Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.
Welche ihn am meisten liebt

Als sie sich in Boulogne auf dem Bahnhofe von van Cott trennte, nahm Ida einen Wagen nach dem Hotel du Pavillon. Da dies ziemlich von der Stadt entfernt, an der See liegt, nahm die Fahrt einige Zeit in Anspruch. Ihr Vater hatte ihr vor seiner Abfahrt gesagt, daß er wahrscheinlich dort absteigen werde, und sie erwartete, ihn hier zu finden. Von dem Buchhalter erfuhr sie denn auch, daß ihr Vater ein Zimmer bestellt habe, denn Fräulein Potters Name war in dieser eleganten Karawanserai wohl bekannt. Man hatte sie in ein kleines Empfangszimmer geführt, und dort verbrachte Fräulein Potter in Erwartung ihres Vaters eine ruhige Stunde.

Während sie hier wartete, fühlte sich das junge Mädchen gleichzeitig von Neugier und Angst befallen. So oft sie auch das gezeichnete Goldstück betrachtete, das an ihrem weißen Handgelenk baumelte, wunderte sie sich, warum diese Münzen, die den Vater des armen Charley Errol als Verbrecher aus dem Lande seiner Geburt getrieben hatten, von ihrem Vater als ein Zeichen des Gedeihens in der Welt angesehen wurden. Denn sie wußte wohl, daß Herr Potter eine gleiche an seiner Uhrkette hatte, und daß ihr Bruder, der Marinelieutenant, ebenfalls eine besaß, die ihm ihr Vater mit der Bemerkung überreicht hatte, er solle sich an dies Goldstück anklammern, wie an das Glück selbst. Als sie dann an die Anklage dachte, die über dem Haupt des Lehrlings schwebte, der an dem Tage für immer verschwunden war, an dem Errol verhaftet wurde, und der, wie sie nun sicher wußte, ihr Vater war, da nahm sie mit einer unwillkürlichen Bewegung das Armband ab, um die Münze zu verbergen. Allein in diesem Augenblick übermannte sie ein unbesieglicher Stolz, und sie fühlte, daß dies ein Schimpf für ihren Vater wäre, und sagte vor sich hin: »Gelobt sei Gott! Ich habe meinen Vater zu lieb, um an ihm zweifeln zu können! Mein Vater ein Dieb? Unmöglich!«

Damit legte sie das Armband wieder an, und zwar so, daß man es recht gut sehen konnte, und dann ließ sie den Sovereign tanzen, um die Aufmerksamkeit anderer darauf zu lenken, und dachte: »Dies ist das Vertrauen in meines Vaters Ehre!«

Schließlich wurde aber Fräulein Potter des langen Wartens müde und beschloß, ihren Vater in der Stadt zu suchen. Sie befahl einen Wagen und fuhr nach dem Hotel des Bains, denn sie vermutete, der ehrenwerte Sampson Potter habe sich bei Lady Annerley recht wohl gefühlt und seinen Besuch länger ausgedehnt. Die zarte Schwäche Vater Potters für hübsche Frauen war ihr ja wohl bekannt, und sie wußte, daß Tags zuvor Lady Annerleys großartige Schönheit einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

So betrat also wenige Minuten, nachdem Herr Potter diesen Gasthof verlassen hatte, um Arthur aufzusuchen, seine Tochter das Hotel des Bains und traf Lubbins in der Halle. Sie hieß diesen, ihre Karte zu Lady Annerley hinauftragen, und zwar in einem Ton, der den würdigen Diener vergessen ließ, zu sagen, die Dame sei ausgegangen. Sie ging in den Konversationssaal, um die Antwort abzuwarten, und fand dort die arme kleine Ethel, die auf ihren erstaunten Ausruf hin ihr entgegenlief und mit zitternden Lippen stammelte: »Du bist wohl in derselben Absicht nach Boulogne gekommen wie ich?«

»In welcher Absicht?« fragte Fräulein Potter noch erstaunter.

Ethel erwiderte: »Um zu verhindern, daß der Mann, den ich liebe, und der Mann, den du liebst, mit Haß erfüllten Herzen einander gegenübertreten.«

Diese Worte, im Verein mit dem Wesen und Aussehen des Mädchens, erschreckten Ida. Sie rief: »Was meinst du denn? Ich verstehe dich nicht! Schnell, sage es mir. Welch neue Verwickelung –« Sie erschrak heftig, als Ethel ihr in kurzen Worten den Streit der beiden jungen Männer berichtete und mit den Worten schloß: »Dann schlug mein Bruder den Mann, den ich liebe!«

»Und Herr Errol, was hat er dem Mann gethan, den ich liebe?«

»Er hat seine Hand zurückgehalten und nicht wieder geschlagen.«

»Gott segne ihn dafür!« rief Ida.

»Weil er sagte, der Mann, den du liebst, sei mein Bruder.«

»Wie wahrhaft edel!« flüsterte das Mädchen und sagte dann laut: »Aber noch am heutigen Tage will ich es ihm vergelten.« Dann fragte sie, ob Arthur ganz gewiß in Boulogne sei.

Als Ethel dies bejahte, sagte ihr Ida, sie müsse hier im Gasthof bleiben und Herrn Errol hier zurückhalten, der gewiß kommen und Lady Annerley besuchen würde.

»Du glaubst, er wolle sie besuchen – jetzt noch?«

Die letzten Worte wurden in so traurigem Ton gesprochen, daß Fräulein Potter sehr nachdrücklich sagte: »Weil er dich liebt, Ethel Lincoln; zweifle nie daran, daß dich Charley Errol liebt. Ich will deinen Bruder suchen und hierher bringen, und er soll einem edlen Menschen das grausame Unrecht abbitten, das er ihm zugefügt hat.«

»Du hältst meinen Charley für edel?« fragte Fräulein Ethel, die bei diesen tröstlichen Worten wieder auflebte.

