Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Dreiundfünfzigstes Kapitel: Unter dem Schleier der Gisela.

Sie hatten wieder Musik gemacht, Harro seine Rose wieder hinübergetragen und Uli hatte sie zu Bett gebracht. Und sie sahen beide, daß es keine gute Nacht geben würde. Schon zum dritten Male bettete die alte Dame die Kissen um, und immer noch waren sie nicht recht, sondern hart und unbequem.

»Uli, du mußt mich schon glatt hinlegen, daß ich ruhen kann, und nicht in meinem Rücken solche harten Dinge anhäufen, du machst es doch sonst immer so lieb.«

Nun kam Harro herein, und sie streckte ihre Hand nach ihm aus.

»Sieh du, ob du mich nicht recht hinlegen kannst, ich quäle die arme Uli, oder nimm mich in deinen Arm, nur ein wenig, Harro.«

»Rose, ich fürchte, es liegt nicht an den Kissen, es liegt an deinem armen Rücken.«

»Nimm sie, Harro, und versuche es.«

Aber die Rose ist immer noch nicht zufrieden. Sie fühlt ja deutlich Harros Manschette durch die Kissen hindurch, unerträglich steif und hart ist die.

Harro sagt freundlich: »Heut bist du die richtige Prinzessin auf der Erbse. Ich will aber schnell mein seidenes Hemd anziehen, dann brauche ich auch vor Tante Uli Rock und Weste nicht, und dann muß es weich sein.« Und er läßt sie sanft herabgleiten und geht hinüber.

Er zog ein rotseidenes Hemd mit weichem Kragen an, aus dem sein feiner durchgeistigter Kopf so schön aufstieg, und sie sagte lächelnd:

»So schön bist du und so schlimm ist deine Rose.«

»Nun komm, Rose, jetzt wollen wir dir's aber leicht machen.«

Einen Augenblick ruhte sie in ihres Mannes Arm, dann fing die Unruhe von neuem an.

»Harro, durch das viele Treppenschleppen mußt du sehr starke Muskeln bekommen haben oder ist's durch dein Steinbehauen?«

Er neigte sich sanft über sie: »Und nun drücken dich die Muskeln, willst du sagen, Rose. Der Mann hat einen steifenharten, unbequemen Arm.«

Ulrike bittet: »Wir machen dir eine Einspritzung, Kind, du weißt, der Herr Hofrat hat gar nichts dagegen.«

»Ach, laß sie damit,« bat Harro, »die Ruhe, die sie dann hat, ist nur für uns angenehm. Sie hat doch immer die schrecklich mühseligen Träume und kann sich nicht besinnen.«

»O Gott,« seufzte die Rose, »Harro hat recht, es ist doch mein Rücken.«

Ulrike sah, daß Harros Arm zitterte, sie flüsterte: »Geh hinaus, Harro... sie liegt auf ihren Kissen ebenso.«

Er ging hinaus auf den Lindenstamm und starrte zu den schwarzen Berglinien und zu dem sternbesäten Himmel empor. Es war eine laue Nacht und der Wind trug einen leisen Veilchenduft von den Beeten unten zu ihm empor.

»So wird es nun. Das war alles bisher nur ein Vorspiel.« Er dachte an die Nacht, wo ihm sein Sohn geboren ward. »Die Höllenhunde,« murmelte er. »Da sind sie wieder!« Er warf seinen Kopf zurück und ging wieder hinein.

Ach die unruhige, die jammervolle Qual da innen. Sie schickten nach dem Hofrat, er verordnete eine Einspritzung, und dann holte man ihn zu einer Frau ... Das Morphium erregte nur noch mehr und machte sie dazu noch halb stumm... sie konnte nicht mehr sagen, was sie wollte, und nur in ihren verschleierten Augen lag ein so verzweifeltes Flehen um Hilfe, um Trost, um irgend etwas, das der andern verzweifelte Liebe doch nicht geben konnte.

Ulrike hat das schwarze alte Buch von Märts Mutter in die Hand genommen und las mit heller Stimme daraus vor, die Lieder, von denen sie wußte, daß die Rose sie liebte. Aber für die heutige Nacht schien keines gedichtet zu sein.

»Dieses Mittel, dieses fürchterliche Mittel!« stöhnte Harro, »wie macht es stumm, daß sie ihre Leiden nicht mehr klagen kann, und das heißen wir dann eine Wohltat. Sieh doch ihre Augen an, hat sie je so ausgesehen? Ich ertrag es nicht, ich ertrag es nicht. Es macht mich wahnsinnig, wenn ich den Blick länger aushalten soll.«

»Geh hinaus, Harro, sie hört dich...«

»Nein, sie hört mich nicht, sonst würde sie nach mir sehen.«

Er geht wieder hinaus in die Sternennacht unter die Linde, in der der Wind singt. Herrlich duften die Veilchen... drüben am Wald hängen die weißen Nebelschleier, ach so schön und friedlich ist die Gottesnacht, und er hat eine solche Hölle im Herzen! »So wird die Rose vollends vergehen, verschmachten. Ihr letztes Leiden hat begonnen. Sie ist ja noch so jung, und es ist alles in ihr gesund, da wird sich die Natur bitter wehren gegen das Aufhören. Warum läßt du deine Kinder, dein sanftes, liebevolles Kind so bitter leiden? Du unbegreifliche Gottheit. Warum, warum...?«

Er geht wieder hinein. Ja, nun erkennt ihn die Rose..., sie flüstert seinen Namen und »Das nicht wieder tun, nie wieder!« Und nun weichen die giftigen Nebel von ihr und die entsetzliche Unruhe vertreibt den letzen Rest der Betäubung. Ihre dünnen Hände klammern sich an seine Brust, er muß ihr ja helfen können, er muß. Ihre feinen Haare kleben an den Schläfen und ihre Lippen zittern fortwährend, und vom Schlag ihres Herzens zuckt der ganze Körper.

Der Wind ist stärker geworden und im Nebenzimmer öffnet sich leise die große Tür auf den Lindenstamm. Kommt da nicht jemand herein? Ulrike und Harro sehen hinaus. Das Licht fällt hell in das Zimmer, das alte Lernzimmer. Aber da ist niemand. Und doch ist's ihnen beiden, als wäre jemand hereingekommen.

Harro flüstert: »Ulrike, was ist das?«

Es ist totenstill, nun hat auch der Wind aufgehört Und die Rose liegt plötzlich ruhig, ihre Hände lösen sich von seiner Brust, ihr Haupt sinkt zurück. Ihre Augen sind wieder sanft geworden, alle Angst und Qual ist aus ihnen gewichen. Und nun lächelt sie, ein ängstliches Lächeln wie das Seelchen, dem sie nun auf einmal wieder ähnlich ist, ein Lächeln, das sie an sich hatte, wenn sie aus einer Not befreit war.

