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Letztes Kapitel.

 

Der Sturmwind reißt die Pforte der Zukunft auf.

 

Schlachtenmaler hatte sich schon am nächsten Morgen in aller Frühe – es war ein Sonntag – aus der Nähe des halbstaatsgefangenen Feldherrn, dem er zu einigem Troste seine Zeichnungen zurückließ, entfernt. Klein-Bethlehem, das er wiedersehen wollte, war vom Schauplatz der Begebenheiten eine Meile entfernt; und noch hüllte Nebelduft den kalten Herbstmorgen ein. Von nah und fern läuteten die Sonntagsglocken, und selbst die Glocken von Mispelheim glaubte er ganz in der Ferne zu hören. Doch klangen diese ihm wie das Geigenspinner'sche Sendschreiben, wie das Zischen und Locken einer Schlange. Rüstig schritt Schlachtenmaler vorwärts und beobachtete die Sonne, die sich endlich Bahn brach und den Nebelschleier fallen ließ, was immer bessere Hoffnung für das Wetter gibt, als wenn die Sonne sich die Nebel in die Höhe zieht, wie eine Capuze, und darunter wegschlüpfen will, wo es ohne Regen nie abgeht. Schlachtenmaler konnte jetzt die Gegend bald unterscheiden, und, je weiter er schritt, desto vertrauter wurde sie ihm, desto banger sein Herz.

Der Himmel hat uns manche Freude gegeben, die man mit Worten nur in ihren äußersten Umrissen bezeichnet. Nicht Alles ist namenlos, was die Dichter an Schmerz und Freude so nennen; aber namenlos ist wohl die wonnevolle Wehmuth, nach langer Abwesenheit, die einer neuen sich entwickelnden und kräftigenden Menschwerdung gewidmet war, wieder in die heimathlichen Kreise seines ersten Jugendlebens zu treten und ihre Veränderung mit ihrem frühern Aussehen, ihr Gleichgebliebenseyn mit der Veränderung unsrer eignen Schicksale und Ideen zu vergleichen. Schlachtenmaler hätte an jedem Maulwurfshügel, auf den er jetzt trat, stehen bleiben mögen: denn jetzt wurd' ihm Alles so vertraut, wie der Garten seines Hauses. Jeder Baum schien ihn zu grüßen, in jedem Gebüsch flüsterte es wie eine bewußte Erinnerung, die ihm freudig entgegenraschelte. Das falbe Gras eines Waldweges, den er eben ging, die Kienäpfel, die zur Seite lagen, die Tannennadeln, die, vertrocknet am Boden, dem Weg eine ihm so wohlbekannte Glätte gaben, die Laubblätter im Gehölze selbst, die ausgebrannten Stellen rechts und links, wo man starke Wurzelstämme in Kohlen verwandelt hatte – ach, das tönte Alles eine so wehmüthige, selige Musik für sein Herz aus, daß er öfter still stehen und die Masse der auf ihn einstürmenden Eindrücke lichten und ordnen mußte. Nicht nur, daß er die wohlbekannten Waldesplätze, die sich durchkreuzenden Wege, eine Sandfurth, einen kleinen Bach mit seiner weißen Erlenholzbrücke, einen grünen Rasenplatz und drüben einen rauchenden Schornstein wiedersah und selbst die gewohnten Fußboten und Landgänger, die ihm gerade an der Stelle begegneten, wo er sie so oft gesehen hatte – es knüpften sich auch an alle diese Einzelnheiten Geschichten und Erlebnisse an, die, so unbedeutend und kindisch sie waren, doch in ein Ganzes zusammenrannen und eine Lebhaftigkeit der Erinnerung schufen, die sich unmittelbar gleichsam als Fortsetzung in eine abgebrochene Periode versetzen konnte. Das Kleinste tauchte mit einem grünen frischen Kranze aus den Lethewellen auf, und es bestätigte sich Schlachtenmalern auch, daß ihm von den Dingen, die er sah, nicht bloß das bei ihnen Erlebte, sondern selbst das bei ihnen Gedachte entgegen rief. Das Gedächtniß ist eine wunderbare Geisteskraft. Es knüpft die Erinnerung eines Dinges oft an das Ungleichartigste an, so daß ein grüner Rasenplatz oder das Bellen eines Hundes in der Ferne immer dieselbe eigenthümliche und sich gleichbleibende Gedankenreihe in uns erweckt. Beim Hammerschlag eines Schmiedes, beim Rauschen einer Mühle, bei einem See, dessen ganzer Spiegel uns bei der Wendung um ein die Aussicht verhinderndes Haus entgegenlacht, bei zahllosen Zufälligkeiten, die sich einem tiefern Gemüthe aus dem Naturleben einprägen, strömen uns Darstellungen zu, die gleichsam etwas Vergessenes sind, was wir einstens dort zurückließen und nun immer und immer wiederfinden. So lag auf Schlachtenmalers Antlitz, ob ihm gleich mehr bang, als freudig über das Wiedersehn des Vaters sein Herz schlug, ein lächelnder, seliger Friede, den das bunte poetische Ineinanderspiel der Natur und des Geistes von selbst auf seine Mienen goß. Was er fühlte, gehörte wahrlich zu jenen namenlosen Dingen, für welche man wohl annähernde, aber keine erschöpfende Worte hat.

