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Drittes Buch.
Eines Weibes Waffen

Vierzehntes Kapitel.
Alles für meine Doochter!

Erst gegen elf Uhr nachts langte Herr Potter in der Privatwohnung des Advokaten Portman an, den er in seinem Geschäftslokal vergeblich gesucht hatte. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Haushälterin zu wecken, die in tiefem Negligee und in möglichst übler Laune erschien.

»Ich möchte Herrn H. Clarkson Portman sprechen,« sagte Potter.

»Das muß ja ein recht wichtiges Geschäft sein, wegen dessen man einen bei nachtschlafender Zeit aus dem Bett jagt!« bemerkte das Weib. »Im übrigen können Sie Herrn Portmann vor morgen nacht doch nicht sprechen, da er durch ein Telegramm nach Boulogne berufen wurde und vor etwa zwanzig Minuten abgereist ist.«

Potter hinterließ dem Anwalt einen lakonischen Brief von drei Worten und übergab diesen der brummenden Haushälterin mit dem Auftrag, ihrem Herrn zu sagen, er werde ihn wieder aufsuchen, sobald er nach London zurückkomme, was in wenigen Tagen geschehen werde. Damit hieß er den Kutscher nach dem Langham Hotel fahren und fuhr fort, während die Frau ihm noch nachrief, ihr Herr komme vielleicht auch erst übermorgen zurück.

In seinen Gasthof zurückgekehrt, traf Potter einen alten texanischen Freund, Oberst Cottontree, mit dem er in der amerikanischen Ecke des Rauchzimmers vertraulich plauderte. Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die neuen Bekanntschaften, die Potter an diesem Tage in Folkestone gemacht hatte, und dabei erfuhr er von dem Oberst, der Gott und die Welt kannte, daß Lady Annerley die Tochter des großen Londoner Bankiers Sir Jonas Stevens sei.

Bei dieser Mitteilung ergoß sich Potter in einen Strom von freudigen Ausrufen und erklärte, daß dieser nämliche Jonas Stevens einst entscheidend in sein Leben eingegriffen habe und daß er gleich am nächsten Tage nach Boulogne fahren wolle, um ihrer Herrlichkeit für die Güte zu danken, die ihr Vater einst einem armen englischen Jungen erzeigt habe.

Am nächsten Morgen fuhren die beiden alten Freunde miteinander nach Folkestone, von wo der Oberst nach Paris reiste, wo er gegenwärtig wohnte. Potter nahm, nachdem er sich von seinem Freunde verabschiedet hatte, einen Wagen und fuhr nach Lincolns Villa, hielt aber im Vorüberfahren einen Augenblick im West Cliff Hotel, um sich seine Cigarre anzuzünden.

Da es ein schöner Morgen war, schickte Potter am Parkthor den Wagen fort und ging zu Fuß die nach der Villa führende Allee hinauf. Dies blieb jedoch nicht unbemerkt, denn da der ehrenwerte Teddy in Erfahrung gebracht hatte, daß der skalpierte Potter an diesem Morgen ankommen werde, hatte er sich mit fast sämtlichen Kindern der Nachbarschaft auf die Lauer gelegt, und sie alle folgten unter der Leitung eines weißköpfigen, halbidiotischen Jungen, »Kuhgesicht« genannt, Herrn Potter in feierlicher Prozession.

Zu Anfang hielten sie sich in respektvoller Entfernung von dem fürchterlichen Krieger der Prairieen, von dessen Wildheit ihnen Teddy Geschichten erzählt hatte, bei denen ihnen das Blut in den Adern gerann. Allein die Neugier war stärker als die Angst, und als sie dem Hause näher kamen, gab »Kuhgesicht« eine so komische Pantomime des Skalpierens zum besten, daß alle lachen mußten, obgleich sie wußten, daß sie sich dadurch in tödliche Gefahr begaben.

Herr Potter, der nur an seine Tochter dachte, ging langsam weiter und merkte nichts, bis endlich ein besonders lautes Kichern seine Aufmerksamkeit erregte, worauf er sich unversehens umwandte und »Kuhgesicht« auf der That ertappte.

»Lauft, lauft!« brüllte der ehrenwerte Teddy, und dies thaten sie auch alle, »Kuhgesicht« ausgenommen, der am nächsten bei Potter stand, weil seine Glieder aus Angst den Dienst versagten.

»Was willst du, Kleiner?« fragte Herr Potter scherzend.

