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Zweites Buch.
Englische Gerechtigkeit

Achtes Kapitel.
»Die Mädchen sind gekommen!«

Die »Calcutta« schaufelte ihren Weg durch das Mittelländische Meer, legte in Brindisi an, fuhr hierauf von da nach Venedig, und es gelang, Errol noch lebend bis dorthin zu bringen. Hier wurden die Reisenden von einem berühmten Arzt empfangen, den man telegraphisch von London berufen hatte, und dieser sagte: »Nicht weiter, oder er stirbt!«

Sie nahmen deshalb in einem großen, von Lady Annerley gemieteten Palazzo am Canale Grande Wohnung und fochten hier den letzten Kampf um des Australiers Leben.

Nach vielen Wechselfällen gelang es endlich der Pflege der Liebe, vom Reichtum, der Jugend, einer starken Konstitution und der modernen Wissenschaft unterstützt, den Tod aus dem Feld zu schlagen, und in dem Herzen des Weibes, das den Kranken bewachte, trat die Hoffnung an Stelle der Verzweiflung. Die Anfälle von Delirium wurden schwächer und seltener, und in demselben Maße fühlte sich auch Lady Annerley besser, die zu einem Schatten zusammengeschwunden war. Als Charley Errol kräftiger ward, wurde sie wieder schöner, bis sie an einem schönen Septembermorgen wieder ganz als ihr eignes strahlendes Selbst erschien, nachdem Doktor Lampson den Puls des jungen Mannes gefühlt und in der ihm eignen heiteren Art gefragt hatte: »Heute nacht viele Känguruhs geschossen im Del – ich meine, im Traum, Errol?«

»Nein, auch nicht das kleinste,« erwiderte der Patient sehr müde und träge; während er seine langen, abgemagerten Glieder reckte.

»So, freue mich, dies zu hören. Da Sie nun das Töten aufgegeben haben, glaube ich, sagen zu können, daß auch Sie dem Leben erhalten bleiben.«

»Stand es so schlimm mit mir?« fragte der junge Mann mit einem verwunderten Blick aus seinen blauen Augen, die durch die tiefen Ränder, welche die Krankheit um sie gezogen hatte, beinahe schwermütig erschienen.

»Das wissen Sie wohl jetzt gar nicht mehr? Sie haben Tag und Nacht nichts andres gethan, als Känguruhs gejagt.«

»Und wie habe ich sie gejagt! Ich glaube, ich habe in der Einbildung fast alle geschossen, die in ganz Australien zu finden sind. Da war immer ein ganz großer Kerl, der schnaubend herumsprang und mir wie eine Fackel vorleuchtete, daß ich sie schießen konnte, und in einer Nacht kam einmal ein wütendes, altes Känguruhmännchen und hätte mich getötet, wenn sie es nicht über meine Schulter weg erschossen hätte.«

»Sie?« fragte der Arzt erstaunt und fühlte wiederholt nach Errols Puls, um sich zu überzeugen, daß er gewiß kein Fieber mehr habe.

»Ja, sie, die Dame, die jeden Tag hierher kommt, die das Zimmer so, so schön macht, die macht, daß es so aussieht – und dabei blickte der junge Mann auf einen Strauß aus römischen Rosen und Parmaveilchen, der auf dem Tisch neben ihm lag. »Sie haben diese Blumen doch wohl nicht mitgebracht?«

»Ich – ich – wissen Sie – ich brachte –«

»Nein, Sie bringen mir Arznei. Ich kenne Sie, Doktor; Sie haben Angst, ich rege mich auf, obgleich ich die letzten drei Tage ganz vernünftig war – nur so schläfrig, so schläfrig! Ich war gerne schläfrig, denn wenn ich schlief, kam sie und sah mich an. Wenn sie merkte, daß ich aufblickte oder unruhig wurde, dann glitt sie wieder hinaus. Dann stellte ich ihr Fallen. Ich that, als ob ich schliefe, und sie kam herein und weinte über mich und bat, ich solle ihr vergeben. Was, zum Kuckuck, sollte ich dem Engel zu vergeben haben? Nun, ich höre sie jetzt, sie ist dort!« rief der junge Mann, der sich in eine halb sitzende Lage zu bringen suchte, und deutete lebhaft nach einem leichten Windschirm, der eine kleine Ecke des Zimmers seinen Blicken entzog und hinter dem ein tiefer weiblicher Seufzer hörbar geworden war.