»Ich weiß, daß er dies ist. Er ist edel, weil er dich liebt und ihm trotzdem das deinem Vater gegebene Wort und seine Ehre als Mann noch höher gilt.«

Dies war eine Art von Trost, für den Fräulein Lincoln empfänglich war – das Lob ihres Helden; wie ein Kätzchen schnurrend sagte sie: »Du hast meinen Charley gern?«

»Ich liebe ihn.«

»O–o–oh!«

»Wie einen Bruder,« erwiderte Fräulein Potter mit mattem Lächeln und entfernte sich eilends, um Arthur aufzusuchen, denn es lag ihr außerordentlich viel daran, daß sich ihr Verlobter für seine Ungerechtigkeit gegen Herrn Errol entschuldige und damit eine Angelegenheit aus der Welt schaffe, an die sie, mit all ihren texanischen Erinnerungen, nur zitternd denken konnte.

In ihrer Eile vergaß Ida die Karte gänzlich, die sie Lady Annerley hinaufgeschickt hatte; diese Dame war über den Besuch etwas erstaunt, dachte aber, das amerikanische Mädchen könne etwas von Errol wissen und beschloß, sie anzunehmen. Um ihr eigenes Wohnzimmer für den etwaigen Besuch Errols freizuhalten, falls er unterdessen käme, begab sie sich, in der Annahme, Fräulein Potter zu treffen, in das Konversationszimmer hinunter. Einen Moment blickte sie sich im Zimmer um, und da sie niemand sah, trat sie in eine der ziemlich tiefen Fensternischen, wo sie mit Ethel zusammentraf, die sich beim Anblick der Feindin, von Idas Worten ermutigt, auf den Kampf gefaßt machte.

Beim ersten Blick erröten die Damen beide, indessen erblaßt Ethel schnell wieder, Lady Annerley dagegen behält die Farbe, weil Schminke mächtiger ist als Blut.

Sie begrüßen einander wie gewöhnlich und ohne sichtbare Verlegenheit, obgleich Ethel vor Lady Annerleys Kuß ein wenig zurückbebt; ehe sie Charley Errol gekannt hatten, waren die beiden gute Freundinnen gewesen. Und nun ist Ethel, der Liebe des jungen Mannes verhältnismäßig sicher, nicht abgeneigt, sich gegen ihre unterliegende Nebenbuhlerin großmütig zu erweisen, während Lady Annerley, die nicht ahnt, was sich seit gestern in England ereignet hat, weiß, daß es für sie das einzig richtige ist, sich als Freundin, nicht als Nebenbuhlerin zu benehmen.

Sie sagt: »Ich sehe, daß es dir in Frankreich gut genug gefallen hat, Kind, um es schnell wieder zu besuchen. Warum hast du mir nicht gesagt, daß du kommen würdest?« Dann zwingt sie sich zu einem Lächeln und fragt scherzend: »Herr Errol ist wohl auch von der Gesellschaft?«

»O nein,« erwidert Ethel, »ich bin mit Herrn Potters Gesellschaft gekommen!« und dann zwingt sie sich zu einem leichten Lachen und sagt: »Du siehst, ich habe Charley einen – einen halben Tag Urlaub gegeben, um seinen Vater zu besuchen.«

»A–ah!« macht Lady Annerley, und ein weiterer Blick auf das Mädchen sagt ihr, daß Charley Errol noch nicht Seelenstärke genug gehabt hat, um seiner Liebsten zu sagen, daß sein Vater ein verurteilter Verbrecher ist.

In diesem Augenblick bringt ihr Lubbins eine Karte, sie wirft einen Blick auf dieselbe, glaubt, Satan habe ihr einen Trumpf in die Hand gespielt und beschließt, ihn sofort auszugeben.

Sie sagt zu Lubbins: »Warten Sie einen Augenblick und dann führen Sie den Herrn hier herein.«

»Ja, Mylady!« Und Lubbins verschwand.

Dann wendet sie sich an Ethel.

»Wärest du nicht so freundlich, dich einen Augenblick in die Fensternische zurückzuziehen? Ich erwarte einen Besuch.«

»Natürlich, gern,« erwidert das Mädchen, setzt sich in die Nische und denkt: »Wenn es Charley wäre, so würde sie ihn in ihrem Privatzimmer empfangen.« Laut sagt sie noch: »Der Blick auf den Quai wird mich schon eine halbe Stunde unterhalten, wenn du so lange brauchst.«

»Es ist nur für einen Augenblick, und ich will den Vorhang zuziehen, dann stören wir dich nicht. Die Karte des Herrn sagt, er wolle mich in Geschäften sprechen.«

Damit zieht Lady Annerley die schweren Gardinen zu, so daß Ethel vom Zimmer aus allen Blicken verborgen bleibt. Dann lacht sie bei sich: »Ich will ihre Liebe auf einen Schlag töten – es ist nur barmherzig gegen sie. Sie wird jedes Wort vernehmen und von Charley Errols eigenen Lippen hören, daß er der Sohn eines Verbrechers ist, und er wird dann sehen, ob ihre kindische Leidenschaft mehr Wert hat für einen Mann, der leidet, als die Liebe eines Weibes, das im Leiden gelernt hat, zu lieben.« Und mit einem düstern Blick nach dem Vorhang hin zischt sie: »Ich will dir das Herz brechen!«

Dann aber erhellt ein Lächeln ihr Gesicht, und sie fliegt nach der Thür, denn sie hört den Schritt, den sie kennt und auf den sie wartet und murmelt zärtlich: »Er kommt – Charley kommt!« Wohl haßt sie Ethel Lincoln und möchte sie quälen, sie liebt aber Charles Errol und hat ihn nur gequält, um ihn zu erringen: und nun er seine Qualen überstanden hat, brennt sie danach, ihn an ihr Herz zu ziehen und seine Leiden zu lindern. Solch merkwürdige Blasen treibt die Leidenschaft!