Harro sinkt auf die Knie neben ihr... seine Arme liegen auf ihrem Bett. Die Rose flüstert: »Uli, Liebe, man muß es Fräulein Berger sagen, daß sie sich einrichtet.«

Keines weiß, was sie will. Und nun hat sie ihre Augen halb geschlossen und liegt so feierlich und still in ihren zerwühlten Kissen. Ulrike sieht zu Harro hinüber und berührt seine Hand. Ihre Augen begegnen sich... aber sie schweigen.

»Harro,« sagt die Rose mit ganz heller Stimme, »komm zu mir herunter.« Er beugte sich über sie. »Ganz nah, noch näher. Nimm meine Hand, ich kann sie nicht heben und leg sie auf deine Augen.« Er tat es ... »Und sieh dorthin.« Ihre Augen gingen nach dem Fußende ihres Bettes, er folgte ihr, eine hohe Vase mit weißleuchtenden Chrysanthemen stand auf einem schmalen Wandbrettchen. »Dorthin, Harro.« Dann streckte sie sich aus: »Nun will ich schlafen.«

Er flüsterte ihr zu: »Ist es der Schleier der Gisela, Rose?«

»Du siehst sie ja, Harro, nun siehst du sie endlich. Gute Nacht Uli, gute Nacht, Lieber,« und nun war sie schon eingeschlafen.

Die Türe bewegte sich noch einmal, der Wind seufzte in der Linde. Ulrike ging mit ihm hinaus in das alte Lernzimmer.

»Was sahst du, Harro?«

»Einen Chrysanthemumstrauß,« sagte er traurig... »Aber gefühlt habe ich doch etwas.«

»Ich auch, Harro. Es muß ein Engel bei ihr gewesen sein.«

Harro sagte: »Ich fühlte eine sanfte Nähe. Ulrike; so weit kam ich und nicht weiter. Aber Gott sei Dank, daß es kam, Gott sei Dank. Es war der Schleier der Gisela.«

Am frühen Morgen geht Harro in das Atelier, die Rose schläft noch friedlich, und Uli wird ja kommen, wann sie aufwacht, und ihn holen. Er steht vor seinem Bild, als sich der kurze Oktobertag aus seinem Nebelbette erhebt. »Das schönste Bild!« er seufzt. »Ein blinder Maulwurf!« – Er holt sich seine Farben. Es ist ja immer noch an dem Gewand der Rose etwas nachzusehen, und da der Schleier, der herabhängt von der Gisela Haupt, der muß sich über den Hintergrund ziehen, wie ein wenig bauschen, als ergreife ihn das leichteste Windchen. Er malt eifrig an dem Schleiergewebe. Die alte goldene Spange fällt ihm ein. Die Rose trägt sie ja noch zuweilen. Plötzlich erschrickt er, er hat mit fester Hand die Linien von zwei dunkeln, geschwungenen Augenbrauen gezogen. »Ich verderbe,« sagt der eine Harro zum andern. Der antwortete: »Verdirb mir meinen inneren Spiegel nicht.« Und dann malt er in verbissener Eile weiter, diese Augenbrauen verlangen ja die langgeschweiften Lider mit den starken Augenecken. »Und die Nase war fein modelliert,« murmelt er, »hatte die einen Stolz. Wie demütig und bescheiden die Rose dagegen ist! Und diese Lippen... die sehr stark geschwungene Oberlippe... Ich bin ein Narr, und die Rose wird sagen, ich habe das Bild verdorben...« »Schweig,« herrschte der andere Harro... »ist das das einzige Blau, das du für die Augen auftreiben kannst? Dunkler, leuchtender, wärmer.«

– – –»Eine Hexe haben sie die Pfaffen genannt. Wenn sie einen solchen Mund hatte, war es nicht so sehr daneben... Ich begreife den alten Mann, der ihre Hand nicht berühren wollte, wenn er für seinen Kirchenschlüssel fürchtete. – Wie mag ich so schändlich gegen sie lästern, und heute nacht hat sie mir die Liebe getan.« – Die Stunden verrannen; er malte manchmal zögernd, manchmal in wildem Eifer. Die Hand, die mit wundervoller Zartheit die Schulter der Rose berührte, der Arm über dem Handgelenk trug einen breiten roten Streifen. Das hielt ihn am längsten auf.

Jetzt kam Tante Ulrike herein. »Das Kind ist aufgewacht, Harro.«

Er fuhr fast zusammen und sagte eilig: »Ja, ich komme.« Er hing seine Palette auf, ohne nur noch einen Blick auf sein Bild zu werfen, und ging hinüber.

Die Rose lag schon auf ihrer Tragbahre. »Ja, warum habt ihr mich nicht früher geholt?«

»Wir wollen dich doch nicht stören.«

»Harro, du hast gemalt!«

»Ja.«

»Nun ist dir's ja leicht geworden, da du sie gesehen hast... Wer sie einmal gesehen hat, vergißt sie doch nicht wieder.«

»Ich sah sie aber gar nicht,« sagte er betrübt. »Gemalt habe ich freilich. Ich habe noch nicht gewagt, mich ihr kalt gegenüber zu stellen. Eine stolze Frau, Rose, hab ich gemalt, eine wahre Königin, wenn ich mich da auch nicht täusche.«

»Ich will in den Saal, Harro, ich muß sie sehen.« »Eilt das so, Rose... Nach deiner schlechten Nacht... ich weiß doch nicht...«

»Ach, ich habe so schön geschlafen. Harro... und eine so ganz schlechte Nacht war es doch gar nicht...«

»Zuerst, ja...«

»Ach, Harro, ich bin so häßlich gegen dich gewesen, ich sagte, dein Arm sei hart.«

Er beugte sich über sie herab und küßte ihre blassen Lippen. »Dein alter Harro ist wieder einmal fast verzweifelt. Aber du bist doch getröstet worden, und nun ist's ja vorüber.«

Er strich über ihre Hände, in ihre Augen wagte er nicht zu sehen. Das kommt ja wieder, dachte er, es kann sie jetzt jeden Augenblick überfallen, ich kann mir denken, was es ist. Seine Augen glitten an ihr herab.