»Zum Henker mit Ihnen!« brummte der Arzt; »wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, junger Mann, so gebe ich Ihnen eine höllische Dosis Chinin,« und drückte seinen Patienten in die Kissen zurück.

»Ich werde mich nicht ruhig verhalten, bis ich sie gesehen habe.«

»Schlafen Sie!«

»Ja, mit einem Auge offen! Doktor, sehen Sie denn nicht, daß es mir besser geht und ich stärker werde?« Dabei versuchte er, wieder im Bett aufzusitzen, sagte aber kläglich: »Wie weh mir meine Seite thut! Mein Gott, ich muß verwundet worden sein,« sank zurück und sah ganz verwundert aus.

Da trat Lady Annerley hinter dem Schirm hervor und rief zornig: »Seien Sie doch nicht so rauh mit ihm!« und schob sich selbst zwischen den Arzt und seinen Patienten, ordnete die Kissen und bettete das Haupt des jungen Mannes darauf, wobei sie liebkosend über seine blonden Locken fuhr, die während seiner Krankheit sehr lang geworden waren.

»So,« sagte sie lächelnd, »und nun Sie wieder zum Bewußtsein gekommen sind, laufe ich auch nicht mehr von Ihnen fort, wie es der böse Doktor verlangt hat, Charley.« Als sie das letzte Wort flüsterte, errötete sie tief.

»Sie sind ja äußerst gütig gegen einen Fremden. Doktor, bitte, stellen Sie mich vor. Ich – was habe ich gethan?« stotterte Errol verwundert.

Denn Sarah Annerley hatte sich aufgerichtet, stand da wie eine Statue der Verzweiflung und flüsterte mit gebrochener Stimme: »Er kennt mich nicht! Mein Gott, vergessen!« Und dann sank sie, ehe einer von beiden ein Wort sprechen konnte, auf ihre Kniee nieder und klagte: »Haben Sie denn die Frau vergessen, für die Sie gekämpft haben, die Frau, für die Sie so verwundet, für die Sie beinahe getötet worden sind; haben Sie denn Aegypten vergessen und jene entsetzliche Nacht – und mich?« Dann neigte sie sich über seine Hand und bat ihn, er solle »nachdenken! Nachdenken! Nachdenken

Das letzte »Nachdenken« rief sie schon außerhalb der Thür, denn der Arzt hatte sich wie ein Wirbelwind auf sie gestürzt und sie mit dem Rufe: »Lady Annerley, denken Sie an den Patienten!« zur Thür hinausbefördert. Obgleich er als Mann die hinreißende Schönheit dieser braunlockigen Niobe bewunderte und sich in ihm als Psychologen auch die Neugier regte, daß jemand, wie Errol, einen so bedeutenden Wendepunkt seines Lebens vergessen könne, so war er doch als Arzt entsetzt über die möglichen Folgen, die eine solche Aufregung für den Kranken haben konnte. Deshalb sagte er sehr nachdrücklich zu ihr: »Wie können Sie sich unterstehen?!«

»Oh, Doktor, er erinnerte sich meiner nicht mehr!«

»Das kommt mit der Zeit alles wieder,« gab der Arzt grimmig zurück. »Noch ein solcher Ausbruch, und ich verbiete Ihnen ein für allemal, das Krankenzimmer zu betreten.«

»Mir – seiner Pflegerin? Unmöglich!«

»Jedenfalls werde ich es versuchen, ohne Sie fertig zu werden, doch jetzt habe ich ein offenes Wort mit Ihnen zu sprechen, Sarah,« und damit führte er sie von der Thür des Krankenzimmers weg in ein freundliches, von der Septembersonne erhelltes Vorzimmer, zu dem das Plätschern des Canale Grande herauftönte.