Eine Sekunde danach ruft sie: »Willkommen in Boulogne, mein lieber Herr Errol!« und schüttelt dem jungen Mann die Hand.

Errol sieht besser aus als am Morgen, denn nun er Lord Lincolns Beistand zur Seite hat, beginnt er, wieder zu hoffen. Er war gerade bei seinem Vater gewesen und hatte ihm dies gesagt, doch hielt er dem alten Mann sorgsam verborgen, was er geopfert hatte, um sich die Hilfe des Rechtsgelehrten zu sichern.

Doch noch immer zeigt sein Gesicht genug Spuren des Leidens, um Lady Sarah ebenfalls Schmerz zu bereiten, während er sie in Erinnerung an die Behauptungen Bracketts forschend ansieht und sagt: »Lady Annerley, das Geschäft, über das ich mit Ihnen sprechen wollte, ist äußerst vertraulicher Natur!«

»Das Geschäft! Ich hatte gehofft, Sie kämen, weil es Ihnen Freude macht.«

»Bis dies Geschäft erledigt ist, kann für mich von Freude nicht mehr die Rede sein.«

»Dann nehmen Sie Platz,« flüstert ihre Herrlichkeit erregt, denn obgleich sie nicht fürchtet, daß er ihr mißtraut, ist sie doch voll Angst, zu erfahren, wie sie ihm helfen kann. Dann sinkt sie in einen Sessel, weist ihm einen andern an und sagt: »Ich höre!«

Er folgt ihrer Aufforderung nicht, sondern wiederholt nur: »Dies Geschäft ist äußerst persönlicher Natur!« und blickt mißtrauisch im Zimmer umher.

»Ah!« erwiderte Lady Sarah, seine Andeutung verstehend. »Mein Privatzimmer ist im Augenblick besetzt, doch wird mein Diener Sorge tragen, daß wir hier nicht gestört werden.« Sie geht zur Thür, findet Lubbins in nächster Nähe derselben und heißt ihn, niemand eintreten lassen, ohne sie vorher benachrichtigt zu haben.

Da ihr Ethels halber sehr viel daran gelegen ist, die Scene zu ihrem Höhepunkt zu treiben, zeigt sich Lady Sarah so angenehm und so bezaubernd als möglich und setzt ihm mit Fragen zu, wie: »Ist Ihrem Vater die Reise von Australien gut bekommen? Sie haben ihn, glaube ich, zwei Jahre lang nicht gesehen? Welch ein glückliches Wiedersehen muß dies gewesen sein!«

Während sie diese Fragen stellt, denkt Charley Errol: »Es ist nicht möglich, daß sie eine solche Heuchlerin ist!«

Schließlich sagt sie, er sehe nicht gut aus: »Sie haben wohl die ganze Nacht mit Ihrem Vater aufgesessen?«

Dies bringt ihn zum Reden; seine Augen sind voll Todesangst, und er stöhnt: »Ja, die ganze letzte Nacht habe ich gelitten!«

»Gelitten? Herr Errol – Charley, welche Sorge kann Sie quälen, der Sie doch alles haben, was einen Menschen glücklich macht, der Sie mit einem schönen Mädchen verlobt sind?«

Bei diesem Wort seufzt er so tief, daß sie mit echtem Mitleid im Auge fragt: »Aber Sie wissen doch, daß Sie bei jedem Unglück, in allen Fällen meiner Lie–, meiner Freundschaft sicher sind? Nicht wahr, Sie sind davon überzeugt, Charley?«

»Ich brauche mehr als Ihre Freundschaft,« erwidert der junge Mann.

»Mehr?« fragt Lady Sarah mit freudig bewegter Stimme.

»Ich brauche Ihre Hilfe!«

»Hilfe! Ich verstehe Sie nicht!«

»Letzte Nacht wurde mein Vater wiederum aus England verbannt.«

»Ihr Vater? Verbannt?« fragt sie verwundert und ruft dann laut: »Unmöglich! Weshalb?« Denn sie denkt, jetzt werde er es dem Mädchen in der Fensternische verraten.

Statt dessen erschreckt er sie mit der Frage: »Lady Annerley, wissen Sie es nicht?« wobei er ihr forschend ins Auge blickt.

Sie zwingt sich, seinen Blick auszuhalten, und erwidert: »Ich weiß nichts, als daß Ihr Vater ein alter Australier und gestern nacht nach England zurückgekehrt ist.« Dann fragt sie zum besten des Mädchens am Fenster: »Weshalb ist er das erstemal verbannt worden?«

Wiederum bereitet er ihr eine Enttäuschung mit der Antwort: »Meines Vaters Geschichte ist zu traurig, um sie zu erzählen, wenn Sie sie nicht bereits kennen.«

»Wenn ich sie nicht kenne? Warum glauben Sie, daß ich sie kenne?«

»Aus zwei Gründen. Erstens in Aegypten –«

»In Aegypten!« schreit sie laut auf.

»Ja, mein Gedächtnis kommt mir zurück. Vergangene Nacht habe ich daran gedacht. Sie sagten etwas von meinem Vater!«

»Ja!« erwidert sie. »Ich habe von Ihrem Vater gesprochen und Sie haben mich gebeten, ihm im Falle Ihres Todes Nachricht zu geben – aber ich habe Sie nicht sterben lassen – nicht wahr? Beantworten Sie mir diese Frage zuerst und dann machen Sie sich klar, daß Sie nachher grausam waren!«

Bei dem Gedanken an ihre Güte wieder weich und beschämt, sagt er: »Lady Sarah, ich hätte nicht mit Ihnen darüber gesprochen, wenn nicht der Detectiv, der die Sache untersucht, behauptete –«

»Ah!« schreit sie voll Angst und Wut.

