Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Fünfundvierzigstes Kapitel: Das schönste Bild

Friedrich stand vor einer Malvenstaude im Garten, die ihre dunkelrote Blumensäule gegen den blauen Himmel abhob. Eine ganze lange Reihe der stolzen Blumen begleitete den Weg und warf ihre spitzen Schatten auf den graugoldenen Sand. Grünlich weiß und brennend purpurrot und rosa waren die Blüten, die sich so fest mit den runden Gesichtern an den graugrünen Stamm drückten.

Harro legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es sind Bauernblumen, Hans, aber wir lieben sie sehr, die Rose und ich.«

»Sie kommen mir fürstlich und stolz vor,« sagte Hans. »Ja, sie prachtieren, stehen so schön die ganze Reihe entlang, als wären sie Herolde, wenn die Königin kommt.«

»Sie warten vergeblich, Hans. Sie kommt nicht mehr, die Königin:«

Der Künstler sah zu seinem Freund auf und rief: »O Harro, du hast wieder deine schönen Augen! Es geht dir besser.«

»Ich habe mich ausgetobt für eine Weile, aber man muß behutsam sein, daß die Höllenhunde nicht wieder los werden, so ganz zu trauen ist ihnen nicht. Du sollst auch zu Ihrer Durchlaucht kommen, – ich muß so höflich sein, wenn du so höflich bist. Es brennt ihr etwas auf dem Herzen. Laß es dir sagen und muckse nicht, wenn du mich vom Kopf bis zu den Füßen vergoldet präsentiert bekommst. Du mußt versuchen, gläubig zu lächeln und zu schwören, das Porträt wäre äußerst ähnlich. Sonst befriedigst du nicht. Übrigens bin ich gestern ein großer Narr gewesen. Ich mußte doch sehen, daß der Rose sehr viel an dem Lied liegt. Sie strahlte ja ganz auf, und wer müßte nicht dankbar sein, daß ihr eine so große Freude kommt. Zudem ist es auch eine Heuchelei, wenn wir so tun, als wäre sie durch unsere Verbotskünste vor Leiden zu bewahren, wenn mir doch wissen, daß sie hindurch muß.« Der Künstler ging hinein. Ach, heute am Morgen sah man wohl, wie zart sie geworden war. Aber ihre Augen waren herrlich, und die feine Farbe kam und ging auf ihrem Antlitz.

»Haben Sie auch gesehen, daß es meinem Mann heute ein wenig besser geht?« fragte sie ihn.

Er bestätigte es mit großem Nachdruck und versuchte ihr von dem heutigen Besuche zu erzählen, den er bei ihrem Vater machen werde, um ihm über das Chorwerk Bericht zu erstatten. Aber sie schien sich dafür nun gar nicht mehr zu interessieren und dann begann sie:

»Herr Friedrich, ich habe gestern vor Ihnen ein Wort gesagt, das mich sehr unglücklich macht. Ich bin ungeduldig und reizbar gewesen und habe eine sehr notwendige und liebevolle Ermahnung Harros mit einer häßlichen Kränkung erwidert.«

»Durchlaucht, Harros große Sorge um Sie hat ihn geleitet. Er wollte gewiß kein Freudenstörer sein, und man weiß ja nie vorher, wie eine Musik, die doch nicht ganz einfach ist, wie die meinige, auf zarte Nerven wirkt,« erwiderte Hans Friedrich seiner Instruktion gemäß.

»Sie haben recht, gewiß, und Harro ist immer so gütig und geduldig mit mir und nur für mich besorgt, deshalb war es doppelt häßlich von mir. Ich begreife mich gar nicht. Harro ist die Güte selbst gegen mich und die zarteste Rücksicht, und wenn er jetzt großen Kummer hat, so ist's auch nur um meinetwillen. Und dann kränke ich ihn ohne Ursache. So sieht meine Dankbarkeit aus. Ich schäme mich den ganzen Morgen, bitter schäme ich mich. Sie haben mich alle mit ihrer Liebe zu sehr verwöhnt. Mein Mann zuerst, dann mein Vater und die Leute.«

»Grämen Sie sich nicht mehr, Frau Gräfin, ich glaube gewiß, Harro hat es verwunden.«

»Oh, glauben Sie? Aber er wird vielleicht doch, wenn er etwas sagen muß, darauf warten, ob ich nicht wieder auffahre.«