»Ah, Sie wollen mich auszanken! Sie nennen mich immer Sarah, wenn Sie recht grob werden wollen. O, nein, Sie dürfen mich nicht von ihm fernhalten! Ich – ich will mich zusammennehmen – ich will ja alles thun!« Dies sagte sie in einem so demütigen Ton, daß der Arzt beinahe darüber erschrak. Und dann, als hätte sie Mut gefaßt, warf sie dem erzürnten Arzt ein halbes Lächeln zu und sagte: »Aber jetzt sind wir nicht im Krankenzimmer, jetzt können Sie mich nach Belieben ausschelten.«

»Wenn Sie unter Ausschelten Fragen stellen verstehen, so bin ich allerdings im Begriff, dies hinlänglich zu thun,« sagte Lampson, eine Prise nehmend. »Warum haben Sie mir damals telegraphiert, ich solle meine große Praxis in London im Stich lassen und diesen jungen Mann durch das Fieber bringen?«

»Weil ich keinen Glauben an die italienischen Aerzte habe.«

»Ganz recht. Hab' ich auch nicht,« stimmte Lampson zu. »Aber es wird ein recht kostspieliges kleines Vergnügen für Sie werden.«

»Es ist mir einerlei, wieviel Sie verlangen.«

»Ah! Die Anmaßung des Reichtums: ich werde mich dessen bei meiner Rechnung erinnern!«

Hier fragte aber plötzlich Lady Annerley ihn: »Warum haben Sie mir diese Frage nicht schon vor zwei Monaten gestellt, als Sie zuerst hierher kamen?«

»Warum? Weil ich zu viel Nachdenken mußte, um ihm das Leben zu retten. Außerdem war ich überzeugt, Sie seien mit dem jungen Errol verlobt und würden ihn heiraten.«

»Ihn heiraten?« Eine Art Angst klang aus Lady Annerleys Stimme, als sie dies Wort flüsternd wiederholte.

»Ja, und dies wäre wohl nicht so entsetzlich, als Ihr Ton glauben lassen könnte,« sagte der alte Lampson kichernd. »Er ist nicht zu alt für Sie und wird, sobald er wieder dicker ist, ein recht hübscher Mann sein; außerdem sind Sie unbeschränkte Herrin Ihres Vermögens. Ihr Vater, Sir Jonas Stevens –«

»Sprechen Sie nur hier nicht von meinem Vater!« unterbrach sie ihn mit einem Schmerzensausbruch, der den Arzt in Erstaunen setzte; denn die Behandlung, die Lady Annerley von seiten ihres toten Vaters erfahren hatte, war von der Welt im allgemeinen und dem Hausarzt im besonderen nie als eine solche angesehen worden, die besonders geeignet gewesen wäre, die Liebe einer Tochter zu steigern. »Hat Errol nicht in Aegypten sein Leben für mich gewagt? Verpflichtet mich dies nicht schon allein, Zeit und Geld und alles andre ungemessen daran zu setzen, um ihn zu retten? O, mein Gott, wie hat er für mich gekämpft!«

»Hm!« machte Doktor Lampson nachdenklich. »Was hat Sie denn überhaupt nach Aegypten geführt? Jedermann war auf die Unruhen dort gefaßt, und doch segelten Sie zwei Tage nach Ihres Vaters Tod dahin ab, um in Alexandria in Kriegslärm und Blutvergießen zu geraten?«

»Ich ging in Geschäften hin. Herr Errol war im Begriff, nach Australien zu reisen, und ich wünschte, ihn noch zu treffen, ehe er Aegypten verließ, denn ich hatte seinem Vater eine Nachricht zu senden. Bitte, unterziehen Sie mich nicht einem Kreuzverhör, sonst könnte ich meinen, ich habe es mit einem Advokaten zu thun, und das Vertrauen zum Arzt verlieren.«

Lady Sarah bemerkte dies mit einem sehr entschiedenen Ausdruck in Stimme und Augen, was Lampson aber gar nicht zu beachten schien, denn er fuhr ruhig fort: »Wer ist sein Vater?«

»Herr Ralph Errol von Melbourne.«

»Ralph Errol! Ich glaube, ich habe schon von ihm gehört – einer der großen Kapitalisten drüben. Hm! Mein Honorar scheint von beiden Seiten sicher zu stehen,« grunzte der Doktor. »Aber, zum Kuckuck, was für ein Interesse haben Sie denn an Ralph Errol von den Antipoden?«

»Er – er nahm meines Vaters Stelle ein draußen in Australien,« erwiderte Lady Annerley mit eigentümlichem Ton und einem gewissen Zögern in der Stimme, während sie sich umwandte und aus dem Fenster sah.