Sowie jedoch Schlachtenmaler in die unmittelbare Nähe seines Dorfes kam, hörte der ungeordnete Andrang der Erinnerungen auf seine Brust plötzlich auf, und der Gedanke, wie, wo er seinen Vater finden würde, drängte alle andere Stimmungen seiner Seele zurück. Da stieß gleichsam jede Egge und Pflugschar, jede Wagendeichsel, die in einem Winkel an einem Zaune lag, einen grellen Schrei der Bewillkommung aus; wohin Schlachtenmaler trat, es war sein eignes Herz, das er traf; er fiel über seine eignen Schritte; doch hing er keinem dieser Eindrücke lange nach, sondern sammelte sich für den Augenblick, wo er einen Seitenweg im Dorfe einschlagen und das Vaterhaus vor sich würde liegen sehen. Indem fing die wohlbekannte Morgengottesdienstglocke zu läuten an. Er mußte einen Augenblick stille stehen, um durch dieses kurze, hellstimmige Bimmeln nicht um alle Fassung zu kommen. Was ihn wieder schnell aufrichtete, war die schmerzliche Erfahrung, daß er, ach! Niemanden in die Kirche gehen sah; keine weiße Haube, kein Gesangbuchsgoldschnitt, wie früher, ließ sich sehen, selbst keinem Kinde rief die Mutter nach, Acht zu haben und sich den Text zu merken – wie früher! Die Bauern standen in Hemdärmeln unter der Thür und rauchten ihre Pfeife, Andere waren ihm auf dem Wege in's Lager begegnet, er brauchte alle mögliche Wendungen, um nicht erkannt zu werden. Die Glocke hüpfte zum zweiten Mal im Kirchendachstuhl, es war bald sieben Uhr; Niemand durchschritt die Kirchhofsmauerpforte, die jetzt vor ihm lag. Unmöglich konnte er seinen Vater vor der Predigt stören; er mußte sich bis zum Schluß des Gottesdienstes gedulden und schritt mit wehmüthigen Gefühlen unter den Gräbern des Kirchhofs, der keine andere Blumen, als gelbe Todtenblumen und kalte, wenn auch bunte Astern trug. Als es zum dritten Male läutete, ging Schlachtenmaler in die Kirche, die er so schlicht und einfach wiederfand, als er sie verlassen hatte. Die Thränen stürzten ihm in die Augen, als er Niemanden, auch nicht eine Bettlerin, nicht Kind oder Kegel darin sah. Er fühlte das Elend seines Vaters wie die heftigste Kränkung, die seinem eignen Ehrgefühl angethan war; er weinte um den Schmerz, der in seines Vaters Innerm wühlen mußte. Die Orgel begann nicht, ob er gleich den hallenden Tritt des Küsters hörte. Er drückte sich hinter einen hölzernen Pfeiler; der Küster war nicht mehr der alte, es war ein junger Mann, ein neumodischer Seminarküster, der das Lautiren einführte und die Dorfjugend singen nach Zahlen lehrte. Der Küster trat auf Schlachtenmalern zu und sagte: »Mein Herr, ich möchte Sie bitten.....« Schlachtenmaler sah ihn stark an, um seinen verweinten Augen wieder einige Kraft zu geben. »Sie werden entschuldigen,« fing der Küster mit komischem Lächeln an, »es ist Niemand in der Kirche außer Ihnen; es wird dem Pfarrer angenehmer seyn, Sie gingen auch, weil er sonst nur vor Ihnen und mir predigen müßte.« Es war nicht Lachen, was Schlachtenmalers Mienen auf diesen originellen Vorschlag zeigten, sondern ein Krampf, der tief aus seinem wie von einem Stich sich krümmenden Herzen kam. Der Küster verstand es als Lachen und führte Schlachtenmalern auf den Kirchhof hinaus, indem er, nach Art dieser jungen pestalozzisirenden Seminaristen, es für angemessen hielt, den Fremden einen Blick in seinen höhern Beruf werfen zu lassen. Schlachtenmaler wollte aber von der Peter Schmidschen Zeichenmethode von Harnisch, Diesterweg und Türck nichts wissen, bat ihn, die Neuzeller Singmethode und die Seidenwürmerzucht ihm ein ander Mal zu erklären, und wünschte nur zu wissen, wo er den Pfarrer Blasedow antreffen würde. Der Küster schloß die Kirche zu und lud Schlachtenmalern ein, ihm an die Sacristeithüre zu folgen, die noch offen stände und doch verschlossen werden müßte. Schlachtenmaler war von dieser Erfahrung, die er über die gänzlich untergrabene geistliche Wirksamkeit seines Vaters machte, so übermannt, daß er erschöpft auf eine Bank niedersank, welche eine fromme Mutter hatte zimmern lassen, um ihr Kind, das hier begraben lag, öfters besuchen zu können. Der Küster schloß die Sacristei zu, kam wieder zurück und sagte, indem er sich im Haar kratzte: er könne nicht sagen, wo man wohl jetzt den Pfarrer träfe..... Schlachtenmaler würd' ihn noch haben weiter reden lassen, wenn der Seminarist nicht weltweise genug gewesen wäre und sich mit Maß und Ziel ungefähr so über seinen geistlichen Vorstand ausgesprochen hätte. »Es würde bei den großen Geistesgaben des Pfarrers,« sagte er, »ein anderes Gewächs aus ihm geworden seyn, wenn er sich mehr an Pestalozzi gehalten und seine eigenen pädagogischen Träume unterdrückt hätte. Statt auf die Natur