»Er behauptete, Sie seien die Person, die dem Ministerium des Innern die Mitteilung hat zukommen lassen, auf die hin mein Vater wieder aus England vertrieben worden ist.«

Aus dem entschuldigenden Ton, in dem Errol spricht, schöpft die Frau, die an seinen Lippen hängt, neuen Mut. Hochmütig ruft sie: »Er wagte, mich dessen zu beschuldigen? Und Sie, Charley, was haben Sie gesagt?«

»Was ich gesagt habe?« rief Errol, hingerissen von der Erinnerung an ihre Güte und die Begeisterung seiner großen Freundschaft für sie: »Ich habe gesagt, ich würde nie an einen derartigen Verrat von seiten des Weibes glauben, das mir eine so gütige Pflegerin gewesen sei und deren Vater sich meinem Vater als eifrigen Freund in seinem Unglück erwiesen habe!«

»Wann haben Sie dies erfahren?« fragte sie ängstlich.

»Mein Vater hat es mir vor kaum einer Stunde erzählt!«

»Ach! All dies bringt uns einander nur noch näher.«

»Das thut es,« rief Charley: »wir sind bessere Freunde als je, und o, mein Gott, wie nötig ist mir dies gerade jetzt!« Dann ergriff dieser arme, gequälte Mensch die schöne Hand, die sie ihm mitleidvoll hinreichte, und nannte sie seinen guten Engel, was ihr einen Stich ins Herz gab.

Einen Augenblick später, als beide ruhiger geworden waren, sagte sie: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber der Detectiv –«

»O, den habe ich vor einigen Stunden in England verlassen!«

In demselben Augenblick aber, in dem sie erleichtert aufatmet, öffnet sich die Thür, und Lubbins meldet, daß ein Mann Namens Brackett darauf bestehe, Herrn Errol zu sehen.

Errol hieß Lubbins den Mann hereinführen.

»Wer ist dies?« fragt Lady Annerley.

»Der Detectiv, von dem wir eben sprachen. Er muß irgend eine neue Mitteilung zu machen haben.«

Mit der Bitte, ihn einen Augenblick zu entschuldigen, wendet sich der junge Mann zu Herrn Brackett, der im Hereintreten Schnapper pfeift, während Sarah Annerley zittert und stöhnt: »Wenn er es entdeckte? Mein Gott! Wenn Charley es entdecken würde!« Dieser Gedanke überwältigt sie, und sie sinkt in einen Sessel, denn beim Eintritt des Detectivs war sie aufgesprungen, als ob sie entfliehen wollte.

»Der Beweis, den Sie verlangt haben,« sagt Brackett kurz und hält Errol einen Brief hin.

Der junge Mann nimmt ihn aber nicht, sondern wendet sich um und sagt: »Lady Annerley, der Mann wiederholt seine Behauptung.«

»Und Sie dulden dies, Charley?«

Diesem Aufruf kann Errol nicht widerstehen und er sagt energisch zu Brackett: »Ich kann Ihnen nicht glauben.«

Hier unterbricht ihre Herrlichkeit jede weitere Erörterung durch den Befehl: »Lubbins, bringen Sie diesen Hund hinaus,« denn der kleine Schnapper war an ihr hinaufgekrochen und hatte ihr wiederholt die Hand geleckt. Sie läßt ihren Widerwillen gegen den Detectiv an seinem Liebling aus.

Als Lubbins sich dem kleinen Geschöpfe so vorsichtig näherte, als ob er Angst vor der Wasserscheu hätte, sagte Herr Brackett: »Bah, Schnapper thut niemand etwas zuleide,« hob den Hund auf, gab ihn dem Diener und hieß diesen, draußen warten, bis er käme. Lubbins gehorchte, allein seine Herrin meinte, ob es nicht besser wäre, wenn Herr Brackett seinen Hund selbst hinausbrächte.

Dies ärgerte den Detectiv, und er beschloß, einen Kniff zu versuchen, den schon klügere Köpfe, als er einer war, in Anwendung gebracht hatten.

Er sagte: »In einem kleinen Augenblick, wenn Ihre Herrlichkeit mir erst die Ehre erweisen will, mir einige Fragen zu beantworten.«

Dies wurde sehr ehrerbietig geäußert, denn Sergeant Brackett würde einer Peerin nicht anders als ehrerbietig begegnet sein, selbst wenn er ihr die Handschellen angelegt hätte.

»Ein Dutzend, wenn Sie wagen, sie zu stellen!« höhnt Lady Annerley, sich erhebend, während sie, wie manche andre kluge Frau, gerade im unrechten Augenblick ihrer Heftigkeit die Zügel schießen läßt.

»Dann verleugnen Sie also, Lady Annerley, diesen Brief, der ein Facsimile dessen ist, den das Ministerium in Ihrer Handschrift aus Venedig erhalten hat?« fragt Herr Brackett und klopft auf den Brief in seiner Hand.

»Natürlich leugne ich, ihn geschrieben zu haben!« ruft Lady Sarah, die bei dem Wort Venedig sehr erschrickt.

»Wie?« sagt Brackett zuversichtlich, »Sie leugnen, selbst wenn der Brief Ihre Unterschrift trägt?«

Dies ist eine offenbare Unwahrheit und macht sie wild vor Wut. Sie schreit: »Das ist eine Lüge, der Brief trug keine Unterschrift!« Dann hält sie inne und wird blaß, denn die Leidenschaftlichkeit verfliegt und weicht der Vernunft.