»Ah!« bemerkte der Arzt, »der Vater dieses jungen Mannes war der Agent Ihres Vaters überm Wasser drüben.« Er merkte nicht, daß die Dame sich mühsam aufrecht erhielt und ans Fensterkreuz anklammerte, um nicht zu fallen; grimmig dachte er: »Der Zorn macht die beste Diplomatie zu nichte,« und fuhr in etwas spöttischem Tone fort: »Ist es nicht merkwürdig, daß Sie dies wußten? Mylady Annerley schien doch sonst mehr im Ballsaal als im Comptoir zu Hause zu sein.«

Er hielt inne, denn sie drehte sich um und er sah in ihr Antlitz.

»Mein Vater hat mich auf seinem Totenbette von vielem unterrichtet,« sagte sie leise und mit demütiger, gebrochener Stimme. Allein schon im nächsten Augenblicke war alle Demut aus ihrem Wesen verschwunden, und sie stürzte auf den Arzt zu und zischte ihm ins Ohr: »Stehlen Sie die Geheimnisse des Toten nicht – hören Sie wohl! Lassen Sie den Toten in Frieden!«

»Zum Henker, gnädige Frau! Sie kneifen mich ja in den Arm!« kreischte der Doktor, denn sie hatte ihren letzten Worten durch einen ziemlich heftigen Griff mehr Nachdruck verliehen; in demselben Augenblick glaubte aber Lady Annerley ein Geräusch im Krankenzimmer zu vernehmen und flog hinein: Lampson folgte ihr.

Als er in das Zimmer trat, betrachtete sie den indessen eingeschlafenen Kranken mit einem Blick, welcher den alten Herrn auf einen neuen Gedanken brachte. Er zog sie beiseite und flüsterte: »Sie sind ganz verzweifelt verliebt in ihn?« Doch sie erregte sein Erstaunen durch die gelassene Art, mit der sie lachend sagte: »Ist das ein Einfall!« In der nächsten Minute aber brach sie in Thränen aus.

»Bitte, nichts von der Sorte hier im Krankenzimmer! Von Kokettieren und Heiraten darf nicht die Rede sein, bis der Adonis wieder gesund ist!«

»Heiraten! – Ich? Sie vergessen sich, Doktor; ich bin erst seit anderthalb Jahren Witwe!« Die schöne Frau versuchte einen hochmütigen Ton anzuschlagen.

»Das ist just die gewöhnliche Zeit!« grinste Lampson. »Bei fünfundzwanzig Jahren kommt nach achtzehn Monaten gerade die verhängnisvolle Periode.«

Allein plötzlich erschreckte sie ihn, denn sie erhob sich mit blitzenden Augen und rief: »Genug! Keine weiteren Witze mehr über mein Herz!« Dann ging sie mit flammendem Antlitz die Treppe hinunter und sagte mit gebrochener Stimme: »Martin, ich bin krank. Bringen Sie mich zu Bett!« Ein Auftrag, dem die Zofe zitternd Folge leistete, denn sie hegte die Ueberzeugung, daß alle Fieber ansteckend seien, und dachte bei sich: »Wenn sie's kriegt, hat sie mich gesehen!«

Lampson blickte der schönen Witwe nach und flüsterte: »Armer Teufel!«

Vor den Hausärzten hat man in der Regel keine Geheimnisse, und der alte Lampson sann über Lady Annerleys Lage nach. Mit siebzehn Jahren war sie von ihrem Vater tatsächlich gezwungen worden, den alten Lord Annerley zu heiraten, denn Sir Jonas Stevens hatte sein Geld als Bankier verdient und verehrte, obgleich selbst zum Ritter erhoben, den Adel, wie es einem richtigen Ratsherrn aus der City ziemt, d. h. von ganzer Seele. Viscount Annerley war ein Ueberbleibsel aus der Regentschaft, er war einst ein eleganter Roué gewesen und strebte noch nach seiner Verheiratung danach, ein alter Roué zu bleiben. Seine junge Frau haßte er, weil sie ihn verachtete und zwar von ganzem Herzen. Ihr Vater war aus einem unbekannten Grund ein verbitterter Mensch und hatte nur für die Anhäufung großer Reichtümer Sinn. So lebte die Viscounteß Annerley von ihrem siebzehnten bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Jahr, ohne von einem Mann, dessen Gefühle sie in Ehren erwidern konnte, geliebt worden zu sein. Inzwischen hatte sie ihren Gatten und ihren Vater verloren und war mit dem Rang des einen und dem Geld des andern eine der glänzendsten Partieen in ganz England.