zurückzugehen und die Menschen zunächst als Menschen zu erziehen, hat er die Vorstellung, man müsse die Menschen für das erziehen, was man werden solle: denn das Menschliche entwickle sich von selbst. Ja, von selbst! Da würden wir schöne Seminarien haben, wenn alle Lehrer für verschiedene Unterrichtsfächer und nicht jeder für alle gebildet würde! Der Pfarrer will den Menschen behülflich seyn, die Masse des Wissens schneller zu überwinden; aber dafür haben wir ja Aussicht, eine neue Gedächtnißtheorie zu erfinden, nach welcher Namen und Jahreszahlen leichter eingeprägt sind, und man die Logarithmen, die Cubikwurzeln und Gleichungen von den höchsten Graden ohne viel Mühe im Kopf behält. Haben wir nicht schon durch das Lautiren, durch das Singen nach Zahlen.....« – »Nein, nein,« unterbrach Schlachtenmaler den Küster, »führen Sie mich zum Pfarrer!« Der Küster meinte, sie gingen erst am Schulhause vorüber, wo er ihm die neuen Wandtafeln, einen Kummerschen Globus und eine eigne Erfindung, die noch nicht ganz fertig wäre, nämlich eine Maschine zur Erleichterung des Kopfrechnens, zeigen wollte; doch wußte Schlachtenmaler recht gut den Weg zum Pfarrhause und zog ihn dorthin. »Die Pfarrerin,« sagte der Küster mit einer herzdurchbohrenden Wirkung für Schlachtenmaler, »werden Sie nicht antreffen: sie führt seit längerer Zeit einem Prediger in der Nähe die Wirthschaft; überhaupt ist das Haus kirchhofsstille, und, außer einer alten Magd, wird es nur vom Pfarrer bewohnt.« Indem standen sie schon dicht an der Thür, und Schlachtenmaler drückte zitternd auf das Schloß. Im Flur, dem Schauplatz seiner Gespensterrolle, war Alles leer; der einst so geräuschvolle, lärmende Sitz seiner ersten Jugend war verwaist. Sie öffneten einige Thüren. Niemand da; der Küster rief – keine Antwort! So traten sie in den Hof und waren dicht am Garten, als der Küster Schlachtenmalern ergriff und ihm zuflüsterte: »Nein, sehen Sie um Gotteswillen die Tollheit!« und ihn an die Gartenmauer zog. Hier hatte Schlachtenmaler einen Anblick, als wenn er in den Garten eines Irrenhauses sähe. Blasedow lief, indem er sich die Rockschösse zusammenhielt, wie ein Windspiel durch den Raum zwischen den Beeten, sprang über Hecken und Sträucher fort, rannte im Cirkel mit Biegungen rechts und links, setzte hoch von Leitern, die er erkletterte, herab und geberdete sich wie ein Seiltänzer, der seinen Gliedern durch diese gymnastischen Uebungen Gelenkigkeit zu geben wünscht. Dann stand er vom Springen ab und lief durch den ganzen Umkreis des Gartens, wie ein Wiesel; man denke die lange Gestalt, den Kopf voraus, die Rockschösse oft der Hand entgleitend und hintenaus fliegend, wunderlich genug, um den Küster zu entschuldigen, daß er recht von Herzen darüber lachte. Aber Schlachtenmaler faßte ihn vor die Brust: »Mensch –« Der Seminarist sah ihn groß an und hielt es für Scherz; Schlachtenmaler schüttelte ihn aber, und sagte: »Es ist mein Vater!« Indem meinte der verwunderte Schullehrer: »Ach, es ist auch nur ein Gesundheitsspaß von Ihrem Herrn Vater; das ewige Sitzen und Grübeln fährt ihm öfters in den Unterleib, und dann sucht er sich durch diese gymnastischen Uebungen wieder die erschlafften Ganglien aufzurütteln, und es gelingt immer, besonders durch den Schweiß!« Nun dankte Schlachtenmaler Gott und hielt sich an seinen Begleiter, um in den Garten zu gehen. Blasedow saß hinten in einer verfallenen Laube und keuchte von seinem ambulanten russischen Bade, indem er sich mit einem Tuche die Stirn trocknete. Der Garten war theils zerstört, theils gar nicht mehr bebaut. Ueberall im Aeußern der Widerschein des zerrütteten Innern dieser Familie. Schlachtenmaler stand einige Male still, um sich zu fassen und den Küster ohnedies, der voreilig mit der Kunde durchgehen wollte. Da stand Blasedow auf und kam den Beiden mit großer Ruhe entgegen. Schlachtenmaler konnte nicht weiter und hielt sich, von Wehmuth durchzittert, an einen Baum. Blasedow hatte ihn erkannt, und mit sanfter, innerlich erbebender Stimme rief er ihm zu: »Ermanne dich, mein Sohn! wir gehören doch Beide zu den Leuten, die in rührenden Lagen erst dann weinen, wenn die Andern schon wieder getrockneten Auges Kaffee trinken und Buttersemmeln essen. Mein guter Junge!« Damit drückte er Schlachtenmalern an sein Herz und ließ sich die trocken ausgedörrte Wange so lange von ihm küssen, bis sie von dessen Thränen ganz durchnäßt war. Nun erst hielt er ihn gleichsam gegen die Sonne, schüttelte ihn wie einen alten, treuen Bekannten und zog ihn mit sich auf die morsche, von Wind und Wetter halb zerstörte Bank der Laube. Der Küster ging, um seine Kopfrechnungsmaschine weiter auszuführen.