Herr Brackett sagt ruhig: »Sie haben vollständig recht, Mylady, der Brief trägt keine Unterschrift!« Dann händigt er den Brief Errol ein mit den Worten: »Sie sehen, Herr Errol, sie weiß alles. Ich werde Ihre ferneren Befehle in meiner Wohnung erwarten.« Dann entfernte er sich auf den Fußspitzen, denn als der Detectiv schwieg, ward es still wie im Grabe, und der Mann und das Weib blickten sich in einer Weise an, die ihren Eindruck auf Brackett nicht verfehlte.

Lady Annerley unterbricht das Schweigen zuerst, denn ihr Zorn ist so groß, daß sie ihn an dem ersten besten Gegenstand auslassen muß; da sie nun niemand zur Hand hat als den Australier, so ruft sie vorwurfsvoll: »Und – und Sie, Charley Errol, der Sie sich meinen Freund genannt haben, Sie erlauben diesem Manne, mir mein Geheimnis listig zu entlocken –«

Nun aber trifft sie der Mann, der nur einen flüchtigen Blick auf den Brief geworfen hat: »Und Sie, Lady Annerley, Sie, die ich für meine Freundin gehalten habe, warum hassen Sie mich so?«

Sie schreit laut auf: »Ich Sie hassen?« und sinkt auf das Sofa nieder und stöhnt: »Sie?« blickt ihm aber immer noch fest ins Gesicht.

»Oh, was für eine Heuchlerin Sie sind,« fährt er mit vorwurfsvoller Stimme fort. »Nachdem Sie die größte Freundschaft für mich an den Tag gelegt haben, schreiben Sie diesen grausamen Brief, der meinen Vater aus der Heimat wieder in die Verbannung getrieben und mich vielleicht für immer von dem Mädchen getrennt hat, das ich im Begriff stand zu heiraten. Was war der wahre Grund, Lady Annerley, was war Ihr wahrer Grund dazu?«

»Mein wahrer Grund?« schreit sie, stöhnt laut auf und sieht ihm gerade ins Gesicht: »Gott steh mir bei? Was soll ich Ihnen jetzt sagen?«

»Ich frage Sie, warum?«

»Warum?« wiederholt sie und blickt ihn mit einem ganz neuen Ausdruck im Gesicht an, dann stammelt sie: »Können Sie es denn nicht erraten? Ich –« und hier zögert sie, und echte Röte überfliegt ihre Wangen und macht sie schöner als je, aber sie zwingt sich, fortzufahren: »Ich wollte nicht, daß Sie das Mädchen heimführten, das Sie zu heiraten im Begriff standen. Charley, blicken Sie mir nicht ins Gesicht, und ich – ich will es Ihnen sagen. Was sonst konnte Sie von diesem Mädchen trennen?«

Dies entlockt ihm einen Schrei, denn er beginnt zu verstehen. Aber sie fährt fort: »Ein verzweifeltes Weib ist nicht bedenklich in der Wahl seiner Mittel. Ich wußte nur eines und dies wendete ich an. Der Familienstolz ihres Vaters wird eine Verbindung mit jemand, der ist, was Sie sind, niemals zugeben. Ich bin meine eigne Herrin, reich und unabhängig von der Welt. Ich könnte Ihre Schande vergessen, denn ich – oh, Charley, ich lie–«. Sie wollte das Wort zu Ende sprechen, aber die vornehme Dame vermochte es nicht zu sagen, wendete sich beschämt und gedemütigt ab und sank, ohne ihn anzusehen, auf ein Sofa nieder.

»Mein Gott, Sie lieben mich,« flüstert Errol, der endlich begreift.

Bei diesen Worten fährt sie herum und ruft: »Wie können Sie wagen, dies zu sagen? Noch haben Sie nicht gesagt, daß Sie mich lieben!« und dann klammert sie sich an ihn an, denn der Stolz ist der Leidenschaft gewichen, und stöhnt: »Wie konnte ich anders, da ich Sie in Aegypten für mich kämpfen sah?« Und dann fleht sie: »Forsche nicht nach! Suche nicht, deines Vaters Unschuld zu beweisen und dadurch seine Schande in die Oeffentlichkeit zu bringen! Denn wisse, daß es ein Weib gibt, das sein Los mit dem deinen verbinden will, das England, dessen Gesellschaft dich nicht dulden würde, um deinetwillen verlassen will – ein Weib, in dem deine einzige Hoffnung auf Glück beruht!«

Er aber ruft ihr zu: »Meine einzige Hoffnung auf Glück? Ich habe nur eine und die ist, meinem Vater zu seinem Recht zu verhelfen, seinen Namen so hoch zu Ehren zu bringen, daß ihn das Mädchen, das ich liebe, mit mir teilen kann. Denn wenn ich Ethel Lincoln nicht gewinne, so bin ich zeitlebens unglücklich.«

Nun taucht vor seinem Geist das bleiche Antlitz Ethels auf, wie sie in trauriger Beschwörung zwischen ihrem Bruder und seinem berechtigten Zorn niedersank, und er reißt sich los aus Lady Annerleys umschlingenden Armen. Dann denkt er plötzlich, er habe alles nur geträumt, denn er vernimmt die Worte: »Charley, du sollst mich gewinnen. Dieses Weibes Künste sollen uns nicht trennen!«

Erschrocken und verwundert blickt er auf und sieht das süße Antlitz der Geliebten vor sich, denn Ethel Lincoln steht zwischen ihm und Lady Annerley, die zurückfährt und schreit: »Ich hatte sie ganz vergessen!« In der Erregung ihrer leidenschaftlichen Beichte, die Herr Brackett veranlaßt hatte, war die Anwesenheit ihrer Nebenbuhlerin ganz aus ihrem Bewußtsein geschwunden.