»Ich – ich – wollte Ihnen nichts thun, nur, bitte, nehmen Sie einmal den Hut ab,« stieß der Knabe verzweifelt hervor. »Teddy Lincoln sagt, Sie seien skalpiert, und eine Merkwürdigkeit.«

»Na, ich werde ja noch ganz berühmt durch dies Skalpieren,« sagte Herr Potter, nahm Hut und Perücke ab und gewährte dadurch dem Knaben einen Anblick, dem dieser noch wochenlang schreckliche Träume zu verdanken hatte; nachher gab er ihm eine halbe Krone, für Kandiszucker. Da diese Scene von Teddy und den andern Knaben aus sicherer Ferne beobachtet worden war, spielte das »Kuhgesicht« noch auf lange Zeit eine große Rolle unter der Jugend in der Nachbarschaft.

Ohne weitere Abenteuer erreichte der Amerikaner schließlich die zur Villa führenden Stufen, wo ihm seine schöne Tochter entgegenflog und ihn herzlich küßte, trotz der Anwesenheit zweier vornehmer Diener und Arthurs, der den Hintergrund bildete. Nachdem Arthur gehört, daß Potter schon gefrühstückt hatte, wollte er ihn gleich in die Bibliothek führen und ihn Lord Lincoln vorstellen, da Ethel sich mit Freunden in den Gewächshäusern befand.

Nachdem er ein paar Minuten mit seiner Tochter gesprochen hatte, sagte Potter zu Arthur: »Jetzt will ich den Peer in Angriff nehmen!« Dann flüsterte er Ida zu: »Warum siehst du so ängstlich aus? Ich schere mich um einen Lord nicht mehr als um einen Indianer!« Und so trat er denn in die Bibliothek.

Eine Aufregung war nur auf seiten Herrn Lincolns vorhanden, der Herrn Potters Besuch mit immer wachsender Angst entgegensah. Arthur hatte mit der Schlauheit eines Advokaten und dem Takt eines Diplomaten das Bild seines künftigen Schwiegervaters entworfen. Seiner Beschreibung nach waren Herrn Potters Sprechweise, sein ungehobeltes Wesen und sein barbarisches, linkisches Benehmen nichts als das excentrische Benehmen des wilden Westens, es war nur Ueberspanntheit, sonst nichts.

Da sie dies oder ähnliches vermutete, hatte Fräulein Potter an diesem Morgen selbst eine Unterredung mit Lord Lincoln nachgesucht und diesem in offener, gerader, nicht übertünchter Weise die Wahrheit über ihren Vater gesagt, sie hatte weder seine Mängel verdeckt, noch seine Vorzüge gepriesen und damit geendigt, daß sie sagte: »Wie viele andre in unserm an gesellschaftlichen Ueberraschungen so reichen Land hat mein Vater sein Leben an die Zukunft seiner Kinder gesetzt. Damit ich mich wie eine Herzogin kleiden und in einer Equipage fahren kann, hat er seine Viehherden in die Prairieen getrieben und sein Leben all den Gefahren einer halb barbarischen Lebensweise ausgesetzt. Mein Glück ist sein Glück gewesen, und so soll sein Stolz auch der meine sein, und so heiß ich auch Ihren Sohn liebe, so werde ich doch in keine Familie eintreten, die ihn nicht achtet und ehrt wie den ersten Gentleman in England!«

»Und das wird sie auch, meine Liebe!« erwiderte Lord Lincoln, eine Thräne abwischend. »Denn nur ein guter Mann kann der Vater einer solchen Tochter sein.«

»Sie sind sehr gütig,« flüsterte Fräulein Potter, und da unter den Thränen seiner Herrlichkeit all ihr Stolz zerschmolzen war, ging sie auf den alten Herrn zu und gab ihm einen innigen Kuß, den sie eigentlich für ihren Vater bestimmt hatte, und als sie den ehemaligen Richter verließ, hatte dieser einen viel klareren Begriff von ihrem Vater, als ihm sein Sohn beigebracht hatte.

Aber obgleich er in dieser Weise auf die Erscheinung des Texaners vorbereitet worden war, konnte Lord Lincoln doch einen Schauder nicht unterdrücken, als er Potters Stimme in der Halle vernahm, und sagte zu sich selbst: »Guter Gott! Der gräßliche Mensch aus dem Gasthof!«

Indessen blieb ihm nicht viel Zeit zum Ueberlegen, denn Herr Potter trat ein und ergriff, von der Begeisterung des Augenblicks hingerissen, ohne zu warten, bis Arthur ihn vorgestellt hatte, die Hand seiner Herrlichkeit und rief: »Peer, sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen!«

»Peer?« wiederholte Lincoln erstaunt, denn er war noch nie so angeredet worden.