Nun fing Blasedow ordentlich erst an, mit seinem Sohn Parole auszuwechseln und gleichsam sein Signalement zu prüfen. Er frug ihn: »Was denkst du denn nun vom Leben?« Schlachtenmaler sagte: »Es gibt uns nur das, was wir ihm opfern. Was es uns schenkt, darum verkürzt es uns. Je glücklicher wir sind, desto ärmer werden wir.«

»Was denkst du nun wohl von den Menschen?« fragte Blasedow. »Besseres,« antwortete Schlachtenmaler, »als sie selbst. Jeder wäre des Höchsten fähig, aber es wird nicht geweckt. Der größte Feind der Menschen ist die hergebrachte Ordnung. In der Harmonie derselben aufzugehen, dahin drängt sie die Erziehung und der Staat; die Moral nennt es Tugend, sich nicht hervorzuthun, sondern im Ganzen zu verschwimmen. Die Menschen bedürfen seiner neuen Erlösung. Die Hebel der sittlichen und gesellschaftlichen Ordnung sind ermattet, es müssen neue elastische Springfedern kommen, um die Menschen lebendiger in den bewußten Gebrauch ihrer Kräfte zu versetzen.«

»Was denkst du von Gott?« fuhr Blasedow fort. »Daß er überall gewiß da vorhanden ist,« sagte Schlachtenmaler, »wo ich einen Raum, eine Lücke nicht auszufüllen weiß.«

»Was denkst du von der Bildung?« »Daß Kenntnisse nur ihr Einmaleins sind; die höheren Rechenspecies müssen anderswoher entnommen, aber die Kenntnisse doch die sich von selbst verstehenden Voraussetzungen seyn.«