Ethels Gesicht und Augen sind nicht mehr traurig; jenes leuchtet voll zuversichtlicher Liebe, während die Augen Lady Annerley entrüstet anblitzen. Die Taube ist im Begriff, mit dem Falken zusammenzustoßen.

»Du hast gehört –«

»Genug, um dich mehr zu lieben, als diese Frau es je gekonnt hätte!«

Das Vertrauen und der Glaube dieses Mädchens an die Zuneigung des Mannes ihrer Liebe erbittern Lady Sarah noch mehr gegen sie, und sie erwidert: »Wir wollen sehen, wie du ihn liebst. Weißt du, was dieser Mann ist?«

»Ja. Er ist der Mann, den ich liebe.«

Dann schreitet Lady Annerley mit ruhiger Entschlossenheit auf das Mädchen zu, das wie eine Statue dasteht und ihr lauscht.

»Liebst du ihn genug, um das Schandmal seiner Familie dir aufzudrücken, um dich von all den deinen zu wenden, um dich von deinem Vater und Bruder verleugnen zu lassen? Wenn du dies thust, dann geh und nimm ihn. Denn der Mann, den du heiraten willst, ist –«

Hier muß sie sich unterbrechen, denn Errol ruft mit einer Stimme, die laut und gellend gewesen wäre, hätte nicht die Verzweiflung sie heiser gemacht: »Barmherzigkeit! Halten Sie ein! Sagen Sie ihr nichts von meiner Schande!«

Aber sie murmelt: »Vergib mir, Charley!« und dann ruft sie mit einer Stimme, welche die seine übertönt: »Er ist der Sprößling eines beurlaubten Sträflings, der Sohn eines Verbrechers!«

Nun sinkt die Statue gebrochen zu den Füßen des gemarterten Mannes und stöhnt: »Charley, sag ihr, daß dies nicht wahr ist!« Und der Mann wendet sein Antlitz ab, läßt sein Haupt sinken und flüstert: »Ich kann nicht!«

Diese entsetzliche Enthüllung vernichtet das junge Mädchen. Auch sie verhüllt ihr Antlitz.

»Sie sehen, welche von uns Sie am meisten liebt,« sagt Lady Sarah mit einem Hohn und einem Triumph, die sich noch auf ihren Lippen in Galle verwandeln, denn bei diesen Worten schwankt das Mädchen zu dem Manne hin, schlingt ihre Arme, um ihn und tröstet ihn weinend: »Ich! Ich! Denn wenn er auch alles ist, was du sagst, so ist er doch auch der Mann, den ich liebe. Achte nicht auf ihre grausamen Worte, während meine Arme dich umschlungen halten.«

Und wie sie so dem armen gequälten Mann mit der Liebe des Weibes statt mit der der Jungfrau naht, da mildert sich seine Verzweiflung, und lindernde Thränen bringen ihm Trost und Ruhe.

Einen Augenblick danach schiebt er sie sanft von sich weg und sagt sehr ruhig, aber auch sehr traurig: »Mein Lieb, ich muß diese Worte beachten; es sind die Worte der Welt und wir können ihnen nicht entgehen!« Dann schreit er plötzlich auf: »O, mach es mir nicht allzu schwer! Laß mich nicht im Zauber deiner Umarmung vergessen, daß ich mit jedem Wort, das ich zu dir rede, das Ehrenwort breche, das ich deinem Vater gegeben habe!«

Dann hängt sie sich wieder an ihn, und ihre Arme halten ihn aufs neue umschlungen.

Sanft macht er sich los und tritt vor Lady Sarah, die mit wechselnder Hoffnung und Furcht diese Scene beobachtet hat. Gelassen, wenn auch mit bebender Stimme sagt er: »Lady Annerley, Sie haben gesiegt. Sie haben mich von der getrennt, die mir das teuerste ist auf Erden!«

»Endlich!« denkt sie bei sich.

Mühsam und kaum verständlich stammelt Errol die Worte hervor: »Ethel, es ist nur eine Möglichkeit vorhanden, daß du meine Stimme nochmals vernimmst in der Welt, und dies ist die Möglichkeit, die Unschuld meines Vaters zu beweisen.«

Und Lady Annerley ruft: »Dann werdet ihr für ewig getrennt sein!«

Dies Wort bricht den Zauber. Die bisherige Ruhe der Verzweiflung macht wilder Empörung Platz.

Ethel wiederholt: »Ewig?« und stürzt auf Errol zu und weint: »Charley! Verlaß mich nicht für immer! Denke, wie sehr ich dich liebe! Wisse, daß, wenn die Welt dich ausstößt, ich mit dir gehen werde!«

»Foltere mich nicht,« stöhnt Errol.

»Daß dein Vaterland auch das meine sein soll!«

Charley zittert in der Umarmung des Mädchens, das ihm durch das dargebotene Opfer nur noch teurer wird, und flüstert: »O, wie du mich in Versuchung führst! Habe Mitleid mit mir, mache mir meine Pflicht nicht allzu schwer!«

Dann reißt er sich von ihr los und ruft: »Ich bin nicht selbstsüchtig genug, deinen gesellschaftlichen Selbstmord anzunehmen!«

Er wendet sich um und eilt schwankenden Schrittes fort, allein noch ehe er die Thür erreicht hat, ist das Mädchen wieder an seiner Seite und bittet und fleht: »Charley, verlaß mich nicht!« Dann aber schreit sie wild: »Charley, laß diese Frau nicht triumphieren!«