»Ja, so heißt man Sie doch, Peer des Reiches, nicht wahr? Ich habe nur Peer gesagt, weil wir doch wahrscheinlich miteinander verwandt werden, und ich es für freundlicher hielt.« Dann wandte sich der Texaner an den Sohn und sagte: »Arthur, ich hätte gleich gesehen, daß der Peer dein Alter ist.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Lord Lincoln etwas linkisch, denn er hatte bei Potters Liebenswürdigkeiten beinahe den Verstand verloren.

»Gewiß! Alles, was Ihnen angenehm ist!« Damit ließ sich der Amerikaner in einen Armstuhl nieder und sagte, ihm eine Havanna anbietend: »Eine Cigarre, Peer? Rauche immer gern beim Geschäft. Kann diese wohl empfehlen; mein Sohn hat sie mir aus Cuba geschickt. Stecke ein paar in deine Tasche, Arthur, mein Junge. Meine Doochter hat nichts dagegen – ist von Kindheit auf an das Kraut gewöhnt!«

Auf dies Zureden hin nahm seine Herrlichkeit eine Cigarre und auch Arthur folgte der Aufforderung. Nachdem sie alle angezündet hatten, nahm der junge Mann eine Gelegenheit wahr, seinem Vater ins Ohr zu flüstern: »Denke dran, daß ich seine Tochter liebe!« und verließ das Zimmer.

Potter sah ihm nach und bemerkte: »Ein recht netter, verständiger junger Mann! Werden er und meine Tochter nicht ein gutes Gespann abgeben? He, Peer?«

Lord Lincoln lächelte dazu, denn er war sehr stolz auf seinen Sohn; als vorsichtiger Jurist antwortete er aber: »Ehe wir weiter gehen, werden Sie mir gewiß verzeihen, Herr Potter, wenn ich Sie noch um einige Mitteilungen über Ihre Familie bitte. Ueber die Lincolns kann Ihnen hier jeder berichten, aber Sie kommen aus einem fernen Land.«

»Ganz natürlich,« sagte Potter, »und ich will Ihnen mein Leben erzählen. Ich wurde in England als Kind keiner namhaften Familie geboren, und meine Eltern starben, ohne daß ich sie gekannt hatte. Ich wurde in einem Waisenhaus erzogen, wanderte mit fünfzehn Jahren nach Texas aus und machte mich, als in Kalifornien das Goldfieber ausbrach, auf den Weg dorthin. Unser Zug wurde von Indianern vermassakeriert, und ich und Idas Mutter blieben allein am Leben. Ich rettete das Mädel, wurde aber dabei skalpiert. Wollen Sie vielleicht meinen Kopf sehen? Ist eine Merkwürdigkeit!«

»Nicht jetzt!« brachte Lord Lincoln mühsam hervor.

»Gut, also fahre ich fort. Die spätere Frau Potter war von einer der ersten Familien in Kentucky; ihre Verwandten waren alle tot, und ich war allein übrig geblieben, um sie zu beschützen. Und dies that ich, liebte, heiratete sie und ließ mich nieder und baute ein Blockhaus, und dann wurde nach einer Weile Houston geboren, das ist mein Junge, und dann kam der Krieg, und ich wurde Oberst bei den Konföderierten.«

»Oberst? Aber Sie führen den Titel ja nicht!« unterbrach ihn der Engländer.

»Nein, ich bin einer der wenigen Männer, die damals mitgekämpft haben und keinen militärischen Zierat an ihrem Namen haben. Als ich später gewählt wurde, fand ich, Kongreßmänner seien rarer als Obersten, und ließ den Oberst schnappen und nahm den Ehrenwerten. Verstehen Sie, Richter, wollt sagen Peer? Na, ich kam einmal schwer verwundet von der Grenze heim, und da fand ich, daß mein Weib gestorben war und mir ein Baby als ihr Monumentum auf der Erde zurückgelassen hatte.«

Hier unterbrach sich der alte Mann und wandte seine Augen ab, als ob er in der fernen Vergangenheit etwas erblickte, als er aber den Engländer wieder ansah, waren seine Augen gerötet, doch auch das Gesicht seines Zuhörers war traurig geworden, denn seine Erzählung hatte Lincoln auch an seine Gattin erinnert, die schon lange von ihm gegangen war.