Hans Friedrich ertrug seine Rolle nicht mehr länger. Die Königin demütigte sich in den Staub vor ihm... Er wurde ganz rot und rief: »Harro mußte doch fühlen, daß das Lied eine besondere Bedeutung für Sie hatte.« Aber er kam sehr schlecht an. »Gewiß fühlte er das, und gerade darum mußte er fürchten, es schade mir. Je öfter ich in den Spiegel sehe, je häßlicher bin ich.« Harro lehnte plötzlich an der offenen Tür: »Häßlich, wer ist häßlich?«

»Ich, Harro. Und ich hätte es so nötig, daß ich schöner würde. Ich will doch von dir gemalt sein. Es ist schlimm genug, wenn die Leute krank sind und jedermann mit ihnen Last und Kummer hat und dafür sind sie auch noch reizbar und ausfallend.«

»Ja,« meinte Harro ernsthaft, »es gibt schlimme Dornrosen.«

Über ihre Wangen liefen schnelle Tränen. »Es ist sehr traurig, daß es die gibt und sie sich zu ihren alten immer neue Dornen wachsen lassen. Sie zerstechen sich selbst damit am härtesten.«

Über Harros Gesicht zuckte es und er wandte sich an Hans Friedrich, der nun ganz blaß geworden war von den Tränen auf den Wangen der Königin und aussah, als ob er mitweinen möchte.

»Hänschen, hat sie meiner gekränkten Ehre nun genug getan? Du siehst ganz elend von unserem ehelichen Kriege aus.«

Hans Friedrich nickte: »Ja, lieber Harro, nur mit dem Unterschied gegen sonst, daß jeder sich selbst mit Vorwürfen überhäuft anstatt den andern Teil. Und Harro, du bist im Nachteil, so viel Schlimmes hast du nicht von dir gesagt wie Frau Königin von sich. Ich konnte es nur mit anhören, weil du mich vorher instruiert hattest.«

»Was, Verrat!« rief Harro, »jetzt hinaus, Verräter.«

Er marschierte mit ihm hinaus und sagte leise: »Es hat dich angegriffen, Hänschen, aber du mußtest auch dein Teil haben.« Und er streckte seine langen Arme aus. »Oh, von der Süßigkeit, der Süßigkeit, die sich so grämt um ein einziges ungeduldiges Wort in der langen, harten Zeit. Es war das einzige, Hans, und denk einmal, wie meine Schale wohl hinunterziehen mag, wenn es ans Leiden geht. Und Hänschen, der Fürst behält dich zum Diner; vergiß aber nicht, daß du uns heute abend das schönste Lied schuldig bist! Komme ja nicht zu spät!« Dann kehrte Harro wieder zurück und setzte sich neben seine Frau, nahm ihre Hand und sagte: »Ich verbiete jetzt übrigens, daß du die Rose noch länger quälst. Meine Rose. Sie muß jetzt getröstet werden und darf kein bitteres Tränensalz mehr auf ihre zarten Blätter bekommen.«

Rosmarie sah ihn an. »Du mußt mir nun doch einmal den Herrn Stiftsprediger kommen lassen, Harro. Ich muß mit ihm reden. Ich muß ihm beichten. Ich habe große Worte gebraucht und dann bin ich nachher so jämmerlich klein daneben.«

»Rose, wenn du noch länger an dem Wort von gestern hängen bleibst, was soll ich sagen? Und es ist krankhaft, Rose. Warum brauchst du einen fremden Menschen? Du weißt, ich lasse nicht sehr gerne jemand in meinen Rosengarten hineinsehen. Und auch noch in sein innerstes Heiligtum. Du weißt alles viel besser selbst. Hänschen, der darf schon über den Zaun sehen. Er tut es mit der nötigen Liebe, dringt auch nicht weiter in dich. So wird der geistliche Herr nicht sein. Ja ja, ich weiß. Er ist eine Ausnahme und die Vollkommenheit selbst. Aber schon von Amts wegen wird er sich nicht mit einem Blick über den Zaun begnügen. Er wird sehen wollen, ob deine Rosen auch schön angebunden sind und ob es auch die rechte Sorte ist. Wenn er einmal drinnen ist, kannst du es ihm nicht verbieten ... Nein, mein verschwiegenstes, mein sonnigstes, mein duftendes und blühendes letztes Herzenseckchen will ich für mich haben. Da kann ich keine fremden Schritte drin brauchen.«