Es war im Oktober und nur noch wenige Reisende weilten in dem Gasthof, so daß noch niemand etwas von diesen Vorgängen bemerkt hatte, allein Arthur, der gerade auf das Haus zukam, hörte den Schrei seiner Schwester und trat in das Gemach. Er reißt sie von Errol weg und ruft höhnisch: »Wie, du demütigst dich noch einmal und vor den Augen deiner Nebenbuhlerin? Ethel, ich verachte dich!«

»Nein, nein, er liebt mich!« stöhnte Ethel. »Du bist ihm eine Abbitte schuldig!«

Allein der Triumph in Lady Annerleys Augen ließ ihn die Worte seiner Schwester nicht beachten. »Ihm eine Abbitte? Wenn ich dich schreien höre: ›Verlaß mich nicht!‹ und die Augen dieses Weibes so siegesgewiß blitzen sehe?« Dann schleudert er das Mädchen auf ein Sofa und stürzt auf Errol zu, der sich hoch aufgerichtet hat und ruft: »Rühr' mich nicht noch einmal an, um Gotteswillen nicht, ich könnte sonst vergessen, daß sie deine Schwester ist, und mich nur noch daran erinnern, daß ich ein Mann bin!«

Der erste Satz wurde in beinahe flehendem Tone, der zweite aber in jenem schrecklichen, leisen Ton gesprochen, den Männer annehmen, wenn sie im Begriff stehen, einander ums Leben zu bringen, und wahrscheinlich hätte sich Herrn Potters Prophezeiung in diesem Augenblick erfüllt, wenn nicht plötzlich Ida Potters schönes, angsterfülltes Antlitz zwischen den beiden leidenschaftlichen Männern aufgetaucht wäre.

Sie hatte Arthur ins Haus treten sehen, war ihm nachgeeilt und rief nun » Halt!« in einer Weise, die beide veranlaßte, innezuhalten; dann wandte sie sich an Arthur und sagte: »Hier ist ein Herr, der eine Entschuldigung von dir erwarten darf!«

»Ohne eine Erklärung? Nie!« erwiderte ihr Verlobter störrisch.

»Dann will ich es für dich thun,« ruft Ida und schenkt dem Australier einen solchen Blick des Vertrauens und der Achtung, daß das Blut des armen, gedemütigten Burschen mit neuer Kraft durch seine Adern rollt, als sie sagt: »Charley Errol, Ethels Bruder versteht nicht, in welch grausamer Lage Sie sich befinden – aber ich begreife es! Vergeben und verzeihen Sie ihm um meinetwillen!«

Da raunt ihr Arthur zu: »Ida, dies ist eine Demütigung, du sollst nicht weiter um Entschuldigung bitten!«

Sie aber schiebt ihn beiseite und ruft mit einem von edler Begeisterung leuchtenden Antlitz: »Ich will mehr thun, als um Entschuldigung bitten: ich will Sie dafür entschädigen, Charley Errol! Ich gebe Ihnen die Hoffnung zurück!«

»Hoffnung!« wiederholt der junge Mann heiser und tritt ihr näher: »Was wissen Sie von alldem?«

»In der gestrigen Times steht ein Aufruf an einen Lehrling, der seit dreißig Jahren verschollen ist.«

Lady Annerley fährt auf und ruft mit angsterfüllter Stimme: »Guter Gott!« und fängt an zu zittern.

»Was würden Sie darum geben, ihn aufzufinden?«

»Alles in der Welt!«

»Er ist verschollen, er ist tot, unmöglich!« unterbricht ihn Lady Sarah.

»Dann will ich ihn Ihnen bringen!«

Sarah Annerley kreischt: »Er wagt nicht, zurückzukehren! Er ist vor dreißig Jahren unter der Anklage eines Kriminalverbrechens entflohen!« Aber Ida, die nur den Australier sieht, der an ihren Lippen hängt, als ob ihm diese das Brot des Lebens spenden könnten, wendet sich um zu Lady Annerley und erwidert ihr: »Aber er ist unschuldig, ich weiß es!«

»Und wie willst du dies beweisen?«

»Indem ich ihn frage!«

»Ihn fragen?« Dieser Schrei der Ueberraschung entfährt allen Lippen.

»Ja! Glaubt ihr, ich fürchte die Untersuchung? Als mein Vater vor dreißig Jahren England verließ, um in Amerika sein Glück zu suchen, da war er der Lehrling, den ihr sucht.«

Errol flüstert: »In des Himmels Namen – wer ist schuldig?«

Ida aber ruft: »Diese hier weiß es!« und steht wie eine Statue der Wahrheit vor Lady Annerley, die auf dem Sofa zusammengesunken ist und stöhnt: »Sagt es ihm nicht! Sagt es ihm nicht!«

Sie verließen sie alle, und nachdem sie aus dem Gasthof hinaus waren, weihte Fräulein Potter Arthur, der nicht abgeneigt schien, die andern alle für verrückt zu halten, hinlänglich in den wahren Sachverhalt ein, um ihn Errols Vergebung nachsuchen zu lassen, der mit der frohen Kunde von dem Wiederauffinden Sammy Potts' zu seinem Vater eilte.

Arthur geleitete die beiden jungen Mädchen nach dem Hotel du Pavillon zurück, wo sie übernachten wollten und Herrn Potter zu finden hofften, allein dieser war noch nicht zurückgekommen. Hier erzählte Ida ihrem Bräutigam alles, was sie von der Angelegenheit des ältern Errol und ihres Vaters Zusammenhang damit wußte, wozu er ein sehr feierliches Gesicht machte, denn eine derartige Anklage erscheint einem englischen Advokaten stets als eine äußerst ernste Sache.