»Was denkst du von der zukünftigen Civilisation?« – »Daß sie damit beginnen wird, unsre gegenwärtigen tiefsten Begriffe eben so leicht zu nehmen, wie wir jetzt die Begriffe des Reformationszeitalters uns schon an den Kinderschuhen ablaufen. Das neue Stadium der Bildung beginnt, wenn das, was jetzt bestritten wird, sich von selbst versteht.«

»Was denkst du von den Fürsten und Monarchien?« – »Daß sie immer bereit seyn müssen, die Throne zu verlassen, und nur deßhalb bleiben, weil sie beauftragt und gebeten sind, die Repräsentantenrolle eines nothwendigen Begriffs zu spielen.«

»Und von der Liebe?« – »Daß die Ehe zwar zu vermeiden, aber nicht zu umgehen ist.«

»Was denkst du von der Literatur?« – »Daß Shakespeare todt ist.«

»Und von der Kunst?« – »Daß sie nach Brod geht.«

Blasedow lachte und sagte: »Keine einzige Antwort ist richtig, die du gegeben hast; aber, wenn deine Gedanken Werth für dich selber haben, so sind sie unwiderleglich.« Damit zog er ihn in die Höhe, ergriff seinen Arm und verließ den Garten und das Haus. »Du wirst dich wundern,« begann jetzt Blasedow, indem sie gingen, »daß ich dich und deine Brüder so lange Zeit euch selbst überließ. Da ich aber für euer Wohl nicht sorgen konnte, wollt' ich wenigstens nicht, daß eure Eltern für eure Plage sorgen. Es ist das traurigste Unrecht, das man in der Erziehung begeht, wenn man der Jugend seine eignen Verwirrungen, Leiden und Leidenschaften als eine Zwangsmitgift aufdrängt, wenn Eltern ihren Kindern zumuthen, die ganze Reihenfolge ihrer eigenen unbefriedigten Wünsche und nicht selten verzweifelnden Hoffnungen mit durchzukosten und überhaupt unter dem Ausdruck »Kindesliebe« mitverstehen, daß die Ihrigen sich an all dem Jammer und Elend mitbetheiligen, was sie sich selbst schufen und noch weniger mildern können dadurch, daß sie Andere mit hineinziehen! Mein lieber Sohn, wie du mich hier siehst, jetzt erst klar geworden über die Welt, und was ich von ihr zu hoffen habe, bin ich einer Mispel zu vergleichen, die erst reif ist, wenn sie schon fault. Jetzt, wo ich ein recht morscher, wurmzerfressener alter Weidenstamm bin, jetzt leucht' ich erst recht und bin mir in meiner Lebensnacht selbst eine Laterne, die findet, was sie sucht. Mein Sohn, wenn man in der großen Welt lebt, vielen Menschen begegnet und mit ihnen zu thun hat, wenn man Buckligen, Lahmen, Blinden, Tauben Rücksichten zu schenken, auf Stumme zu hören, auf Abwesende zu sehen hat, wenn der Eine originell, der Andre empfindsam, der Dritte diplomatisch seyn will, dann kann man es selbst bei einem verwundeten und mißvergnügten Herzen aushalten, zu leben, wie die Andern, und aus der Verworrenheit sich einen Antrieb zu schaffen, für das eigne Mitfortkommen zu sorgen; schlägt aber Alles in dich hinein, hast du keine äußere Aufforderung, dem Unmuth an diesem und jenem Luft zu machen, dann muß sich allmählich deiner eine sanfte, stille, sonntägliche Grabesruhe bemächtigen. Siehe, so hab' ich mit der Welt abgeschlossen, und euch nun, euch, meine Kinder, wollt' ich eben nicht belästigen und stören.«