»Rose, deine goldenen Schuhe, deine Freudenschuhe, und was für eine liebliche seidene Pracht, das hab ich nun schon einige Zeit nicht mehr an dir gesehen.«

Sie errötete ein ganz klein wenig. »Die andern Kleider sind so schwer, sie drücken mich auf meine Knie... hier... und wenn dein Bild nun fertig ist, dann habe ich meine Freudenschuhe mit Recht angezogen.«

»Liebes Herz, wie sollte das fertig sein? Aber ich sehe schon, du bist hartnäckig... Märt!«

Und sie trugen sie in den Saal hinüber und stellten die schöne Sänfte vor dem Bilde auf. Harro stand dahinter und sein Herz klopfte ihm. »Was wird sie sagen?« Und dann sah er auf und es gab ihm fast einen Stoß. Stolz und geheimnisvoll lieblich sah ihn das blasse Antlitz unter dem Goldhaar und dem wehenden Schleier an. Er wartete nicht mehr auf das, was die Rose sagen würde. So mußte das Antlitz sein der geheimnisvollen Frau, von der ihre besten Freunde bis zu ihrem Tode nicht wußten, ob sie eine Hexe oder eine Heilige war.

Die Rose schwieg lange. Dann sagte sie: »Du hast sie doch gesehen, ich wußte es; doch wie du sie auffaßt. Aber du darfst das Gesicht nicht mehr berühren, in einer Viertelstunde hast du den Hintergrund vollendet: daß das Gesicht nicht so greifbar gemalt ist wie das meine, ein wenig schattenhafter, ist ja nur recht. Male, Harro, ich sehe dir zu.« Eine kurze Viertelstunde und er legte seinen Pinsel beiseite. »Meine Auffassung, was ist dir nicht recht daran, Rose?«

»Sie überrascht mich, ich dachte, du würdest doch am meisten ihre unsägliche Güte und Lieblichkeit sehen, denn sie hat dir doch nur Liebes getan... aber du siehst das Geheimnisvolle, Stolze, Königliche, das ist alles auch da. Das Gebietende... Aber ich verstehe, daß das deinem Bilde nottut. Du hast mich so weich gemacht... Ich finde nun gar nicht mehr, daß ich ihr so sehr ähnlich sehe. Es sind doch zwei recht ungleiche Schwestern. Lieber Harro, du mußt alle herbeirufen, daß sie dein Bild sehen. Das schönste Bild. Von jedem Glück der Welt habe ich nun ein Fädchen gefaßt... ach wie lange habe ich mir das gewünscht. Laß sie alle kommen, ich bitte dich. Meine Freudenschuhe, Harro!«

Er drückte auf die Klingel und schickte einen Diener herum.

Und sie kamen, eines nach dem andern, und Rosmarie empfing sie vor dem Bilde ihres Mannes strahlend und wie eine Königin. Von ihrer schlechten Nacht sah man ihr nur noch eine leichte Blässe an. Und die Augen waren schöner als je...

Von allen konnte sie wohl am besten das Kunstwerk als solches würdigen. Der Fürst sah nur seine holde Tochter in ihrer sanften Holdseligkeit, er faßte Harros Hand und drückte sie... Hans Friedrichs schöne Augen strahlten: »Harro, wie man das sieht, daß es ein Liedermund ist. Die Gisela – oh, der köstliche Liedermund!«

»Ich bin ganz unschuldig daran,« sagte Harro, »wie an allem... es wurde eben, es muß sich selbst gemalt haben, das Gesicht... Ulrike, du hast nichts gesagt... du bist mir auch deine Kritik schuldig. Hat die Rose dein steinernes Herz gerührt?«

»Hm,« sagte die Tante, »es wäre schade, wenn sie Schuhe und Strümpfe anhätte.«

Mit diesem Sieg mußte sich Harro begnügen.

Alfred bat: »Harro, laß dich herab zu einem so unbedeutenden Gewächs, wie ich bin, und erkläre mir ein bißchen. Hat das Bild auch einen Namen?«

»Es hat einen. Alfred,« rief die Rose mit ihrer hellen, feierlichen Stimme. »Es heißt: Der Schleier der Gisela... Und mit den Reihern sollt ihr anfangen, die droben an dem grau versponnenen Himmel fliegen, mit ihren schweren dunkeln Schwingen wie traurige und sehnsüchtige Gedanken, wie sie dahinstürmen über die sanften Wipfel der klagenden Bäume. Es ist ein Tränental. Und das stille dunkle Wasser, in dem sich kein Blümlein spiegeln will, es kommt wohl aus einem bitteren Bächlein geflossen. Nur die herabgefallenen Blätter umsäumen seine Ufer. Und vorne am Ufer ist die Rose... Es ist unnötig, sie zu bedauern, ganz unnötig. Ihr seht ja den Schleier, von dem sie gehalten wird, von der schönen geheimnisvollen königlichen Frau, die hinter sie getreten ist... Ach. ihr wolltet wohl auch von der Hand berührt werden, die das bittere Leidenszeichen trägt, wenn ihr in Kummer seid. Es ist kein Wunder, daß die Rose den Schleier, der von dem königlichen Haupte herunterwallt, mit ihren beiden Händen an ihrem Herzen zusammenfaßt. Seht ihr den leichten Himmelswind, der den Schleier faßt; und ihr seht doch alle, daß die Königin der armen Rose etwas weist. Dorthin soll sie sehen, dorthin...«

Hans Friedrich ging ganz leise zum Flügel, er hatte sie wohl alle vergessen, seine auf Musik gestimmte Seele suchte sich ihren Ausdruck in zarten Akkorden, und es erklang das Finale des Herrgottsnarren:

O Ehrenburg, sei nun gegrüßet mir.
Tu auf die Gnadenpfort...

Sie achteten es kaum, nur die Rose lächelte hinüber.

Tante Ulrike ließ sich hören. »Harro, die zarte Rose in ihrem grauen Wolkenkleid und dahinter die silberne Königin, es ist doch ein silbernes Kleid, und der dunkle grüne Hintergrund, die Bäume und wieder Bäume, die eine solche Tiefe des Waldes ahnen lassen, wie hast du das erfaßt! Es ist auch eine Dichtung, Harro. Du mußt mir sagen, wie du darauf gekommen bist.«

Harro erwiderte bescheiden: »Die Rose dichtet, sie ist eine Dichterin. Das Bild hat sie mir abringen müssen bis zuletzt. Mir ist gar kein Verdienst dabei zuzumessen. Aber wenn es euch ergreift, und wenn sogar meine Uli Zugeständnisse macht, so wird es daher kommen, weil es erlebt ist.« »Und nun,« sagte die Rose, »müßt ihr mir alle die Hand geben und mir gratulieren, denn ich habe so sehr das Bild ersehnt, und es hat Harro über schlimme Stunden hinweggeholfen. Ihr seht es ja der Rose an, daß sie auf ihre Art und Weise sehr glücklich ist.«

Sie versicherten es alle... und es gab ein großes Küssen und Händeschütteln und Liebhaben, daß es Harro fast bange werden wollte. ^

Er rief: »Herrschaften, laßt mir auch noch etwas von der Rose übrig...« Da ertönte zum Glück der Gong, und alle verabschiedeten sich zu ihrem zweiten Frühstück. Die Rose hatte schon etwas gegessen, und Harro nahm fast nie an der Tafel teil, die ihm für seine Ungeduld stets zu lange dauerte. Mit Mühe brachte ihn die Rose dazu, daß er im Saal neben ihr ein kurzes Mahl einnahm. Sie selbst genoß nichts, nur von seinem Weinglas nippte sie ein wenig.

