, buße, beichen!« Und dieser schreckliche kleine Zerstörer menschlicher Hoffnungen wiegte jene Schachtel ganz vergnügt hin und her und sang der Stellvertreterin meiner schönen Blumen ein Schlummerlied!

Der Ausdruck »strafend« bezeichnet nur sehr unvollkommen die Blicke, mit denen ich Bob ansah, und für meine Gefühle ihm gegenüber hat die menschliche Sprache keine Bezeichnung. In wenigen Augenblicken hatte ich jedoch entdeckt, wie ängstlich ich im Grunde bemüht gewesen war, Fräulein Maytons Wohlwollen zu erlangen, und wie sehr verschieden das gewünschte Wohlwollen von dem war, das ich früher erhofft und für ausreichend befunden hatte. Es kam mir zu lächerlich vor, daß ich, der ich jahrelang Dutzende von reizenden Damenbekanntschaften gehabt, der ich stets dabei gesunde Vernunft und Selbstbeherrschung mir bewahrt; ich, der ich es immer für unzweckmäßig gehalten hatte, wenn ein Mann sich für eine Dame interessierte, ehe er fünftausend Pfund jährliches Einkommen besaß; ich, der ich so oft bewiesen hatte, daß Verbindungen für das Leben, welchen nicht ein eingehendes Charakterstudium vorausging, eine ganz unverzeihliche Narrheit wären – ich hatte nun die mir selbst gesetzten Lebensregeln so vollständig über den Haufen geworfen, und als sollte ich für meine angebliche Weisheit und Vorsorge so recht verhöhnt werden, wurde mir dies durch einen dreijährigen Jungen und eine scheußliche Lumpenpuppe zu Gemüte geführt.

Jener barmherzige und adelnde Trieb der Menschenseele, durch welchen die Vorsehung uns fähig macht, unsere eignen Leiden zu ertragen, indem wir die anderer lindern, kam mir indessen bald zu Hilfe. Unter meinem strengen Blick hatte nämlich Bob sehr bald das Interesse an seiner Puppe und ihrer Wiege verloren und fing an, die Unterlippe nach vorn zu schieben und ganz unmenschlich zu heulen.

»Lieber Dott, mach miß niß so sleßt,« rief er, bitterlich weinend. Ich zweifle, daß er überhaupt eine klare Vorstellung von dem hatte, was er sagte, oder an wen er es richtete. Ganz zerknirscht stand der kleine Sünder da und wollte sich eben in eine Ecke zurückziehen, um sein Gesicht in selbst auferlegter Buße zu verbergen.

»Na, sei nur still,« sagte ich betrübt, »die Sache ist ja nicht so schlimm.«

»Iß will diß lieb ha – am,« schluchzte Bob.

»Komm nur her, du armer, kleiner Kerl,« tröstete ich ihn, indem ich meine Arme öffnete und mich fragte, ob nicht dem Dichter und Bischof Tegner ein solcher Sünder vorschwebte, als er schrieb:

»Der Liebe Tiefen sind der Buße Tiefen, denn Lieb' ist Buße nur.«

Bob kam in meine Arme, vergoß auf mein Oberhemd reichliche Thränen und sagte endlich nach einem langen, tiefen Seufzer:

»Du sollst Bob wieder lieb ha – am!«

Ich erfüllte seinen Wunsch. Theoretisch hatte ich längst gewußt, daß die höhere Weisheit des Schöpfers sich oft durch Vermittelung seiner unschuldigsten Geschöpfe zu offenbaren pflegt. Hier fand ich nun eine sichere Bestätigung meiner Theorie; denn wer hatte mir jemals die Pflicht des Geschädigten gegen seinen Schädiger greifbarer klar gemacht als dieses Kind? Ich küßte Bob, streichelte ihn und beruhigte ihn auch schließlich. Sein kleines Gesicht war trotz des vielen Schmutzes und trotz der vielen Thränenspuren von größerer Schönheit, als es je gewesen, wenn er vergnügt war; er sah mir ernst, voll Vertrauen in die Augen, und ich freute mich über meine Vervollkommnung in der Kunst des Verzeihens, als Bob mir meinen alten Adam und das Mangelhafte meiner Verzeihung mit den Worten wieder vorhielt:

»Küß auch mei Püppßen!«

Ich – gehorchte. Meine Überwindung war vollständig, aber auch meine Demütigung und ich brach deshalb unser Beisammensein plötzlich ab. Wir tauschten unser Gott behüt' dich, aus, gemäß den Anweisungen, welche Willy mir am Abend vorher gegeben hatte, und einer der Teilnehmer dieser frommen Übung hoffte wenigstens ganz bestimmt, daß die von dem andern ausgesprochene Bitte in Erfüllung gehen würde. Dann ließ ich mich in einem Lehnstuhle nieder und verfiel in tiefes Nachdenken. Da machte ich die Entdeckung, daß ich wirklich und ernstlich wegen der etwaigen Folgen des Bobschen Streiches mit dem Bouquet beunruhigt war. Allerdings konnte ich Fräulein Mayton die Sache erklären; sie war ein zu verständiges Mädchen, um von einem so lächerlichen Irrtum, den ein Kind hervorgerufen hatte, sogleich beleidigt zu werden. Aber sie konnte mich auslachen – was sollte ich thun? Von Fräulein Mayton ausgelacht werden! Brr! Der bloße Gedanke war mir schon eine Qual und trieb mir das Blut ins Gesicht. Wie jeder andere junge Mann war ich unter meinesgleichen die Zielscheibe manches derben Scherzes gewesen und hatte ihn, ohne eine Miene zu verziehen, ertragen. Es schien mir feige und verächtlich, daß ich schon bei dem bloßen Gedanken an Fräulein Maytons Gelächter so empfindlich sein sollte – eines Gelächters, das wahrscheinlich nur Fräulein Mayton selbst hören würde. Aber nichts schadet in den Augen einer Dame mehr als Lächerlichkeit. Himmel, der Gedanke war unerträglich. Jedenfalls mußte ich bald ein Entschuldigungsschreiben an sie richten. Als ich noch Korrespondent in dem Hause war, dessen Teilhaber ich jetzt geworden, gewann ich manchen alten Kunden durch einen geschickten Brief wieder. Sollte mir dies nicht auch bei Fräulein Mayton gelingen? Ich entwarf schnell ein solches Opus, verbesserte es sorgfältig, schrieb es sauber ab und schickte es dann durch den treuen Michel fort. Darauf versuchte ich zu lesen, fand aber keine Ruhe. Stundenlang schritt ich in der Veranda auf und ab und verdampfte eine Cigarre nach der andern. Unter allerlei Gedanken, Hoffnungen, Befürchtungen und Vorstellungen, die ich vorher nie gekannt hatte, kehrte ich endlich ins Haus zurück. Treu meinem Versprechen sah ich noch einmal in das Zimmer meiner Neffen; die beiden Jungen lagen lieblicher und anmutiger da, als irgend ein Pinsel oder Meißel sie je hätte wiedergeben können. Bob besonders sah so lieblich aus, daß ich nicht umhin konnte, ihn zu küssen. Dessen ungeachtet benutzte ich aber meinen neuen Schlüssel und verschloß auch die andere Thür.

.


 << zurück weiter >>