Blasedow war bei dieser rührenden Erklärung ruhig und gefaßt; nur der heftige Druck der Hand, den Schlachtenmaler in der seinigen fühlte, verrieth seine tiefe Bewegung. So kamen sie an den Kirchhof, und Blasedow machte seinen Sohn mit lächelnder Miene auf die Mauer desselben aufmerksam. »Ich hab' es noch immer zu verhindern gesucht,« sagte er, »daß man deine ersten Kohlencartons überkalkte, was die geistlichen Inspectionsreisenden längst wollten.« Schlachtenmalers Herz wurde beklommen, weil es nun nicht fehlen konnte, daß die künstlerischen und dichterischen Leistungen der Brüder zur Sprache kamen. Blasedow fuhr mit Ruhe fort, indem sie weiter gingen und das freie Feld suchten. »Ich hab' euch um so weniger durch meine Zudringlichkeit stören wollen, als ihr Alle eure eignen Bahnen zu messen und euren Talenten zu leben hattet! Die jungen Keime müssen nun Knospen getrieben haben; die weitere Entfaltung wird sich bei den schönen Tagen, die jetzt überall für die Kunst anzubrechen scheinen, nicht verspäten. Eine Zeit, welche sich lange mühte, ein philosophisches und gesellschaftliches Räthsel zu lösen, und die Lösung nur in der Revolution findet, welche doch Niemand will, kann nicht anders, als das Gute und Wahre zuletzt unter der Form der Schönheit auffassen. Der Meinung und der Leidenschaft muß sich eine edle Rücksicht, die Grazie der Verhältnisse, zugesellen. Wo wir uns noch bekämpfen im Augenblick, die, welche das Grelle, Nackte, rein Leidenschaftliche mit den Waffen in der Hand wollen, sind verhaßt, und die, welche die Ueberzeugung an gewisse unveränderliche Bedingungen des menschlichen Herzens oder der Grazie knüpfen, sind allein willkommen. Oder soll der sich immer mehr entfaltende Flor der Kunst vielleicht nur der Ueberwurf seyn, den man auf Lampen und Kronleuchter hängt, so lange man sie nicht braucht, da ich gestehen muß, daß so Vieles im socialen und politischen Leben noch nicht gelöst ist, daß so manche usurpatorische Begriffe sich wieder zu einer Herrschaft aufgeworfen haben, welche ihnen die philosophische Vernunft und unsre jüngste Geschichte ja eigentlich schon aus den Händen gewunden hatte; da es nicht unwahrscheinlich ist, daß der Beschluß unsers Jahrhunderts die Fragen wieder aufnimmt, welche am Beginne desselben jetzt so ängstlich abgebrochen und vertagt werden, so möchte wohl dem Edeln und Wahren kein günstigeres Intermezzo haben kommen können, als ein ästhetisches, als eine Feuerprobe der Schönheit, die die Leidenschaft und die Ueberzeugung aushalten müssen, so daß sich den Gemüthern durch äußere Reize dasjenige einschmeichelt, was sie seiner innern Glut nach vielleicht weniger richtig verstanden hätten. Die Berechnung, mein Sohn, die ich mit dir und deinen Brüdern anstellte, wird mich nicht täuschen. Eure Jahre werden gerade so lange währen, bis vielleicht wieder eine Barbarei, ein bilderstürmender Fanatismus seine Geißel über die Erde schwingt. Ihr habt eine Zeit, wo die Sonne der Wahrheit von manchen noch nicht zerrissenen Ideen-Vorhängen eine Beleuchtung erhält, die wenigstens für die Künste die rechte ist.«

Schlachtenmaler ging stumm neben seinem Vater und wußte nicht, wie und wo er ging. Die Gegenstände hatten ihre Umrisse verloren; das Auge war ganz in sein Inneres gekehrt, er wußte und hörte nichts, als die Stimme Blasedows und die seines Gewissens, die ihm, wie mit Riemen, immer fester die Glieder zusammenschnürte, so daß er alle Kraft und Haltung verlor. Blasedow fuhr fort: »Eure Berichte über das, was ihr geleistet, waren bald etwas monoton, bald zu ausschweifend. Ich tröstete mich, daß wohl die Wahrheit in der Mitte liegt. Ich machte noch kaum die Ansprüche, die ihr schon zuweilen befriedigt haben wolltet: denn der Künstler gedeiht nur im Maß einer fortschreitenden Abrechnung mit der Welt. Die Phantasie will Land gewonnen haben, ehe sie darauf Paläste zaubern kann. Kenntnisse ist ein triviales Wort; und doch ist mir noch nie ein vollendeter Schauspieler vorgekommen, der nicht mit dem Genie, das ihm durch Geburt kommen mußte, auch eine anständige Sicherheit im Gebiet der Bildung besaß. So erst kann er das Blendende, was ihm schnell in die Augen springt für die Auffassung einer Rolle, vergleichen mit andern möglichen Auffassungen, die das Resultat des nüchternen Verstandes sind, und es wird ihm oft genug widerfahren, daß er eine erst reizende Idee aufgeben muß, weil sie eine längere Prüfung und Zergliederung nicht aushielt. Bildung ist Sicherheit in den Bewegungen rechts und links; Bildung heißt: Nichts anstaunen! Bildung ist da nicht, wo ein einziger genialer Funke, der in eine Vorstellung fällt, gleich einen lichterlohen Brand verursacht; sondern Bildung schreitet langsam vorwärts, hört das Neue wie etwas Altes und Bekanntes an und sucht sich still mit Maß und Ziel das anzueignen, was ihr bisher entgangen war. Nur die auf solche Bildung fußenden Dichter und Künstler wußten das wahrhaft Große zu schaffen; wie im Gegentheil alle diejenigen nur etwas Unvollendetes geschaffen haben, die wohl ihr griechisches Feuer, aber nur kleine Behälter dafür hatten, nur ihre elektrischen Funken und keine Vehikel. So solltet ihr auch, liebe Jungen, namentlich darüber nachdenken, was es heißt: sich arrondiren! Erst, wer schon etwas Land und Eigenthum hat, kann Eroberungen machen, die sich unterstützen lassen; eine Rückwand muß der Künstler haben, wie mich denn keine Gemälde auf Ausstellungen kläglicher angesprochen haben, als die, wo in einem einzigen Bilde der Künstler seinen ganzen geistigen Fond untergebracht zu haben schien. Striche, Schatten, Lichter, Alles verräth, daß der oft geniale Kopf in dem Einen auch gleich Alles geben wollte und für ein neues Bild wahrscheinlich auch einer ganz neuen Vorbereitung bedurft hätte. Es wäre nun aber bald Zeit für euch, daß ihr eine gewisse Sicherheit in euren Arbeiten gewännet.«

