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Einundzwanzigstes Kapitel.
Der Brief aus Aegypten

»Ich habe ein Geschäft mit dir, mein Junge, bei dem es sich um Leben und Tod handelt,« flüsterte Potter.

»Dann komm mit mir!« sagte sein Sohn; und da Herr Deucey ihnen ein Privatzimmer vorschlug, traten sie in ein solches. Dort fragte der alte Mann: »Lady Annerley – über was hast du ihr telegraphiert?«

»Nun,« erwiderte der junge Mann, »ich bin gestern in Paris angekommen, und da ich ein Schriftstück an sie abzugeben hatte –«

»Was für ein Schriftstück war es?«

»Eines, das sie dem jungen Errol übergeben hatte, ehe er verwundet wurde. Eines, das er ihr zurückzugeben versprochen hatte!«

»Ah!« seufzte Potter verständnisvoll.

»Ich sprach gestern in ihrem Hotel vor, ließ mir, da sie nicht in der Stadt war, ihre Adresse in Boulogne geben und telegraphierte ihr dorthin, ich werde morgen kommen und es ihr persönlich überreichen. Sie schien sehr großen Wert darauf zu legen und hat einstens Abdallahs des Mauren Haus von unten bis oben danach durchsucht,« fuhr er fort.

»Dies Schriftstück bedeutet die Errettung deines Vaters vor dem Staatsgefängnis! Endlich hab' ich das Teufelsweib in der Hand!« rief Potter triumphierend. »Gib es mir!«

»Ich kann nicht,« erwiderte sein Sohn mit blassem Antlitz, denn entweder mußte sein Vater verrückt oder das wahr sein, was er sagte.

»Du kannst nicht?« brüllte der Texaner. »Warum nicht?«

»Weil ich vor etwa fünf Minuten einen schriftlichen Befehl Lady Annerleys erhielt und den Brief ihrem Agenten übergeben habe.«

Die letzten Worte wurden von dem alten Potter nicht mehr gehört, denn er war schon aus dem Zimmer gestürzt, um den Detectiv zu verfolgen, allein im nächsten Augenblick kam er zurück, da er die Nutzlosigkeit einer sofortigen Verfolgung einsah. Dann nahm er seinen Sohn beiseite und flüsterte: »Er wird auf der Eisenbahn nach Boulogne zurückfahren. Wenn dieser Brief in ihre Hände gelangt, so bin ich ein Sträfling. Dein Vater, dein unschuldiger Vater, Junge, ein Sträfling, und du und deine Schwester, ihr seid entehrt.«

Hier stieß der junge Potter, der seinen Vater zwei Minuten vorher lächelnd begrüßt hatte, einen leisen Schrei aus und seine Züge verzerrten sich vor Schrecken. Er kannte seinen Vater und sah, daß dieser seiner Sinne mächtig war, und er glaubte ihm.

Doch bald kehrte ihm die Gewohnheit raschen Handelns zurück. Er sprang in die Halle hinunter, schickte einen Kellner nach einer Droschke und fragte Deucey, der draußen gewartet hatte, ob er nicht wisse, wann der nächste Zug nach Boulogne gehe.

»Nein, aber ich will nachsehen.« Und nachdem er den Fahrplan zu Rate gezogen hatte, sagte er: »Zehn Uhr fünf Minuten. Sie können den Zug erreichen, wenn Sie gut fahren.«

»Sehr verbunden. Nicht wahr, Sie entschuldigen unser Gehen?« erwiderte der junge Potter und holte seinen Vater, der im Zimmer geblieben war, und nun mit einem Ausdruck im Gesicht heraustrat, bei dessen Anblick Deucey einen Schauder empfand, obgleich er beim Baccarat dafür galt, starke Nerven zu haben.