Eine schöne Sonne schien vom mild blauen Himmel und die Waldberge trugen ihr buntestes Herbstkleid. Es war noch kein Frost gefallen und die Schönheit der Wälder stand noch auf der Höhe. So metallisch das Grün, so leuchtend das Gelb und Rot.

»Wir gehen in den Park, Rose,« schlug er vor.

»O wie gerne, Harro, nur – du weißt, ich war noch nicht bei Mama.«

»Liebste, tu mir das heut nicht zuleid. Denk an deine Nächte. Und mich wirst du heute nicht los, und wie kannst du mir zumuten, daß ich daneben stehe, wenn nach dir gestoßen wird. Komm, Heinz ist unten mit seinem Fips und der Babette.«

»Als ob die Mama nur noch ein unfreundliches Wort sagte, Harro... Die arme Mama, oben hinter ihrer Glastüre!«

»Tut sie das nicht mehr, Rose... Ja, dann ist's etwas anderes!... Märt!«

Sie trugen die Sänfte hinauf und stellten sie vor der Türe nieder. Harro hob die Rose heraus und flüsterte: »Ich trage dich hinein, dann weiß ich, was geschieht.«

Die Fürstin saß in ihrem Lehnstuhl am Fenster, wo sie immer saß, und beim Anblick der beiden hielt sie sich mit beiden Händen an ihrem Stuhl fest und ein lähmendes Entsetzen schien sie zu befallen. Die Rose glitt an ihrem Mann herunter und ging mit ihren mühseligen Schritten auf die Fürstin zu und legte sanft und wie beschützend den Arm um sie.

Die Unglückliche schmiegte sich an sie und stieß hervor:

»Du – – – du...« Dann sah sie halb trotzig, halb jammervoll auf den erblaßten Harro.

»Nicht fürchten, gar nicht fürchten,« flüsterte die Rose, und beugte sich herab und küßte sie leise auf die Stirn. Und wie sie so dastand, hatte sich ihre Haltung einen Augenblick gestrafft und in ihrer beschützenden Gebärde und in dem schönen Haupte sah sie plötzlich seiner Gisela ähnlich.

Dann bat sie: »Trag mich hinunter, Harro, bitte... Lebewohl, Mama...«

Harro küßte die Hand der Fürstin und murmelte etwas Teilnehmendes, und dann brachte er seine Rose wieder zu ihrem Stuhl. »Es hat dich angegriffen, ich hätte es nicht tun dürfen, Rose.«

Sie war sehr blaß geworden und sagte: »Harro, muß man nicht das innigste Mitleid haben, wenn man sich Mama noch vor einem Jahre denkt? Oh, ihr müßt Geduld mit ihr haben und sie hinter ihrer Glastüre nicht ganz verlassen.«

Er nickte und sagte: »Rose, sie muß etwas Fürchterliches erlebt haben, von dem wir nichts wissen... Etwas, was sie ganz zerbrochen hat. Entsetzlich, so ein zerbrochener Mensch. Glaube mir, Rose, sie hat eine Schuld auf dem Gewissen ...«

Die Rose schwieg, und er war froh, daß sie nicht weiter darüber sprach.

Für den Park hatte man einen ganz leichten Wagen mit einem Pony bespannt, damit konnte man fast alle Wege fahren, nur mußte man stets auf die Nordseite zurückkehren, weil nach Süden Terrassen mit ihren Steintreppen lagen.

Harro nahm die Zügel über den Arm und schritt nebenher. Wie eine blasse Königin saß sie in ihren Kissen, ein blauer Samtkragen um ihre Schultern. Der gut gezogene Pony ging in langsamem Schritt und blieb sofort stehen, wenn man es verlangte. Es war noch gar kein Frost gekommen, trotzdem es Ende Oktober war, und die Blumenbeete standen noch in üppiger Fülle. Auf der Rosenterrasse blühten noch die Rosen, zwischen den Spalieren, die die alten Mauern bis oben verdeckten, glühten die Kapuziner in reicher Pracht. Und ein Duft von Herbstveilchen erfüllte die Luft...

Sie schwiegen beide, und doch redeten ihre Seelen miteinander. Dort auf die Steinplatten, die die Mauerkrönung bildeten, hatte der Ruinengraf einst das Seelchen gestellt und an seiner Hand nun plötzlich zu seiner Augenhöhe emporgehoben, hatte sie den wundervollen schwindligen Gang machen dürfen, wobei man sich einbilden konnte, man könne unmittelbar in das Tal hinunterfallen bis zu dem Silberfluß. Dort an jener Stelle, wo die steile Steintreppe mit ihrem Efeugeranke zur Brücke hinaufführte, hatte das Seelchen am Abend ihrer Konfirmation Abschied genommen von dem Freund.

Ihre Augen treffen sich und sie lächelt. Nein, sie wird nicht ohne ihren Harro zu den seligen Gärten kommen... nun ist es fest und stark im Feuer der Trübsal geglüht und gehämmert, das goldene Band. Der Winterwald taucht vor ihr auf, das goldene Tor, die himmlischen Rosenkränze. Geht er nicht sehr schnell, der Pony? Man muß ein wenig halten. So schnell wie das alles vorübergeht. Hielt sie nicht eben noch die Hand des fremden Mannes in ihrer Kinderhand, und in unendlicher Ferne lag das goldene Tor... und nun ist sie schon so nahe... O du schöne geliebte Heimaterde, du silberner Fluß im Tal, ihr goldroten Waldberge, du altes Mauerwerk, du Kapellenturm dort über der Efeuwand. –

Sehr blaß ist die Rose, es ist keine Rose so blaß in ihres Vaters Garten. »Rose,« seufzte er... »Es hat dich zu müde gemacht ... all die Menschen... und nun müssen wir die Runde machen. Bis zum Mauerpförtchen, und dann trag ich dich die äußere Treppe zum Lindenstamm hinauf.«

Von der Brüstung unter der Sonnenuhr herab hört man den kleinen Heinz lachen. »Soll ich ihn dir holen, Rose?«