Mit einem Gatten, der alles that, um ihren Stolz zu kränken, und einem Vater, der nicht daran dachte, sie vor den Aufmerksamkeiten gedankenloser oder lasterhafter Männer zu behüten, hatte sie sich doch einen makellosen Ruf bewahrt. Ganz dazu geschaffen, eine zarte Leidenschaft nicht nur einzuflößen, sondern auch zu unterhalten, war sie bisher ohne Liebe durchs Leben gegangen.

Dies ging dem Arzt durch den Kopf, als er seine Blicke auf den schönen Zügen, dem lockigen blonden Haupt und der edlen Gestalt seines Kranken ruhen ließ und er zu sich selbst sagte: »In Zeit eines Monats ist der Bursche wieder der reine Adonis, dann wird sie ihn schon an sich fesseln. Bin überzeugt, daß der junge Errol auch noch was andres als Känguruhs und Aegypter verwundet hat.«

Als im Laufe der Zeit die Wiedergenesung Errols ausgesprochenere Fortschritte machte, kehrte auch seine Erinnerung wieder: wenigstens erkannte er Lady Annerley, wenn er sich auch der Nacht vor seiner Verwundung nicht mehr entsann und zu ihrer großen Freude das Schriftstück, das sie ihm gegeben, völlig vergessen hatte.

Lady Annerley hatte Errols Kleider und alles, was von seinen Sachen aus Alexandria mitgekommen war, durchsucht – und es nicht darunter gefunden. Unzweifelhaft war es durch irgend einen Zufall zerstört worden und konnte nie wieder erscheinen, um ein Geheimnis zu enthüllen, das nun, da sie ihn liebte, begraben bleiben mußte.

Nachdem der junge Mann erfahren, daß sein Vater von seiner Verwundung Kenntnis erhalten hatte, wunderte er sich oft, warum derselbe nicht herübergekommen war, um nach ihm zu sehen. Zu solchen Zeiten trat ein so merkwürdiger Ausdruck auf das Antlitz seiner Pflegerin, daß es Lampson auffiel und er bei sich selbst dachte: »Was mag nur mit Mylady los sein? Ich will mich hängen lassen, wenn sie sich nicht vor sich selber schämt!« – er kannte Sarah Annerley nämlich von ihrer Geburt an.

Um ihn für die Abwesenheit seines Vaters zu entschädigen, gab man dem Patienten einen ganzen Berg von Telegrammen und Briefen, die Errol lange betrachtete und dann sagte: »Sobald ich kräftig genug bin, gehe ich hinüber und sehe nach dem Alten. Er ist der edelste Gentleman, der treueste Vater, der zuverlässigste Freund von der Welt, Gott segne ihn.«

Diese Lobpreisungen seines Vaters hatten eine entsetzliche Wirkung auf Lady Annerley. Nach einer solchen Scene konnte sie die halbe Nacht im Zimmer auf und ab laufen, mit ihrem Gewissen ringen und rufen: »Wenn ich es Charley sagte, würde er mich hassen!« Und dann fing sie an, ihrem Vater in einer Weise zu fluchen, die christliche Seelen wenig erbaut haben würde, wenn sie ihr zugehört hätten.

Diese beständige geistige Aufregung machte sich auch körperlich bemerkbar, und eines Morgens, nachdem sie Errol auf ein Ruhebett geleitet hatten, von dem aus er auf den Canale Grande sehen und das Wasser rauschen hören konnte, führte Doktor Lampson Lady Sarah hinab und sagte: »Ich habe bemerkt, daß Sie Anregung brauchen und für welche gesorgt.«

»Wirklich, Doktor, und was haben Sie mir verschrieben?«

»Gesellschaft! Mädchen! Ihre beiden Freundinnen Fräulein Ethel Lincoln und Fräulein Potter.«

»Das haben Sie sehr gut gemacht, Doktor!« sagte Lady Annerley.