Er sagte: »Ida, du hättest es deinem Vater zuerst sagen sollen.«

»Was, nimmst du an, ich zweifle an der Unschuld meines Vaters? Glaubst du, ich hätte die Verzweiflung in des armen Charley Antlitz sehen und schweigen können, während diese Frau mich so herausforderte?« erwiderte Ida lebhaft.

»Die Unschuld ist manchmal schwer zu beweisen,« versetzte Arthur und fragte dann in dem Büreau des Gasthofes ängstlich nach Herrn Potter. Sie hatten ihn nicht gesehen, und er wartete und wartete, bis er ganz müde wurde.

Es war unterdessen sieben Uhr geworden, und Arthur, der ein Gerücht vernommen hatte, das ihn mit Schauder erfüllte, kam herein und sagte, er wolle in die Stadt gehen und Idas Vater suchen.

»Was gibt's denn?« fragte Ida, die seine sonderbare Art bemerkte. »Warum willst du denn ohne Essen fortlaufen?« Die Mahlzeit wurde eben aufgetragen.

»Ich – weißt du, es wäre auch möglich, daß dein Vater schon heute abend nach England zurückgekehrt ist.«

»Unsinn! Ich habe seinen Mantelsack unten gesehen; ich würde ihn an den zwei Kugellöchern immer und überall erkennen,« versicherte das Mädchen.

»Immerhin, meine ich, es sei besser, sich selbst hiervon zu überzeugen.«

»Ueberzeugen? Von was? Du hast etwas gehört. Es handelt sich um meinen Vater und ich verlange, es zu erfahren,« und damit stellte sich die Amerikanerin vor die Thür.

»Nun, ich fürchte, deine Mitteilung an Lady Annerley hat deinen Vater in Ungelegenheiten gebracht. Man spricht im Gasthofe davon, er habe die Stadt verlassen.«

»Gut, dann geh und sieh nach. Ich will dir das Essen aufheben lassen,« erwiderte Ida mit einem so völligen Glauben und Vertrauen in ihres Vaters Ehrlichkeit und Sicherheit, daß sie den jungen Mann in Verwunderung setzte. Ehe er das Zimmer verließ, sah er sie noch an den Tisch zurückgehen und bemerkte, daß sich nicht einmal ihr Appetit vermindert hatte, denn sie schien sich die Mahlzeit viel besser munden zu lassen, als die arme Ethel, die auch jetzt noch nicht in rosiger Stimmung war.

Das Essen war vorüber, es wurde acht, es wurde neun Uhr, und nun wurde Fräulein Potter etwas ängstlich, nicht wegen ihres Vaters Unschuld, sondern wegen Arthurs Sicherheit, in dessen Geschicklichkeit, sich in den Straßen dieser französischen Stadt zurecht zu finden, sie keineswegs das nämliche unerschütterliche Vertrauen setzte wie in die Unschuld ihres Vaters.

Um zehn Uhr kam Arthur zurück und nun erschütterten die Nachrichten, die er brachte, sogar Ida; mit bekümmertem Gesicht teilte er ihr mit, daß ein Verhaftsbefehl gegen Sammy Potts erlassen und bei der französischen Regierung ein Auslieferungsgesuch eingegangen sei. Als Sampson Potter dies erfahren habe, sei er, von Sergeant Brackett verfolgt, mit der Bahn nach Paris entflohen, und er, Arthur, habe an Lord Lincoln telegraphiert, der morgen früh eintreffen werde.

Kein Mädchen könnte eine derartige Mitteilung über ihren Vater ohne ein gewisses Unbehagen anhören. Im vorliegenden Falle aber wurde der Eindruck dieser Nachricht auf Ida noch durch Arthurs niedergeschlagenes Wesen verstärkt. Dieser junge Mann war sehr feierlich und ernst geworden und machte nun allerlei Bemerkungen, daß Knaben von zartem Alter nicht für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden könnten, daß kein Kind gesetzlich zurechnungsfähig sei, daß oft die schlimmsten Jungen die edelsten Männer würden, daß man einen Mann nicht für die Sünden seiner Kindheit zur Rechenschaft ziehen dürfe, und dergleichen mehr.

Bei einer dieser Bemerkungen, die seine Braut trösten sollten, fuhr diese auf und erschreckte Arthur durch die Aeußerung: »Kein Wort weiter, Arthur, wenn du mich heiraten willst. Keine Andeutungen, daß es irgend wie möglich wäre, daß sich mein Vater, sei es als Knabe oder als Mann, jemals an etwas vergriffen, oder sich irgend einen ungebührlichen Vorteil zugewendet hätte.«

Damit ließ sie ihrem Vater allerdings mehr als Gerechtigkeit widerfahren, denn im Westen wurde der alte Potter als der genaueste Mann im Viehhandel angesehen und bei einem Pferdekauf war er der Schrecken seiner Freunde.

Nachdem sie sich so für ihren Vater gewehrt hatte, begab sich Fräulein Potter zu Bett, wo die Weiblichkeit den Sieg über den Stolz davontrug und sie in Thränen ausbrach und schluchzte. »O mein Gott, ich hätte meinen Vater benachrichtigen sollen, daß er seine Unschuld hätte beweisen können – ich habe ihn seinen Feinden in die Hände geliefert!« Aber obgleich sie klagte und weinte, stieg in des Mädchens Seele kein Zweifel an der völligen Unschuld des alten Potter auf.

Dann kehrte aber auch der alte Stolz wieder, denn Ethel klopfte an die Thür ihres Zimmers, schmiegte sich an Ida an und sagte, um sie zu trösten: »Ida, liebste Ida, ich habe für deinen Vater gebetet, der von dem Detectiv verfolgt wird!«

»So – hast du das gethan?« sagte Fräulein Potter. » Ich habe für den Detectiv gebetet


 << zurück weiter >>