»Gott segne Sie, Herr!« flüsterte Potter, dem jungen Mann die Hand drückend. »Sie sind freundlich gegen mich gewesen, als ich einen Freund brauchte, und wenn ich das Leben behalte, komme ich nach Paris zurück und besuche Sie!«

»Wenn Sie dies thun,« erwiderte ›Le Prince de Baccarat‹, »dann will ich Ihnen Paris zeigen.«

Hierauf sprangen sie in die Droschke und der Lieutenant erzählte seinem Vater alles, was er über das Briefpaket wußte, das der Unteroffizier der Marine bei der Leiche des Dragomans Osman Ali gefunden und ihm übergeben hatte. Der alte Mann dagegen erzählte ihm die Geschichte seines frühern Lebens und die wunderbaren Erlebnisse dieses Nachmittages, wobei ihn der junge Mann erstaunt anstarrte. Dann schloß er mit den Worten: »Ich habe mir das ganze Durcheinander zurecht gelegt. Du sagst, sie sei gleich nach dem Tod ihres Schurken von Vater, Sir Jonas Stevens, nach Aegypten gekommen? Nun, da er dem Richterstuhl Gottes so nahe war, beichtete der sterbende Dieb, um den lebenden Sträfling zu retten. Lady Annerley ging nach Aegypten, um Charles Errol die Wahrheit zu sagen: Jenes Schriftstück ist das Geständnis! Allein, nachdem er für sie gekämpft, hatte sie ihn lieben gelernt und gefürchtet, er könne sie um des furchtbaren Verbrechens willen, das ihr Vater gegen den seinen begangen hatte, verachten, und verlangte es zurück. Dieser Brief enthält meine einzige Aussicht auf Rettung vor einem englischen Schwurgericht, und ob der Detectiv lebt oder stirbt – Junge, verstehst du mich? ob er lebt oder stirbt – dies Schriftstück darf nicht in die Hände Sahara Annerleys gelangen, denn sie würde es verbrennen, wie sie die Quittung verbrannt hat, und dann ist dein Alter ein verlorner Mann!«

»Ich verstehe,« antwortete der Lieutenant mit traurigem Gesicht; denn obgleich er es sich jetzt nicht zugestehen wollte, hatte doch Lady Annerleys üppige Schönheit einen solchen Eindruck auf den jungen Mann gemacht, daß er um Urlaub eingekommen war, sobald er erfahren hatte, daß Errol ein junges englisches Mädchen heiraten werde. Er war von seinem Schiff, das in Nizza lag, nach Paris geeilt, nicht ohne die geheime Hoffnung zu nähren, er könne die schöne Witwe selbst erobern; dies erklärte seinen alsbaldigen Besuch und das rasche Telegramm.

Plötzlich aufschreckend, fragte Potter: »Glaubst du, daß er es ihr mit der Post geschickt hat?«

»Nein,« erwidert sein Sohn, »denn sie weiß, daß wir so viel gegen sie aussagen können, daß es ihr schon morgen früh kein Postamt in Frankreich ohne Untersuchung ausfolgen würde. Sie wollte ganz sicher gehen und es selbst zerstören.«

In diesem Punkte ließen Potter Vater und Sohn Lady Annerleys Schlauheit hinlänglich Gerechtigkeit widerfahren, allein sie vermuteten nicht, daß sie für den Fall, daß Potter oder sein Sohn durch irgend welchen, ihr zur Zeit noch unbekannten Umstand Kenntnis von der Wichtigkeit dieses Dokumentes erhalten und Brackett verfolgen sollten, diesem den Befehl gegeben hatte, den Brief zu vernichten.

Unterdessen waren die beiden Potter auf dem Bahnhof angelangt und erhielten, da der Sohn französisch sprach, ohne Weiterungen ihre Fahrkarten nach Boulogne. Alles war hell erleuchtet, und sie hatten noch Zeit genug, trotz der Einsprache des verschlafenen Schaffners, den ganzen Zug abzusuchen. Es waren nur wenig Reisende da und diese alle nur aus der Nähe, da der Zug ein Bummelzug war, der an allen Stationen anhielt.

