Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Als ich am nächsten Morgen aufstand, fand ich einen Brief unter meiner Thür. Obwohl ich enttäuscht war, daß er nicht Alices Handschrift trug, freute ich mich doch, auch wieder etwas von meiner Schwester zu hören, besonders da das Schreiben folgendermaßen lautete:

 

Am 1. Juli 1875.

Lieber, guter Bruder! Mit Schmerzen denke ich daran zurück, wie wir beide einst als Brautleute vierzehn lange Tage in einer Familienpension zubringen mußten, wo man gezwungen ist, sich in dem gemeinsamen Salon aufzuhalten und nie zu einem ungestörten Gedankenaustausch kommen kann. Ich habe mich daher entschlossen, meinen Besuch hier abzubrechen und schleunigst nach Hause zu fahren, damit Ihr Euch bei uns im Familienzimmer ungeniert und ungehindert durch die tausend Störungen Unberufener unterhalten könnt. Thomas, der Gute, immer Folgsame, ist natürlich damit einverstanden; sei daher so gut und schicke den Wagen nach dem Bahnhof, um uns Freitag früh 11 Uhr 40 Minuten abzuholen. Lade Alice und ihre Mutter in meinem Namen zu uns am Sonntag zum Mittagessen, wir können sie dann gleich von der Kirche aus mitnehmen.

Deine Dich liebende Schwester
Helene.«

» P.S. 1. Natürlich bringst du in dem Wagen meine Engelchen mit.«

» P.S. 2. Es wird dich doch nicht stören, wenn du in das Gastzimmer übersiedelst? Ich würde wahrhaftig nicht schlafen können, wenn ich meine Herzensjungen nicht neben mir hätte.«

 

Am Freitag Morgen wollten sie also kommen – tausend Dank ihren gefühlvollen Herzen – aber Himmel! heut war ja schon Freitag. Ich eilte in das Kinderzimmer und rief:

»Bob! Willy! Nun rathet mal, wer heute kommt!«

»Na, wer denn?« fragte Willy.

»Der Leiertastenmann?« forschte Bob.

»Nein, euer Papa und eure Mama.«

Willy nahm im Augenblick seine Engels-Physiognomie an; Bob aber blinzelte ein wenig mit den Augen und murmelte dann etwas traurig:

»Iß dachtete, es wäre der Leiertastenpieler.«

»O Onkel Heinrich!« rief Willy und sprang im Freudenrausch aus dem Bette. »Ich glaube, wenn Papa und Mama noch länger geblieben wären, dann hätte ich sterben müssen. Ich habe mich so nach ihnen gesehnt, ich wußte garnicht, was ich machen sollte. Wenn es nachts so dunkel war, und Bob noch schlief, da war ich so furchtbar einsam und da hab' ich so sehr geweint, ach so sehr, daß immer das ganze Kopfkissen naß war.«

»Aber, lieber, alter Junge,« sagte ich, nahm ihn in die Arme und küßte ihn; »warum kamst du denn nicht zu Onkel Heinrich und klagtest ihm dein Leid; der hätte sicher versucht, dich zu trösten?«

»Ich konnte nicht;« »wenn ich traurig bin, dann ist's gerade, als ob mir der Mund zugebunden ist, und großer, dicker Stein liegt dann hier,« klagte Willy und deutete mit der Hand auf seine Brust.

»Wenn iß d'oßen Tein dad'in hätte, dann nehmte iß ihn 'aus und smeißte die Hühner damit,« versicherte Bob.

»Bob,« bemerkte ich nachdrücklich, »freust du dich denn gar nicht, daß Papa und Mama wieder kommen?«

»O, sa,« entgegnete der Schlingel, »dans fuchbar, denn Mama b'ingt immer Bomboms mit, wenn sie weddedeht ist.«

»Bob, du bist doch wirklich eine schnöde Schacherseele.«

»Iß heiße niß Sacherteele, iß heiße Bob Lawrence.«

Nichtsdestoweniger beeilte er sich ebenso sehr mit seiner Toilette wie Willy. Bonbons waren ihm dasselbe, was gewisse philosophische Systeme ihren Anhängern sind. Zappelnd fuhr er in seine Kleiderchen, was sehr drollig aussah.

»Halt, Jungens,« rief ich, »ihr müßt heute ganz reine Kleider anziehen. Was soll denn Vater und Mutter denken, wenn sie gleich im Anfang euch so schmutzig sehen?«

»Na natürlich,« pflichtete Willy bei.

»Iß t'iege mein bestes Tleidßen anzutiehn,« jubelte Bob und klatschte dabei in die Hände, »Ei! Ei! Ei! Das iß aber mal szön!«

Ich war immer der Ansicht gewesen, daß bei meiner Schwester Helene Eitelkeit eine der hervorstechendsten Charaktereigenschaften sei – hier trat nun die Erbsünde bereits in der ersten Generation zu Tage.

»Un meine Szuhe müssen mit Nedabüste demacht werden,« sagte Bob.

»Was meinst du?«

»Meine Szuhe müssen Neda demacht werden, wie Neda mit Bü'ste un Flasse.«

Trotz geschärfter Aufmerksamkeit konnte ich mir dies Volapük nicht entziffern. Fragend sah ich Willy an.

»Er meint, seine Stiefel müssen ganz schwarz gemacht werden mit der Bürste und dem Schuhlack.«

»Un iß will auch eine Färpe haben,« fuhr Bob fort.

»Schärpe meint er,« vordolmetschte Willy. »Er ist furchtbar eitel.«

»Un meinen Toddeldut und die 'oten Hansuhen,« verlangte Bob weiter.