Sie schüttelt. »Nein, Harro, er ist so froh; du mußt ihn bald auch auf die Steinplatten heben, daß er da so groß wird und meint, er fliege über dem Tal... wir wollen weiter, Harro.«

Es kommt der Rebengang, auf den die Sonne nun nicht mehr die schönen blanken Flecken wirft, er ist schon fast kahl, nur einzelne glutrote Blätter hängen noch daran. Und nun kommt der tiefe Kastanienschatten unter dem Lindenstamm. Da liegt der Boden voll goldener Blätter und immer neue senken sich in sanften Kreisen herab wie große müde Falter. Und nun wendet sich der Weg nach Norden, wo der Wald bis fast zu den Schloßmauern heransteigt. Dort die Buche ist ein flammender Goldberg zwischen den dunkeln Tannen. Es senkt sich ein smaragdgrüner Rasen den Berg hinab, der noch beperlt ist vom Tau, der rote Turm hat hier seinen trotzigen Fuß in den Felsen gestemmt, aus dem er herauswächst, die Blume des Steins. Sein Helmbusch schneidet in den tiefblauen Himmel, und die Dohlen und Krähen umfliegen ihn, er hütet seine Geheimnisse. Überall rauschen und knistern die Blätter herab.

Dort blüht noch ein fremdes Wunderbäumchen im rosa Federschmuck. Die Rose deutet mit der Hand dahin: »Das liebe Bäumchen tut, als wäre nicht Sterbenszeit, und schmückt sich wie zum Feste. Du liebes Bäumchen, gib mir doch einen Zweig von dir.«

Er schneidet ihr eine der feinen rosa Ruten ab und sie hält die in ihren schmalen weißen Händen... und drückt ihre blassen Lippen auf die Blüten. Plötzlich lächelt sie fein und eigen.

»Was ist's Rose,« fragt er. »Woran denkst du?«

»An die alten Braunecker, und wie die ihre Heimat so lieben, daß sie die himmlischen Gärten verlassen mögen und gerne hier an den alten Mauern hinstreichen. Als ich ein Kind war, sah ich ja manchen von ihnen ... Harro, ich glaube, die alte Erde, die blut- und tränenbefleckte, sie hält ihre Kinder doch fest.«

»Für mich ist diese Erde schön genug, ich sehe mich ja erst in sie hinein,« sagte Harro. »Jeder Frühling ist schöner als der letzte, jeder Herbst ist goldener. War es je so schön wie heute, hast du je solche Glut der Farben, solche blauduftige Ferne, solche smaragdenen Wiesenflächen gesehen? Mir hat es die Gottheit schön genug gemacht und ich begehre nichts Besseres. Und nun komm, Liebste, von hier an trage ich dich...«

Er nahm sie auf seine Arme und gab dem Pony einen kleinen Schlag: das wohlgezogene Tier würde allein in seinen Stall trotten.

»Bin ich denn nicht zu schwer für dich, den ganzen Weg, Harro?«

»Wenn du deinen Arm um meinen Hals legen kannst, so trage ich dich bis zum Thorstein, wenn du wolltest. Du bist leichter geworden, Rose...«

»Nun, dann drück ich dich nicht schwer, Harro; es war doch bedenklich, daß du mich gleich an jenem Weihnachtsabend auf den Arm nehmen mußtest, was hast du mich schleppen müssen!«

Er sah auf sie herab, wie er mit ihr den schmalen steilen Weg zwischen den dunkeln Riesentannen hinschritt, der zum Mauerpförtchen führte. Da gähnt die finstere Höhlung, einen Augenblick stehen sie noch davor unter den dunkeln Stämmen, dann verschlingt sie das Dunkel und der Park sieht sie nicht mehr.

»Sag etwas ganz Schönes und Liebes, Rose,« flüsterte er, »daß ich fühle, wie du weißt, wie gerne ich dich getragen habe. Weißt du es?«

»Doch, ich weiß es, Harro, du hast mich getragen wie der Riese Christoph im Dom zu Erfurt das Christkind. Ist das nun recht?«

Er lächelt. »Ich wußte, du findest immer das Schönste.«

Und nun legt er sie auf ihren Stuhl unter der goldenen Linde auf dem Lindenstamm.

»Es ist noch so schön warm, Rose. Es wird dir so wohl tun, wenn du hier ruhen kannst.«

Er bettet sie in ihre vielfarbigen Kissen und zieht die leichte Seide um ihre schlanke Gestalt zurecht. Dabei berühren seine Hände ihre Füße in den zarten offenen Goldschuhen. »Kalt, Rose, bist du, ich hole dir eine Decke.«

»Nein, Lieber, du weißt nicht, wie das drückt, so schwer.«

»Rose, sie sind aber kalt, eiskalt, deine Füße.«

»Ach, laß sie kalt sein, sie schmerzen doch nicht mehr.«

»Taten sie das? Deine armen geliebten Füße.«

»Ja,« sagt sie fast feierlich, »die haben auch gelitten. Nun geben sie Ruhe. Laß sie mir. Daß sie nicht wieder anfangen.« So muß er sie lassen. Sie sieht aus, als wolle sie einschlafen: er denkt, wenn sie schläft, werde ich sie zudecken.

»Ich bin müde, Harro... So müde, und du nimmst mich in deinen Arm. Ach sieh, da kommen die schönen Blätter.« Sie sieht lächelnd hinauf zu ihrer Linde. Wie die Blätter sich lösen und drehen und herabgleiten in der stillen Luft und auf ihr glänzendes Gewand fallen. »Ganz schläfrig wird man bei dem Zusehen.«

Und wie schön hält er sie in seinem Arm. »Wie ruhig ist sie nun,« denkt er, »und dieser fürchterliche Sturm heute nacht. Und das wird ja wieder kommen, es muß, wieder und wieder, bis die letzte Kraft erschöpft ist. Allmählich wird er lernen, ruhig daneben zu stehen und vielleicht stumpft er sich sogar ab... Wird der Schleier der Gisela immer bereit sein?... Das Unfaßbare, das man nicht befehlen, nicht erflehen kann, auf das man in Demut warten muß?«

Und nun schläft sie wirklich ein, aber plötzlich öffnet sie wieder ihre Augen, die sind schon ganz voll Schlaf.