Nach einem Augenblick aber fragte er doch: »Ich bitte um Vergebung, was sagten Sie, daß Ihnen Ihre Frau hinterlassen habe? Ich habe die letzten Worte nicht recht verstanden.«

»Ich sagte, sie habe mir ihr Monumentum hinterlassen, ihr Ebenbild, Ida Potter, und ich habe mein Leben dieser gewidmet, wie ich es sonst ihrer Mutter gethan hätte. Dann sah ich um mich und erblickte zehntausend Morgen Land und zweitausend Stück Vieh, alles für das kleine Baby, Ida Potter von Potters Croß Roads, Comanche County, Texas; und zehn Jahre später sah ich wieder um mich, entdeckte zweihunderttausend Morgen Land und zwanzigtausend Stück Vieh, alles für meine Doochter, Fräulein Ida Potter von Potterstown, Comanche County, Texas, und zwanzig Jahre später, heute vor einem Monat, schielte ich wieder um mich und blickte auf fünfmalhunderttausend Morgen Land und fünfzigtausend Stück Vieh und eine halbe Bank und ein halbes Opernhaus und eine halbe Eisenbahn, alles für meine Doochter, das ehrenwerte Fräulein Ida Potter aus der Hauptstadt Pottersville, Comanche County, Texas!«

Als er dies sagte, stand Herr Potter, der in Gedanken mit seiner Stadt gewachsen war, vor Erregung glühend hoch aufgerichtet da und sah seinen Zuhörer an. Dann fragte er: »Was sagen Sie dazu?«

»Sie scheinen sehr gute Geschäfte gemacht zu haben,« gab Lincoln zurück, »aber wer besitzt die andre Hälfte der Eisenbahn, der Bank und des Opernhauses?«

»Sie sind für meinen Sohn bestimmt! Für – meinen – Sohn!« wiederholte Potter stolz; »aber, Gott steh mir bei, ich weiß, daß ich den Jungen bei der Teilung bemogeln werde. Ich liebe ihn, aber Houston ist ein Mann und kann für sich selbst sorgen, und die Buben gehen von einem fort, aber was die Dööchter sind, Peer, die wachsen uns an das alte Herz!«

»Ja, und meine Tochter will auch heiraten und – von mir fortgehen! Sagen Sie nichts mehr, Potter – Sie brechen mir das Herz!« unterbrach ihn Lincoln, dessen Augen feucht wurden bei dem Gedanken, Ethels blaue Augen und ihr sonniges Haar nach Australien ziehen lassen zu müssen. Und dann sanken sich die beiden alten Knaben in die Arme und brachen in Thränen aus, aber sie achteten und liebten einander und blieben von da ab gute Freunde.

»Nun aber, Peer,« sagte Potter, der sich zuerst wieder faßte, »nun möchte ich auch, daß Sie mir in der bewußten Angelegenheit entgegenkommen, nicht wie ein Lord dem Ehrenwerten, sondern wie ein Mann dem andern, wenn beide nur das Glück ihrer Kinder im Auge haben.«

»Und das will ich auch! Niemand könnte Ihre Geschichte hören und Ihre große Liebe zu Ihrer Tochter sehen und Sie nicht achten.«

Dabei stand Lord Lincoln auf und sagte: »Ich bin stolz, die Ehre zu haben, Sie für meinen Sohn um die Hand Ihrer Tochter zu bitten!«

»Gewährt, Peer, gewährt!« erwiderte Potter und dann sagte er: »Aber nun lassen Sie uns zu dem jungen Volk gehen!«

Dies geschah und Ida, die mit Arthur spazieren ging und die beiden Patriarchen Arm in Arm auf sie zukommen sah, flüsterte ihrem Liebsten zu: »Ich war sicher, daß sie einander verstehen würden! Sieh, wie ich abergläubisch bin; ich trage mein Glücksarmband!« und dabei zeigte sie ihm das Armband mit dem Sovereign, das ihm schon in Venedig aufgefallen war. »Dies bringt mir meistens Glück!«

»Wirklich? Ist es ein Talisman?« fragte Arthur und hielt es fest, als eine gute Ausrede, den weißen Arm an sich zu drücken, den es schmückte.

»Ich halte es für einen solchen – küsse mich nicht, Arthur. Sie sind ganz nahe – sie sehen dich!«

Aber Arthurs Lippen waren dem zierlichen Handgelenk schon zu nahe, und als er es küßte, bemerkte er ein kleines Kreuzchen an dem Sovereign und machte sie darauf aufmerksam.

»Wahrhaftig, es ist gerade unter der Acht und Vier der Jahreszahl. Ich habe es früher nie bemerkt. Ich werde Papa einmal danach fragen, aber jetzt muß ich deinen Vater bezaubern und du den meinen für dich einnehmen.«

Damit nahm sie Lord Lincolns Arm und ließ Arthur mit ihrem Vater allein, damit sie besser miteinander bekannt werden möchten.