»Hm!« machte der Arzt stolz, »ich verschreibe immer die angenehmsten Arzneien. Da ich wußte, daß die beiden mit irgend einer Duenna und Fräulein Lincolns Bruder in Florenz waren, so telegraphierte ich ihnen. Sie sagten auch wirklich zu, ließen die Duenna um Ihretwillen im Stich und werden wohl schon in ein paar Minuten hier sein. – Doch halt, was ist denn dies?« rief er plötzlich aus, denn fröhliches Gelächter ertönte durch die nach dem Kanal führende Thür.

Lady Annerley rief: »Die Mädchen sind da!« und rannte die Stufen zum Wasser hinab, wo sie das lieblichste Bild der Welt erblickte.

Wenn irgend ein Ausruf mehr auf das männliche Gemüt wirkt, als ein andrer, so ist es sicher der: »Die Mädchen sind da!« Auch der Invalide oben vernahm ihn, steckte den Kopf aus dem Fenster und sah nun dasselbe Bild. Auf der von der Septembersonne bestrahlten Wasserstraße hatte eine Gondel gerade an den Stufen unter ihm angelegt. Auf diesen Stufen standen ein Engländer von etwa dreißig Jahren und eine junge Dame, die eben ihre Röcke vor ein paar Wasserspritzern rettete, die durch das schaukelnde Boot auf die Steine geschleudert wurden. In dieser Stellung nahm ihre leichte, schöne Gestalt die Haltung einer Venus an. Der Australier hatte noch keine Zeit gehabt, ihr seine Anerkennung zu zollen, als ein leichter Aufschrei an sein Ohr drang und eine Fee, die ihren kleinen Fuß unschlüssig auf den Rand des Bootes gesetzt hatte, flehend rief: »Arthur, bitte, hilf mir! Ich falle sonst ins Wasser und ich kann nicht schwimmen!«

Der also angerufene Herr, der seine ganze Aufmerksamkeit der andren Dame zuwandte, drehte nur den Kopf nach ihr um und erwiderte spöttisch: »Komm, Ethel, spiel dich nicht auf! Es ist ja kein Mann da, der dir zusieht!«

»Oh, welche Unterstellung! Ein Mann, der meine Ungeschicklichkeit sähe! Ein Mann – das fehlte gerade noch. S–oh –« Der letzte Ausruf wurde teils durch den Umstand veranlaßt, daß sie gerade in diesem Augenblick Errols bewunderndem Blick begegnete, teils dadurch, daß ihr Bruder ihr mit einem kräftigen Ruck auf die Stufen half; sie lief diese rasch hinauf und verschwand im Hause, wohin ihr Bruder die andre Dame mit ausgezeichneter Höflichkeit führte.

Beide junge Mädchen trugen ausgesucht schöne Sommerkleider und sahen aus wie ein Traum – aber die Fee – ah! Errol war außer sich vor Entzücken.

»Jedermann müßte an der Art, wie er sie aus dem Boot riß, merken, daß dieser Tölpel ihr Bruder ist. Ethel – hübscher Name! Es ist mir, als ob ich, wenn ich wieder gesund bin, ganz der geeignete Mann wäre, Ethel aus einer Gondel zu heben!« Dabei streckte er seine Glieder und sagte: »Wahrhaftig, es ist mir jetzt schon besser!«

Nach den gewöhnlichen Begrüßungen im Hause fragte Fräulein Potter, die sich nach allen Seiten hin umsah, während sie ihr von Worth geliefertes Gefieder glättete: »Wo ist denn der Held?«

»O, ich habe ihn gesehen, er ist blond und blauäugig wie ein Löwe!« rief Ethel. »Er hat mir zugesehen, als du mich aus dem Boot zerrtest, Arthur!«

»Oh, bist du glücklich wieder bei diesem Thema angelangt, Ethel?« sagte der Bruder ein wenig barsch, denn die beiden Mädchen hatten durch einen langen Brief des Lieutenants Potter aus Alexandria von Errol gehört und die Thaten des Australiers mit einem Nachdruck und einer Begeisterung verhandelt, die keineswegs viel zur Beglückung Arthur Lincolns beigetragen hatte. Er liebte Ida Potter schon geraume Zeit und war infolgedessen auf jedes männliche Wesen, insbesondere aber auf Helden eifersüchtig.