»Seinen Troddelhut und seine roten Handschuhe meint er.«

»Bob, an so heißen Tagen wie jetzt kannst du keine Handschuhe tragen,« sagte ich.

Ein traurig fragender Blick Bobs war die Folge; dann traf er seine mir nur zu sehr bekannten Vorbereitungen zum Heulen, und da ich nicht wollte, daß er mit verweinten Augen vor seiner Mutter erscheinen sollte, rief ich schnell:

»Zieh sie nur an, zieh dir meinetwegen auch den dicken Wintermantel Michels an; vor allem aber heule nicht.«

»Iß will teinen Mantel von ollen Missel,« erklärte Bob, »iß will meine eidenen Tleider.«

»O Onkel Heinrich,« rief Willy, »weißt du was, ich will Mama in meinem Ziegenwagen nach Hause fahren!«

»Aber Willy, die Ziege ist ja nicht stark genug, um dich und deine Mama zu ziehen.

»Dann laß mich wenigstens nach dem Bahnhof fahren, damit Papa und Mama sehen, daß ich einen Ziegenwagen habe. Mama würde gewiß sehr böse sein, wenn sie nachher erführe, daß ich einen Ziegenwagen gehabt und ihn ihr nicht gleich gezeigt hätte.«

»Na, dann fahre meinetwegen mit, aber sei ja recht vorsichtig.«

»Na natürlich, denkst du denn, daß ich den Wagen umschmeißen will, wenn Papa und Mama kommen?«

»Nun hört mal, Jungens, jetzt müßt ihr recht artig im Hause spielen und nicht hinausgehen, sonst macht ihr euch wieder schmutzig.«

»Ich denke nur, die Sonne nimmt es übel, wenn ich nicht hinauskomme,« sagte Willy bedenklich.

»Glaube doch das nicht, die Sonne ist alt genug, um warten gelernt zu haben.«

Nach dem ersten Frühstück verfügten sich die Jungen mit einigem Widerstreben in das Spielzimmer, während ich Haus und Hof einer genauen Inspektion unterzog, um mein Verwaltungstalent in möglichst gutem Lichte zu zeigen und alles recht ordentlich und sauber zu übergeben. Ein Thaler, den ich Michel und Marie gab, that viel zur Erreichung dieses Zieles, und so hatte ich noch Zeit, um Helenens Zimmer und das Wohnzimmer mit Blumen zu schmücken. Als ich das erstere betrat, hörte ich jemand an der Waschtoilette hantieren, die in einem Alkoven stand. Es war mein Neffe Bob, der eben eine Flasche mit einer dunkel gefärbten Mixtur leerte.

»Swarze Melizin, ries er mir schmunzelnd entgegen, »smeckt ruchbar ßön.«

»Aus was hast du denn die gemacht?« fragte ich ihn freundlich, während mir die Erinnerung an meine eigenen Kinderjahre aufstieg. Wie oft hatten Helene und ich Lakritzen in Wasser aufgelöst und dies Gebräu dann mit großer Wichtigkeit und in ebenso großen Mengen als »Medizin« eingenommen.

»Iß bemacht aus Sodamißtur.«

Das war auch eine meinerzeit beliebte »Medizin,« die aber wenigstens von Apothekern zurecht gemacht wurde und nur schädlich wirkte, wenn man sie in sehr großen Mengen nahm.

»Wie viel hast du denn davon getrunken?«

»Habe danse Flösse ausdet'inkt – ah, sehr ßöhn.«

Da fiel mein Blick auf die Etiquette – ich las darauf: »Äußerlich.« In einer Sekunde hatte ich Bob in einen großen Shawl gewickelt und auf meinen Arm genommen, in der nächsten saß ich auf einem von Thomas' Pferden und jagte wie ein Wahnsinniger auf der Straße nach dem Nachbarorte dahin. Überall, wo ich vorbeisauste, stürzten die Leute vor die Thüren und starrten der gespensterhaften Erscheinung nach. Ein alter Bauer, der des Weges geritten kam, machte schleunigst kehrt, stieß seiner alten Mähre die Stiefelabsätze in die Weichen und schrie in einem fort: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Wie ich später erfuhr, hat er mich für einen kinderstehlenden Zigeuner gehalten und ihm dabei in seiner Phantasie eine Belohnung von einigen Tausend Thalern vorgeschwebt, die er gar zu gern gehabt hätte.

Vor der Thür der Apotheke parierte ich mein Pferd, stürzte hinein und rief: »Rasch, rasch ein Brechmittel – der Junge hat Gift genommen!«

Der Apotheker traf rasch die geeigneten Vorbereitungen. Während dieser kurzen Pause benutzte Bob, bei dem das Gift noch nicht gewirkt hatte, die schöne Gelegenheit, des Apotheker-Katze in den Schwanz zu kneifen, worüber diese ein klägliches Protestgeschrei losließ.

Die Ereignisse der nächsten fünf Minuten waren so revolutionärer und drastisch-realistischer Natur, daß ich sie hier lieber nicht weiter beschreiben will. Es genügt wohl, wenn ich bemerke, daß Bobs Umfang bedeutend verringert, sein Magen erleichtert und die Farbe seines Gesichtchens um einige Schatten blässer wurde. In bedeutend ruhigerem Tempo kehrten wir darauf nach Hause zurück, wo ich Bob durch Marie sogleich ins Bett stecken ließ. Während der Exekution dieses Befehls hörte ich noch folgenden Erguß Bobs:

»Du, Willy, weißt, heut bin iß aber mal d'oßer Walfiß dewesen! Sonas hab iß niß ausdepuckt, aber danse Menge annern T'am, ach, so vill – so vill!«

.


 << zurück weiter >>