Vor Abgang des Zuges blieben ihnen noch zwei Minuten Zeit zur Beratung. »Du bist sicher, daß er sich nicht in dem Zuge befindet?« fragte der Lieutenant. »Ich habe den Mann nur eine Minute lang gesehen und deshalb könnte er mir entgangen sein.«

»Ganz sicher. Ich habe ihn nicht gesehen, und sein Hund hat ihn nicht gewittert,« gab Potter zurück, indem er Schnapper streichelte, der ganz behaglich in seiner Tasche saß. »Geht denn noch irgend ein anderer Zug nach Boulogne?«

Nachdem er eilig den Fahrplan zu Rate gezogen, erwiderte der Lieutenant: »Nein. Obgleich er in Amiens Aufenthalt hat, so ist dieser Zug doch mindestens eine Stunde vor allen andern in Boulogne. Vor morgen früh geht kein Eilzug mehr.«

»Dann muß er doch irgendwo an Bord von diesem stecken! Er wird mir doch nicht Zeit lassen, ihm vor Lady Annerleys Thür den Weg abzuschneiden,« rief Potter.

»Nun, wenn er vorhin noch nicht in dem Zuge war, so konnte er jedenfalls nicht hineinkommen, so lange wir hier gesprochen haben,« meinte der junge Offizier, denn die beiden hatten diese Unterhaltung am Eingang geführt und scharfen Ausguck gehalten.

»Er muß doch irgendwo in diesem Zuge stecken,« beharrte Potter störrisch, »und ich fahre mit.«

»Gut,« sagte sein Sohn, »ich begleite dich.«

»Kleiner,« flüsterte der Vater, »er darf mit dem Schriftstück nicht lebendig zu diesem Weibe kommen. Das ist mein Befehl!«

»Schon gut. Gib mir eine deiner Pistolen; du führst ja immer zwei bei dir!«

»Du bist nicht bewaffnet?« rief Potter verwundert. »Hab' ich dich nicht geheißen, immer ein Gewehr bei dir zu führen? Du weißt doch nie, ob du es nicht nötig haben kannst.«

»Du hast zwei!« wiederholte der Lieutenant.

»Ja, aber vielleicht brauche ich sie beide. Du weißt doch, daß ich mit der Ortspolizei zu thun kriegen kann!«

»Um Gottes willen,« flüsterte sein Sohn, »vergiß nicht, daß du wohl einige Gendarmen töten, aber nicht ganz Frankreich ausfegen kannst,« denn der junge Mann wußte, daß sein Vater sich jetzt in einer verzweifelten Stimmung befand, und fürchtete, er könne deshalb eine Uebereilung begehen.

»Ja, das weiß ich,« sagte Potter, »aber ich glaube, ich könnte mich sehr hervorthun.« Mit diesen bescheidenen Worten händigte er seinem Sohn eine seiner Pistolen ein, und da in diesem Augenblick der Schaffner rief: »Einsteigen!« sprangen sie in eine Abteilung der ersten Klasse, und der Zug fuhr zum Bahnhof hinaus.

Da es ein Lokalzug war, hielt er auch einige Minuten in Saint Denis, und dort stieg ruhig und unbemerkt ein Matrose in einen Wagen dritter Klasse.

Die beiden Amerikaner besprachen ihre Angelegenheit flüsternd, und je mehr der Lieutenant alle Nebenumstände erfaßte, je ernster sah er aus, und schließlich war er so erregt und so zornig, wie sein Vater selbst. Er flüsterte dem alten Manne zu: »Sei ohne Sorge! Wenn ich Brackett erblicke, so kommt er gerade so wenig davon, als wenn du ihn findest!« Dann drückte er schweigend seines Vaters Hand, und die Thränen traten ihm in die Augen, als er in das nun beinahe hoffnungslos dreinblickende Gesicht des alten Potter sah.

»Glaubst du, daß sie den Tod verdient hat, wenn ich in dieser Sache den Kürzeren ziehen muß?« fragte der Vater wie Rat suchend.

»Ja,« erwiderte der junge Mann, »aber du darfst es nicht thun, denke an Ida!«

»Mein Gott, sprich nur nicht von ihr!« stöhnte der alte Mann, dem Weinen nahe.