Blasedow sah Schlachtenmalern fragend an; dieser schlug die Augen zur Erde und fühlte, wie Alles um ihn her gleichsam von ihm abfiel, und ihm die Welt als Anlehnungspunkt so sehr entzogen wurde, daß er seiner nicht mehr mächtig war. Nicht die Entdeckung scheute er, daß sie noch nichts geleistet hätten, sondern das Geständniß, daß sie Leistungen gelogen hätten. Er sah mit Zittern dem Moment entgegen, wo die Katastrophe wie ein angezündetes Pulverfaß in die Luft springen mußte, und kam mit seinen gereizten Nerven schon in jenen Heroismus hinein, der mitten in der Gefahr selbst die Schwächsten überfällt, in den Heroismus der Selbstaufopferung. Blasedow begann auf's Neue: »Ich bin wohl neugierig, einmal eine der Satiren Alboins zu lesen: Was er davon bis jetzt mir dem Thema nach genannt hat, ist wohl zunächst nur Moquerie und noch keine Satire. Diese muß einen großartigen Hintergrund haben und Welten ahnen lassen, die im Gemüth des Satirikers auf und nieder gehen. Die Satire ist eine natürliche Tochter der Nacht, während die Melancholie zunächst die legitime derselben ist. Auf Theobalds Gedichte gebe ich gar nichts; ich glaube, die Welt muß ihn erst wie Wirbelwind fassen, einige Mal umdrehen und in die Höhe schleudern. Gedichte müssen einen Schwerpunkt haben und sich eine Macht sichern, die trotz scherzhafter Reime und kurzer Strophen Niemand zu bezweifeln wagt; welcher Dichter nicht etwas Souveraines und beinahe Aristokratisches in seiner Art aufzutreten hat, dem werden auch die Völker nicht zuströmen. Was hat Amandus denn in neuester Zeit gemacht?«

Hier standen die beiden Spaziergänger an einem Abhange. Oben eine mit Bäumen besetzte Erdschicht, die, in der durchaus nicht gebirgigen Gegend eine Seltenheit, über dem thalwärts sich unten hinziehenden Wege fortragte. Die Tiefe bis unten war nicht gerade schwindlig, machte aber einen Sprung doch gewagt, und am wenigsten hätte man Jemanden dazu bereden dürfen. Schlachtenmaler, zermalmt von Schmerz um die Täuschung des Vaters, von Scham über seinen und der Brüder Leichtsinn, trat mit Entschlossenheit dicht an den Rand des Abhanges und sagte mit krampfhafter Verzweiflung: »Vater, denke dir den Augenblick, wir ständen auf dem Straßburger Münster..... und du hörtest von mir..... daß alle deine Hoffnungen betrogen sind..... daß Keiner von uns geworden ist, was du dachtest, Keiner das, was zu seyn wir dich belogen haben, daß wir Alle noch in der Irre gehen und für Alles, vielleicht höchstens für die Schauspielkunst nicht, verdorben sind, und ich, um meine Scham und Reue zu verbergen, machte, beim allmächtigen Gott! Miene, mich nun hinunterzustürzen.« – Schlachtenmalers junges Blut war in der That in einer Aufregung, daß er den Sprung auf das erste Wort des Betrogenen, wie eine Curtiusthat, vollzogen hätte. Blasedow starrte ihn mit einem halbtodten, gebrochenen Blicke an, durch welchen eine dunkle Zornesflamme über die Lüge zuckte; dann preßten sich massenhafte Gedankenreihen im Sturme durch seine Gehirnkammern, er stand wie vernichtet, sann und sann und hauchte zuletzt, wie einen Sterbeseufzer, die Worte aus: – »Ich würde dich zurückhalten!«