»Es war so schön bei dir, Harro,« flüstert sie, »unter dem Schleier der Gisela.«

Er glaubte, sie spreche von seinem Bild. »Still, still, Liebste,« flüstert er, und seine Lippen berühren ihre kühle Stirn. »Schlafe jetzt.«

Und nun schläft sie wirklich. Aber ihr Haupt ist bald so an seine Brust gesunken, daß er seinen Arm nicht unter ihr wegzuziehen wagt, sie müßte aufwachen. Ihre kalten Füße deckt er ängstlich, und er hat sie wenigstens in den Saum ihres Kleides eingehüllt, aber sie muß sich gestreckt haben, nun scheinen sie wieder hervor. »Die goldenen Freudenschuhe.« Er seufzt bitterlich. »Was jetzt kommt, ist die Hölle,« denkt er. Sie schläft ihm auch zu tief. Wenn sie aufwacht, wird die Not angehen. Er muß dankbar sein für jeden Augenblick, den sie noch ruht. Tante Ulrike steht an der Glastüre, er winkt ihr ab. Und die Blätter tanzen von der Linde, bedecken die alten Steinplatten, die einst die Tränen der Hexe benetzt haben... Sie fallen auf das weiße Gewand, auf das blasse Goldhaar...

Da erscheint Ulrike wieder. Er winkt ihr, sie kommt mit vorsichtigen Schritten, aber die Blätter rauschen doch, darüber muß er die Stirn runzeln. Sie beugt sich und legt ihre Hand auf die Goldschuhe, sie zuckt zusammen, sie greift nach der herabhängenden Hand, der sanft gelösten, sie zittert...

»Harro, mein armer Harro, o mein armer Harro!« ruft sie mit einer Stimme, wie man sie nicht über Schlafende hingehen läßt. »O mein armer, armer Harro!«

Er fährt zusammen, er begreift – es ist, als ob sich eine eiskalte Hand auf sein Herz lege und es zusammenpresse. Er zieht seinen Arm unter ihr hervor, keinen Blick mehr wirft er nach ihr, er taumelt an die Steinbrüstung... da bricht er zusammen, den Kopf auf die Platten gelegt... Ein lähmendes, würgendes Entsetzen... ein Abgrund, an dem die Seele in entsetzliche Tiefen hinunterstarrt, tut sich ihm auf... Da berührt ihn die Hand seiner Tante.

»Harro, komm und sieh sie an. Komm, mein Sohn, mein armer Sohn... Es wird dir leichter.«

»Ich kann nicht,« stöhnt er, »nie wieder... nie wieder...«

»Du mußt, Lieber... du mußt sie sehen, du wirst sie dann nicht mehr in die Qual zurückreißen wollen.«

Da erhebt er sich taumelnd... sie legt ihre starken Arme um ihn... er drückt seinen Kopf an ihre Schulter, sie braucht ihre ganze Kraft, seine Last zu tragen.

Ein Krampf schüttelt ihn. »Laß,« flehte er, »nie wieder, nie wieder.«

»Sieh hin,« befiehlt sie.

Er stößt einen wilden Schmerzensschrei aus wie ein verwundetes Tier. Sie ringt fast mit ihm, und dann nimmt er die Hände vom Gesicht.

Da liegt still und feierlich seine Rose, ein letztes geheimnisvolles Lächeln auf den noch blaßroten Lippen, die Augen halb geschlossen, das schöne Haupt zur Seite geneigt... Von seinem Herzen fällt der Eisstein, der sich darauf gelegt... es ist ihm, als werde er plötzlich aus dem Höllenschlund gehoben und an einen Ort gebracht, wo die sanfte Stille der Ewigkeit weht.

»Harro, mein Sohn... Sie ruhen von ihren Werken, keine Qual rührt sie an... Wie hast du sie glücklich gemacht, deine Rose. In deinen Armen, sieh ihr letztes Lächeln... So hast du sie getragen zu ihren himmlischen Gärten.« »Meine Rose, meine Rose,« flüstert er, und da fällt sanft und geheimnisvoll der Schleier der Gisela über ihn – – –

Die Rose hat recht gehabt. Die alte Braunecker Zeremonialkutsche rollt ihren Gang in den alten ausgefahrenen Gleisen. Niemand stört den Mann dort an dem stillen Lager, an dem er steht, niemand fragt ihn; Fräulein Berger tut ihre Schuldigkeit. Wenn die andern kommen, so geht er so lange hinüber in das große leere Zimmer, wo die alten Säulen stehen. Dort sitzt der Märt an einen Säulenknauf gelehnt, sein altes Gesangbuch in der Hand, seinen struppigen Kopf tief darüber gebeugt.

Und wie der Morgen graut, steht ein schmaler weißer Sarg da unter der mittleren Säule.

»Märt,« es ist das erste Wort, das er spricht... »Hilf mir.«

Der steht auf, seine Lippen bewegen sich... Die beiden Männer tragen zum letztenmal die Rose.

In ihrem Schlafzimmer auf ihrem Bette liegt sie, sie haben ihr das silberne Gewand angezogen und von dem goldenen Haupte geht unter der alten Spange ein weißer Schleier hervor und windet sich über Hals und Schultern. Ganz allein hebt Harro sie und trägt sie auf ihr letztes Lager. Und seine Künstlerhände tun noch einmal ihr Werk. Einen Kranz von weißen Rosen, kühl und frisch, legt er auf ihr Haupt, er streicht über die Falten ihres Gewandes, er legt ihr die Hände unter die Brust, so wie sie oft lagen in ihrer Leidenszeit. Es wären Höllenschmerzen, die er litte, wenn der Schleier der Gisela nicht wäre.

»Märt,« flüstert er, »ehe das Leben wach wird... Wir tragen sie hinunter.«

Und wieder schleppen sie. Kein Mensch ist noch auf, ein kalter Hauch, ein Seufzerwehen fährt durch die Galerie... Die Kapelle steht offen, an den Wanden hängen die schwarzen Tücher, am Boden erglänzt das Kreuz. Ein starker Blumenduft weht ihnen entgegen, von Rosen, von vielen, vielen Rosen.

»Märt,« sagt er, »halt die Wache,« und er geht hinauf. Am Nachmittag dürfen sie kommen, die die Rose von Brauneck geliebt haben und die mit ihrem Vater trauern wollen.

Nun ist das geheimnisvolle Lächeln von ihrem Antlitz verschwunden. Es ist eine marmorblasse junge Königin, die da liegt unter ihrem Rosenkranze in ihrem Silbergewand, und sie sieht nun der Gisela auf seinem Bilde ähnlich. Den Brautring der Braunecker haben sie ihr gelassen und sein blauer Zauberstein leuchtet an ihrer Hand. Über ihren Knien liegt ein Zweig von dem Wunderbaum, der vor dem Sterben blühte.

Während sie alle an ihr vorübergehen, die paar Stunden lang, steht Harro an ihrer Seite als ihr getreuer Wächter und Beschützer. Niemand redet mit ihm... wie eine Bildsäule steht er da. Sein Gesicht ist wie aus Erz.

Nun sind alle gegangen, und der Fürst kommt herein. Er ist schon oft dagewesen, nun, da alle fort sind, kommt er wieder.