»Nun, jedenfalls ist er sehr hübsch. Daß du mich anfährst, macht ihn nicht häßlich,« flüsterte Fräulein Ethel.

»Ich werde ihn dir bald zeigen, liebes Herz,« sagte Lady Annerley, stolz auf ihren Helden, denn sie hatte dies heitere englische Mädchen mit seinen strahlenden Augen sehr lieb und ahnte nicht, wie glühend sie es später hassen würde.

»Wann wird er gezeigt werden?« fragte Fräulein Potter lachend.

»Zwischen zwei und vier Uhr nachmittags. Besondere Eintrittskarten erforderlich, und nicht zu vergessen, ihr Mädchen, kein Kokettieren mit meinem Patienten,« sagte Lampson brummig.

»Ich kokettiere nie!« versicherten die beiden Mädchen wie mit einer Stimme, nur daß Ethel darüber lachte, während Fräulein Potter es ganz ernsthaft nahm und ruhig fortfuhr: »Ich bin nicht darauf aus, Liebe zu zeigen, wo ich sie nicht fühle, nicht innig fühle.«

»Ist dies Ihr Ernst?« fragte Arthur leise.

»Ich habe die Gewohnheit, nur zu sagen, was ich denke!« erwiderte Ida, stand auf und ging zu Lady Annerley. Allein von diesem sicheren Hafen aus sandte sie ihm einen Blick zu, der ihn erbeben machte, denn seit den letzten Wochen hoffte dieser junge Advokat aus etwas, wonach reiche Herzöge vergeblich getrachtet hatten.

Bald darauf führte Lady Annerley sie die Treppe hinauf, um sie zu Herrn Errol zu bringen, wobei sich zeigte, daß sich dieser Herr etwas in Staat geworfen hatte, als ob er Damenbesuch erwartete.

Nach einem Augenblick der Bewunderung für Fräulein Potter, deren Lieblichkeit kein Mann ungerührt betrachten konnte, wandte er sich der Fee zu, die mit einer elfenhaften Bewegung sagte: »Entschuldigen Sie meine Neugier, Sie sind mein erster Held!«

Darauf antwortete der junge Mann: »Ich bin nicht stark genug, um aufstehen und Ihnen eine Verbeugung machen zu können, aber – in Australien reichen wir uns manchmal die Hand.«

»Mit Vergnügen,« und sie gab ihm die ihre und dazu einen sehr freundlichen Blick ihrer blauen Augen, denn wer sollte diesen großen hübschen Burschen nicht bemitleiden, der mit seiner romantischen Verwundung so blaß und interessant auf dem Sofa lag?

Gar bald waren die beiden in eine Unterhaltung vertieft und schienen sich recht gut zu verstehen.

Arthur dagegen atmete erleichtert auf, denn auf Fräulein Potter schien Errol nur einen geringen Eindruck gemacht zu haben. Sie trat auf den Altan, wo die untergehende Sonne ihren rötlichen Schein auf diese Prinzessin aus dem Westen warf, die von der Natur mit einer Schönheit gekrönt worden war, die von unbeschreiblichem Reiz, aber durch und durch amerikanisch war. So hatte Fräulein Potter sich ihre grenzländische Aussprache und ihr grenzländisches Wesen bewahrt; beide hatte sie von ihrer Mutter überkommen, die aus einer um ihrer schönen Mädchen willen berühmten Gegend am Kentucky gebürtig gewesen war.

Ihr südländisches Lispeln erklärten viele für so süß wie den Gesang der italienischen Oper, und ihre grenzländischen Manieren galten für so vollkommen, wie die des Ancien régime. Sie war stolz darauf, daß jeder, der sich vor ihr beugte, dem Lande, das sie vertrat und ehrte, damit seine Huldigung darbrachte. Kurzum, sie war, wie ein alter Freund ihres Vaters, ein berühmter Diplomat aus Texas, der sie zuerst in die europäische Gesellschaft eingeführt hatte, sich ausdrückte: »so verdammt erhaben und bedeutend, daß sie, die amerikanische Schönheit, die in den Londoner und Pariser Salons stolz darauf war, eine Amerikanerin zu sein, jedermann zwang, ihr als der anziehendsten Frau der Welt zu huldigen.«


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