Bald darauf begaben sie sich zum zweiten Frühstück ins Haus, wo sie mit Ethel zusammentrafen, die unglücklich und enttäuscht aussah, denn sie hatte den ganzen Vormittag in einem Gartenhäuschen zugebracht, von wo aus sie die Folkestoner Straße überblicken konnte, und nach Errol ausgeschaut, der nicht kam; als nun auch noch van Cott und Teddy aus dem Billardzimmer kamen, war die Gesellschaft vollzählig – eigentlich zu vollzählig, denn Teddy, dem Herrn Potters Besuch zu Ehren gestattet worden war, an den Freuden der Tafel der Erwachsenen teilzunehmen, machte seinem Ruf eines enfant terrible alle Ehre.

Nach allerlei Gesprächen hatte Herr Potter eben eine allgemeine Abhandlung über irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand gehalten, als plötzlich der ehrenwerte Teddy, der ihn während der ganzen Mahlzeit mit offenen Augen und Mund angestarrt hatte und zum erstenmal in seinem Leben nicht im stande gewesen war, etwas zu essen, alles durch die Frage entsetzte: »Sagen Sie, haben Ihnen die Indianer, als sie Sie skalpierten, auch das Gehirn herausgenommen?«

Diese Bemerkung erschien so entsetzlich treffend, denn Potter hatte bei seinen wissenschaftlichen Erörterungen allen Grund und Boden unter den Füßen verloren, daß alle zu essen aufhörten und eine peinliche Stille eintrat, die nur durch van Cotts Gekicher unterbrochen wurde. Dann warf Arthur, ohne ein Wort zu sagen, den jungen Wißbegierigen zur Thür hinaus.

Unterdessen richtete Potter, der es nicht liebte, ausgelacht zu werden, drohende Blicke auf das kichernde Produkt der Civilisation und sagte: »Junger Mann, spaßen Sie nicht mit mir!«

»N–n–nein, fällt mir nicht ein,« stammelte van Cott, dessen Lachen in einem sonderbaren Schlucken erstarb, und die ganze Gesellschaft fühlte sich sehr erleichtert, als das Mahl vorüber war.

Herr Potter fand seine gute Laune sofort wieder und sagte, er fahre nach Boulogne, um Lady Annerley für frühere Wohlthaten zu danken.

Seine Tochter erhob keine Einwendungen dagegen, denn sie glaubte, er wolle sich dafür bedanken, daß Sarah sie auf dem Festland unter ihren Schutz genommen hatte, obgleich Arthur und Ethel bei Nennung ihres Namens ernste Gesichter machten: Arthur, weil er sah, daß seine Schwester ihren Einfluß auf Errol fürchtete, und Ethel, weil Charley noch nicht gekommen war, um mit ihrem Vater zu sprechen.

Als sie sich alle versammelt hatten, um von Herrn Potter Abschied zu nehmen, wagte sie es fast zitternd, ihn zu fragen, ob er Herrn Errol heute noch nicht gesehen habe.

»O ja,« erwiderte er, »habe ihn beim Vorüberfahren im Gasthofe in Folkestone gesehen.«

Als er nun den angstvollen Blick der jungen Dame sah und sich erinnerte, daß ihm seine Tochter erzählt hatte, Ethel liebe den Australier, machte sich Potter, bildlich gesprochen, daran, einen Nagel in dieses jungen Mannes Sarg zu schlagen. Er zog Lord Lincoln beiseite und sagte: »Peer, ich habe gehört, daß der junge Errol Ihrer Tochter den Hof mache; nun ich aber mit zur Familie gehöre, möchte ich Sie vor ihm warnen!«

»Warum – was hat er gethan?« fragte Lincoln sehr ernst.

»Gestern nacht im Gasthof habe ich ihn frisch und gesund gesehen; als ich heute morgen aus London kam, sah er übernächtig aus, konnte mir nicht in die Augen sehen – schien sich zu schämen. Nun gibt es aber nur ein Ding in der Welt, das über Nacht solche Veränderungen hervorbringen kann, und dies ist zu viel Whisky.«

»Potter, Sie müssen sich täuschen!« stöhnte seine Herrlichkeit.

»Durchaus nicht! Wir haben in Texas auch Whisky und ich kenne seine Wirkung!« Und damit küßte er seine Tochter zum Abschied, stieg in den Wagen und fuhr nach Folkestone zurück, um sich nach Boulogne einzuschiffen.


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