Die Rose seufzte ganz leise. »Harro, ich hätte einen Wunsch, einen stillen, großen, brennenden Wunsch, und den zu erfüllen geht nicht ohne den Herrn Stiftsprediger. Ich sage ihn dir heute nacht, wann das Licht fort ist und du noch bei mir bist und ich deine Hand halten darf.«

Harro runzelte die Stirn. »Rose,« sagte er, »warum muß das nun sein? Sieh, was du mir von göttlichen Dingen sagst, das blüht aus dir heraus, das hast du dir ganz allein vom Himmel herunter geholt. Dieser gute Mann, ja ich weiß, er ist ein guter Mann, wird bald einen großen Einfluß auf dich bekommen. Was du mir dann sagst, sind nicht weiße und goldene Lilien aus einem verborgenen Grunde, es ist kirchlich approbierte Weisheit. Ich bin für das Selbstgewachsene in diesen Dingen. Und wenn ich dächte, daß mein Fall diagnostiziert würde?«

»Harro!« bat Rosmarie.

»Nun ja, sehr naheliegend für den geistlichen Herrn und dich, Rose.«

»Lieber Harro, ich verlange es auch nicht mehr ...«

Er ging wieder in die offene Tür und schaute hinaus. – Oh, wie sie es schmerzte, seine Hände so herabhängen zu sehen. Diese schlaffen Schultern, das silberne Schimmern auf seinem Haar. Nun fing seine Unruhe schon wieder an, sie merkte es an seiner Abweisung ihrer Bitte. Wenn er den ganzen Tag so neben ihr stand, das hielten ihre Kräfte nicht aus. Und schickte sie ihn fort, so würde er wieder in die Wälder gehen und das suchen, was er dort niemals finden würde. Wenn er nicht arbeitet, denkt sie, dann ist er bis heute abend wieder so krank wie gestern... Und sie überzählte, wie lang er nun schon müßig war. Eigentlich von jenem Maiabend an. Und sie ballte ihre feinen Hände. »Ich muß hartnäckig sein wie nie.«

»Harro,« bat sie, »ich möchte gern ins Atelier hinüber. Willst du mir helfen oder soll ich nach Märt klingeln?«

Harro wandte sich nicht um. »Die Terrasse ist viel besser für dich als das staubige Atelier.«

»Es ist nicht staubig, Harro. Es ist wunderschön rein gemacht worden.«

Unten lief klein Heinz vorüber und rief seinem Alo.

Harro wandte sich um. »Soll ich ihn dir bringen?«

»Nein, Harro, danke, jetzt nicht.«

Er biß die Zähne zusammen und sagte: »Schließlich darf ich dir nicht immer nein sagen, ich werde Märt rufen.«

Im Atelier war alles schön zurecht gemacht, auf der Staffelei stand eine riesige leere Leinwand, kleine bespannte Blendrahmen jeden möglichen Formats lehnten daneben. Der große Kasten stand offen, die Pinsel, wundervoll gereinigt und weich, starrten aus dem niedrigen Rothenburger Krug. Die Glaswand in den Garten war zurückgezogen und der Sonnenschein lag in goldenen Tafeln auf dem Boden.

Harro sah sich erstaunt um. »Wer hat das gemacht?« »Es wird Märt gewesen sein.«

»So, Märt!«

Er drehte sich um zu ihr, die in einem gewöhnlichen Stuhl lag, wo er sie, wenn er arbeitete, sehen konnte. Es war ein erhöhter Tritt, der je nach dem Licht hin und her geschoben werden konnte und für gewöhnlich mit einem Teppich bedeckt war.

»Harro,« bat sie, »Vater wünscht so herzlich eine ganz kleine Skizze von mir. Sieh dort der kleinste Rahmen.«

»Er hat ja die Lindenprinzessin, ich habe vier Monate täglich daran gemalt. Er wird nicht erwarten können, daß eine Skizze, in meiner jetzigen Stimmung gemalt, ihn irgendwie befriedigen könnte.«

»Dem Herrn Professor hast du auch eine Skizze versprochen.«

»Er hat mir auch Dinge versprochen,« fiel Harro hitzig ein, »deine kleinen Spaziergänge zum Beispiel, während du in dieser Zeit nicht dazu gekommen bist, mit uns am Tisch zu sitzen. Wenn er mahnt, nur nach deinem ersten Spaziergang, Rose... eine sehr schöne Skizze gewiß ...«