Harro hebt seine schweren Augen zu ihm auf. »Vater,« sagt er leise, »sieh sie dir noch einmal an.«

Der Fürst zuckt zusammen. »Du willst schon ...?«

»Sie schläft noch, Vater. Heute morgen hat sie sich noch zurechtgelegt. Sieh, die Hand, sie sank ein wenig herab... Willst du warten, bis sie tot ist? Und ich kann sie auch nicht vorher verlassen, bis wir das letzte an ihr getan haben...«

Der Fürst nickt, schweigend stehn sie da, draußen verglüht der Abendhimmel und der Schein fällt auf die weißen Rosenkränze und auf ihr Antlitz. Und nun senken sich die Schatten, der Fürst wendet sich, einen Blick, einen letzten... dann geht er hinaus. Das Kind hat man die Mutter nicht mehr sehen lassen.

Nun ist Harro allein. Ein tiefer Atemzug hebt seine Brust... Seine Augen ruhen auf ihr, daß das Bild sich einbrennt auf dem Grunde der Seele... Dann ruft er seinem Knecht, der steht vor der Türe. »Das letzte, Märt.« Nein, das kann er nicht. Und der Knecht legt den Deckel über seine schöne strahlende junge Herrin.

»Bleibe du bei ihr, Märt, bis alles vorüber ist.«

Dann geht er langsam hinauf. Die Glocken läuten von der Höhe und aus dem Tale, ein weicher grauer Nebel hängt auf dem alten Städtchen mit seinen schmalen, hochgiebligen Häusern. Die Spitze des Kirchturms verschwindet in den grauen Schleiern. Die Straßen sind voll dunkelgekleideter Menschen, und nur aus der Kirche bricht ein goldenes warmes Licht. Dort hinein tragen sechs Förster die Rose von Brauneck. Und wie sie die Schwelle überschreiten, fluten ihnen Klänge voll himmlischen Wohllauts entgegen. Hans Friedrich sitzt auf der Orgel, läßt seine Liebe, seine Trauer, seine Hoffnung in mächtigen Akkorden dahinströmen, und nun erhebt sich aus dem herrlichen Tongefüge großartig und lieblich, freudevoll dahinstürmend und jubelnd die Wundermelodie des Herrgottsnarren:

Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt Gott, ich wär in dir...
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat
Und ist nicht mehr bei mir...

Harros Augen leuchten auf, seine sehenden Augen... Oh, wie köstlich ist der Schleier der Gisela... Er sieht sie vor sich, die himmlische Stadt. Die seligen Chöre jubeln, die lieblichen Knabenstimmen, die jetzt die Melodie aufnehmen... Es grüßen über den Wällen die Bäume der himmlischen Gärten ... Seine Rose, seine geliebte Rose, sie wirft den starren, eisigen Schlummer von sich... Oh, wie ihre holden Augen leuchten, wie der Rosenschein auf ihren Wangen liegt.

Was für ein Volk, was für ein' edle Schar
Kommt dort gezogen schon?
Was in der Welt von Auserwählten war,
Seh ich, die beste Kron,
Die Jesus mir, der Herre,
Entgegen hat gesandt. – – –

Oh, darum hast du deine goldnen Schuhe angezogen, deine Freudenschuhe, du schweigende Seele. Weil du ihm entgegengingst, den du geliebt hast von deiner Kindheit an.

Wie lieblich die himmlischen Melodien nun rauschen:

Mit Jubelklang, mit Instrumenten schön,
In Chören ohne Zahl,
Daß von dem Schall und von dem süßen Ton
Sich regt der Freudensaal!

Unzerreißbar fest gehämmert ist das goldene Band von jener Christnacht im Winterwald. In ihren seligen Händen dort an den Toren hält sie sein Ende...

Nun spricht ihr Lehrer. Oh, die feinen, gütigen Worte. Welch ein holdes Bild malt er von ihr in wenig Strichen. Die das Schönste ihrer Seele in Geheimnissen verbarg... Hat er sie denn so gut gekannt? Oder weiß er noch ein Letztes von ihr, der Geheimnisträger dort? ...

Er hämmert nicht auf ihrem Schmerze herum, der weise Mann dort, die Priesterseele, er zeichnet ihnen den lichten Pfad zur Höhe, den die Rose von Brauneck gegangen.

Von der Orgel ertönt des alten Bach großartiger Choral:

In meines Herzens Grunde
Dein Nam und Kreuz allein
Funkelt all Zeit und Stunde,
Drauf kann ich fröhlich sein...

Nun ist das Goldlicht in der Kirche erloschen, die Melodien sind verklungen, die tiefe, sternlose Nacht hat sich herabgesenkt. Der Fürst sitzt, ein grauer, gebeugter Mann, in seiner Sommerstube vor dem Bilde des Seelchens. Da ertönt ein Schritt, er fährt auf: »Du bist's, Harro? Wir ängstigten uns um dich. Gott sei Dank, daß du da bist.«

Harros Augen blendet das Licht noch... es ist ein Geruch von feuchtem Herbstwald und nassem Moos um ihn... er hat seine Lodenjacke an, und in seinen grauen Haaren hängen ein paar Flöckchen von dürren Blättern. Der Ruinengraf wieder, nur älter und mit einem ganz andern Blick in den Augen. Er setzt sich auf den breiten Lederdiwan nieder und sagt freundlich:

»Ich wollte dich noch nicht allein lassen heute abend, Vater.«

»Es ist mir so sehr lieb, daß du kommst, Harro, sehr lieb, ich bin allein...« Der Fürst stockt... »Nein, das will ich nicht sagen, auch nicht in meinem Schmerz bin ich allein. Wie sie alle mit mir trauerten. Wer am allerverzweifeltsten war, am herzbrechendsten, das ahnst du nicht, Harro: Charlotte... Sie hat nichts gegessen die Tage, sie liegt nur auf ihrem Gesicht und weint. Sie warf sich heute vor mir auf den Boden. Reden konnte sie nicht vor Schluchzen.«

»Es wundert mich doch nicht, Vater, daß sie um die Rose trauert. Irgendwie muß die Rose doch endlich ihr Herz gewonnen haben. Ich sah sie noch zuletzt zusammen... Wir müssen für sie tun, was wir können, Vater, die Rose sah mich über ihren armen, jammervollen Kopf hinweg so gebietend an, wir müssen ihr da auch den Willen tun, Vater.« Harro lächelte ein wenig. »Sie ist eine Tyrannin, die Rose, und wir fahren doch am besten, wenn wir uns nicht so sehr gegen sie sträuben.«