Schlachtenmaler konnte seine Augen nicht aufschlagen, sondern warf sich in's Gras, um sie zu verbergen. Für Thränen war der Moment viel zu furchtbar ernst. Blasedows Lungen hörte man an, wie krampfhaft ihnen der gepreßte Athem entströmte. Er hielt sich an einen Baum, nicht schwach und ohnmächtig, sondern sinnend, ernst, grübelnd. Eine ganze Welt von Hoffnungen lag verschüttet vor ihm, in allen seinen Blumen hatte der Sturm gewüthet, die Fenster seines pädagogischen Treibhauses waren vom Hagel zerschmettert. Gerade das aber, was ihn hätte recht vernichten sollen, daß er die Schuld dieser Scene trug, gab ihm wieder einigen Muth, weil er darin den Glauben an die sich selbst ergänzende und heilende Kraft der Natur und des menschlichen Geistes gewann. Schlachtenmalers Reue traf ihn hart: denn er war gerecht genug, einzusehen, daß der Erzieher selbst die meiste Schuld trug. Sein Zorn und sein Entsetzen lösten sich in Wellenschläge auf, die erst noch stürmten und das Gleichgewicht nicht finden konnten, dann aber immer wehmüthiger und sanfter fluteten, so daß er den herbeieilenden Küster, der ihm einen großen, rothgesiegelten Brief brachte, mit lächelnder Ruhe abfertigen konnte. Er erbrach das Schreiben, dessen Siegel officiell war, und, als wenn die Schicksale und Erfahrungen homöopathisch sich zu heilen suchten, dem einen Schmerz wurde hier ein anderer beigesellt, und einer durch den andern allmählich geheilt.

Er ging zu Schlachtenmaler heran, hob ihn auf, küßte ihn und sagte, indem er den Brief zeigte: »Ich bin meines Amtes entsetzt! Die ganze Welt steht mir nun offen. Komm, wir haben ja so viel nachzuholen, so viel zu verbessern! Wir wollen nun Alle, und ich zum meisten, noch einmal von vorne anfangen.«

Als sie gingen, ergriff Schlachtenmaler den Brief und commentirte ihn mit Heftigkeit. Es ist ein bewährtes Heilmittel für erzürnte und gekränkte Gemüther, daß man ihre Empfindungen auf Gegenstände lenkt, wo sie Fug und Recht haben, ihren Groll auszusprechen. Wie manche Tochter versöhnte die über ihre Tanzlust erbitterte Mutter dadurch, daß sie zufällig das Gespräch auf die Toilette einer Rivalin bringt und die Mutter in einen andern Harnisch jagt, wo die Tochter nicht anders als immer Recht geben kann, und die Mutter über der neuen Invective die alte vergißt. Auch Blasedow war bei allem Mißtrauen und bei aller Menschenkenntniß im Grunde ein kindlich gestimmtes, leicht behandeltes Gemüth. Seine Gedanken kamen alle in die Richtung des Consistoriums, seine Zunge spitzte und vergiftete sich gegen Blaustrumpf, ja, die Aussicht, so schnell in eine nun ganz neue Lebensbahn geworfen zu werden, erheiterte ihn zusehends. Alle Zurüstungen zur Abreise wurden getroffen. Das Nothwendigste kam schnell zusammen und wurde auf einen Leiterwagen gepackt, den einzigen, den das Pfarrhaus noch besaß. Schlachtenmaler griff thätig mit ein, ob er gleich innerlich besorgt genug war, was sich aus dem Allen mit der Zeit ergeben sollte.

Am folgenden Morgen fuhren sie Beide der Residenz zu. Sie waren selbst begierig, was nun noch Alles auf dem Blatt stehen würde, welches eben das Schicksal mit so großer Schnelle in ihrem Lebensbuch umgeschlagen hatte.

 

Ende des zweiten Theils.

 


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