»Hast du ihr telegraphiert?«

»Nein.«

»Dann hat sie möglicherweise Angst. Wenn sie deine plötzliche Abreise von Boulogne erfährt, könnte sie denken, du seiest –«

»Ein Dieb? Nein! Sie nicht! Houston, verunglimpfe deine Schwester nicht; dies Mädel ist klüger und mutiger als wir beide zusammengenommen!« sagte Potter, ihn mit strenger Stimme unterbrechend.

Nun hielt der Zug in Chantilly, und Potter fuhr fort: »Es sind Damen im Wagen, Houston; ich will in einen andern gehen und eine Cigarre rauchen. Komm mit!«

»Danke, Vater! Ich habe mich von dem Schrecken über deine Mitteilung noch nicht erholt. Ich will hier sitzen bleiben und darüber nachdenken.«

»Auch recht,« erwiderte der Alte, verließ den Wagen und stieg in einen solchen dritter Klasse, wo er seine Cigarre anzündete.

Der Lieutenant überlegte sich die Angelegenheit hin und her und vertiefte sich so darein, daß er erst in Clermont daran dachte, seinen Vater aufzusuchen. Er wollte nun auch rauchen und begab sich nach dem Wagen dritter Klasse, in den er seinen Vater hatte einsteigen sehen, allein er fand diesen nicht. Dann durchsuchte er alle andern Wagen dritter Klasse, dann sämtliche übrigen, allein ohne Erfolg. Sampson Potter aus Texas war nicht in dem Zug.

Hastig fragte er den Schaffner aus, und dieser glaubte, obgleich er seiner Sache nicht ganz sicher war, gesehen zu haben, daß in Creil ein Matrose den von dem Offizier bezeichneten Wagen dritter Klasse verlassen habe, und daß diesem ein der Beschreibung des alten Potter entsprechender Herr eiligst nachgefolgt sei.

Der Lieutenant erkundigte sich nun nach der Möglichkeit, nach Creil zurückzufahren; da aber vor zwei Stunden kein Zug dorthin abging, beschloß er, gleich nach Boulogne weiter zu fahren, um Sergeant Brackett an der Ablieferung des Briefes zu verhindern, falls er seinem Vater dennoch entwischen sollte.

Um die persönliche Sicherheit des alten Herrn war er ohne Sorge, er wiederholte unbewußt den Gedanken seiner Schwester über diesen Punkt und sagte ein paarmal mit etwas mattem Lachen vor sich hin: »Gott stehe dem armen Detectiv bei!«

Allein er war sehr verwundert über diesen Vorgang und versank in tiefes Nachdenken bis er in Amiens ankam.

Dort harrte seiner aber eine noch größere Ueberraschung. Er hatte hier gegen drei Stunden Aufenthalt und blieb, zum Schlafen zu aufgeregt, in der Nähe des Büffetts. Etwa zwei Stunden nach seiner Ankunft trat ein Beamter auf ihn zu und fragte, ob er Lieutenant Potter sei; als er dies bejahte, führte er ihn nach dem Telegraphenamt, wo man ihm ein Telegramm übergab.

Er öffnete dies eilig, überflog es, starrte es an und verlangte, man solle es nach Creil zurücktelegraphieren und fragen, ob es richtig sei.

Dies geschah und bald war die Richtigkeit bestätigt.

Lieutenant Potter las es wieder und wieder, und mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen murmelte er: »Was hat dies zu bedeuten?« Denn das Telegramm, das er erhalten hatte, lautete:

 

»Creil, 17. Oktober 1882, Nachts 2 Uhr.

Lieutenant Potter, Marineoffizier der Vereinigten Staaten, auf dem Weg zwischen hier und Boulogne.

Das ist eine böse Patsche. Mich erwarten auf dem Bahnhof in Boulogne mit dem Frühzug neun Uhr fünfundzwanzig Minuten. Habe Sammy Potts verhaftet und bringe ihn ein, geknebelt und von zwei Gendarmen begleitet.

Sergeant Brackett,
Englischer Detectiv.«

 


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