Wie wohl dem Vater die Worte tun, wie wohl. Und er erhebt sich und setzt sich neben Harro auf den alten Diwan... »Harro, laß mich dir danken. Laß mich dir noch einmal danken. Sieh, wie das Seelchen lächelt. Das Lächeln hast du sie gelehrt. Es geht auf dich, der du vor ihr saßest und sie maltest... Es lag noch auf ihrem Antlitz, als sie auf dem Lindenstamm lag unter den gelben Blättern. Ihre Linde, als wollte die sie einhüllen... Sie glaubte ja an die Seele ihrer Linde... Harro, wenn die alte Linde im Frühjahr nicht wieder grünt, so wird es mich nicht wundern... Und dann hab ich dir noch etwas zu sagen, Harro. Die Rose hat ein Testament gemacht. In der größten Heimlichkeit. Alfred und der Herr Rat haben ihr dabei geholfen.«

Harro lächelte wieder ein wenig. Er kann sich das Testament der Rose denken... »Und hat alles mir vermacht, Vater.«

»Nicht alles, eine ziemlich große Summe hat sie ausgenommen. Sie muß sich eine schreckliche Mühe mit Rechnen gegeben haben: du weißt, sie konnte ja so schlecht rechnen. Dann hat sie gewünscht, – Hans Friedrich sagte mir das – du solltest den Winter nach Rom gehen, und er solle dich begleiten. Er hätte schon eine Wohnung für dich durch einen Freund mieten müssen.«

Harro fuhr auf. »Ich will nicht fort. Ich kann nicht. Ich muß hier bleiben, da in den alten Mauern, die Thorsteiner lieben doch ihre Heimat so sehr, ich muß... und dann... Sei nicht so tyrannisch, Rose.«

»Lieber Harro, höre sie einmal an. Ich kann dich verstehen, ich kann dich sehr gut verstehen. Ich glaube, es hängt mit ihrem Testament zusammen. Sie wünscht, du mögest ihr ein Grabmal bauen. Sie gibt Anweisungen, wie sie es sich denkt... Sie spricht von pentelischem Marmor. Ich habe keine Ahnung, was das wohl sein kann.«

Harro starrt vor sich hin, seine Augen weiten sich, auf seinen eingefallenen Wangen brennen zwei rote Flecken... dann spricht er hastig... »Aber ja, Vater, sie kann ja nicht da unten bleiben... unmöglich kann sie das. Sie muß den Wald rauschen hören. Vater, du gibst mir den Part von Lindenborn dazu; deine Hirsche, können die nicht wo anders sein ... o dann, wir machen es ... daß sie nicht stören. Die alten herrlichen Eichen und Tannen, die Allee von hundertjährigen Linden, die darauf zuführt... Die Wasserfläche, wir graben sie aus, wir leiten Quellen herein... Nun mögen die Hirsche da außen wandeln. Wir pflanzen Rosen um die Insel. Die weiße offene Halle spiegelt sich in dem Wasser. Ach, sie wollte ja nicht in dem Goldhaus wohnen, das ich für sie gebaut habe... Nun muß ich ihr doch wieder eine Stätte bereiten.«

Er reißt ein Blatt aus seinem alten Skizzenbuche, das immer in seiner Lodenjacke steckt. »Sieh, Vater, so...« er kritzelt mit dem Bleistift eilige Striche... »Sieh die Halle. Ich werde mich daran halten müssen. Ich muß wieder anfangen, ganz von vorne... Eine Riesenarbeit, Vater. Ich muß doch das meiste mit meinen eigenen Händen machen. Jetzt mögen sie ja rauh und eisern werden, ich habe über kein Goldhaar und keine rosenzarte Haut mehr zu streichen. Ich gehe morgen nach Rom. Das Kind laß ich dir, Vater. Ich kann dir nicht alles nehmen. Wenn du es vermagst und ich mich eingerichtet habe, so schickst du es mir vielleicht... In der offenen Halle das Bildwerk. Aus pentelischem Marmor. Wenn die Rose auch ein paar Rechenfehler gemacht hat, ich mache es wie ihr guter Herr Kantor und sorge schon, daß es stimmt. Das Bildwerk... Vater. Es benimmt mir schier den Atem... Ich will mich an das Allergrößte wagen. Ich nehme die Form, die die Alten, die mehr von frommen Dingen wußten als ich, geliebt haben. Sie müssen ja gewußt haben, wie tröstlich es ist. Und ich wage mich an das Allerhöchste. Woher ich die Kühnheit nehme, weih ich nicht... doch ich weiß es vielleicht... Jesus am Kreuz!... Er schaut herab auf den Mann und das Weib: Du sollst deine Rose wiedersehen, ich vergesse sie nicht... Wie sie auf dem Lindenstamm lag unter den goldenen Blättern. Das geheimnisvolle Lächeln, die selige Rose... Auch von ihr ist alles Zufällige abgestreift. Sie war ja schon wie zarter Marmor. Ich trage sie in meinen Armen. Zu ihm sehe ich auf. Nur wenn ich zu ihm aufsehe, kann ich das Opfer bringen. Meine Rose, meine geliebte Rose.« Er legte seinen Kopf auf die Schulter des Vaters und schluchzte laut auf... »O meine Rose... Mein blauer Himmel...«

Dann hob er den Kopf: »Vater,« sagte er fast kindlich. »Ich mache gar nicht den wilden Thorsteiner, den Harro, wie er sich hier so ungeduldig gebärdet. Ich nehme den über und über vergoldeten Harro, wie ihn die Rose in ihrer Seele trug. Den Gedanken Gottes in mir. Sonst wäre er ja nicht wert, die Rose zu tragen. Ich suche nach dem Bild... Du darfst mich nicht loben, Vater, daß ich gut gegen sie gewesen bin... aber mochte ich sein wie ich wollte, die Rose malte weiter an ihrem Bild.«

»Harro, mein Sohn,« schluchzte der Fürst. »Wie dank ich Gott dafür, daß ich dich noch habe. Ich komme auch nach Rom mit dem Kind ... Ich störe dich nicht... Wie hab' ich mich gefürchtet vor deinem wilden Schmerz. Und nun all die Tage, heute in der Kirche, Harro. Ich sah dich an, du hast uns hinübergetragen ... Wie hast du's gekonnt?«

Er hob sein Haupt, und seine herrlichen Augen hingen an dem Bilde des Seelchens. »Vater,« flüsterte er, »die Rose hatte Geheimnisse. Hörtest du nicht, wie ihr Lehrer sagte... Vielleicht war sie noch schöner, als wir wissen. Ihr Vermächtnis... Es war ihr letztes Wort... Ich verstand es nur nicht... ihr ganzes Leben ist darunter gegangen, unter dem Schleier der Gisela.«

Ende.

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