»Lieber Harro, ich will dir eine Geschichte erzählen ...«

»Sehr gütig von dir, wirklich gütig, aber ich muß dich doch aufmerksam machen, daß du nach deiner, wie du sagst, guten Nacht, heute schon den ganzen Morgen sprichst, hin- und hergetragen wirst, dich erregst: Du mußt doch noch Kraft übrig haben für das schönste Lied heute abend. Ich begreife nicht, daß Tante Ulrike dich nicht schon längst zu sich genommen hat.«

Die Rose lachte ihm plötzlich ins Gesicht. »O Harro, du willst mich nur los sein? Es ist dir gar nicht darum, daß ich ruhe.«

Harros Stirn klärte sich auf. »Ei, daß du lachen kannst, das hast du lieb gemacht... Ja, ich will die Quälerin los sein und aus diesem Terpentinrevier hinauskommen.«

»Das Terpentinrevier, ach, das lieb ich so. Weißt du, als ich von dir getrennt war und ich roch es irgendwo, so stürzten mir die Tränen herunter. Der Duft war mir so unzertrennlich von dir!«

Harro saß vor ihr und ließ seine Hände herunterhängen. Sie bat: »Harro, geh an deine Staffelei, dort liegt die Kreide, und mache auf die große Leinwand einen Strich, einen einzigen der Länge und der Quere. Das kannst du mir zulieb tun.«

»Rose,« sagte er ernst, »kannst du dir nicht denken, daß ich nicht in der Laune für Spielereien sein kann.«

»Gut,« erwiderte die Rose, »dann wollen wir keine Spielereien treiben, sondern ernst und traurig sein. Weißt du, was klagende Bäume sind, Harro?«

Er sah sie erstaunt an. »Ja, das weiß ich... Und Reiher darüber wie schwere, sehnsüchtige Gedanken. Aber es ist kein Vordergrund da. Der Vordergrund müßte eine dunkle Wasserfläche sein, deren Ufer versteckt sind unter herabgefallenen Blättern, dunkelgrünen Blättern und dazwischen das Gewässer, wie Augen aus der Tiefe sieht es zwischen den Blätterinseln hervor...«

Rosmaries Herz klopfte wild. Wenn er jetzt nach seiner Kreide griffe. Zuckte nicht schon seine Hand danach? ... Nein, er ließ sie wieder hängen.

»Und vorn eine schmaler Streifen Land, da stehen die Asphodelosblüten, gelb, geheimnisvoll, wie Seelen aus dem Schmerzenswald,« fuhr sie fort.

Harro legte sich hinüber in seinen Stuhl und schloß die Augen. »So, ja so... keine Farbe weiter... nur das dunkle Grün und Blau der Bäume, die düsterbraunen Stämme.«

Plötzlich sah er wieder auf. Er erwischte den Blick seiner Frau, der mit unsäglichem Schmerz und Trauer an ihm hing. »Rose, was ist dir? Nein, so sollst du nicht aussehen. Du willst etwas... Was wolltest du doch... dir etwas zeichnen soll ich, und ich sage heute nein zu allem, was du bittest.«

Er nahm hastig die Kreide. Die Rose seufzte erleichtert. Er ging an seine Staffelei, und seine Kreide flog. Zuerst schienen es Bäume zu sein, dann Reiher im Fluge, dann wischte und strich er daran herum und zeichnete hastig die allersonderbarsten Dinge.

Seine Frau hatte er wohl ganz vergessen. Er drehte sich gar nicht mehr nach ihr um. Was für sonderbare Gebilde waren denn das... Die Umrisse eines Menschen... einer Frau, jetzt verwischte er es wieder, nur die sonderbaren Gebilde blieben stehen, dicke und dünne Stränge verbanden sie... immer wieder wischte er daran und verbesserte. Nun sah es aus, als schneide ein Skelett durch die Linien... Da begriff sie... So mochte wohl der Mensch von innen beschaffen sein, unter der schönen, freundlichen Decke der Haut. Und das unregelmäßige Ding dort, das mit den Strängen verbunden war, das war das Herz. Ihr Herz, wie es jetzt in ihrer Brust seinen ängstlichen, unruhigen, mühseligen Weg ging. Sie sah, daß er immer wieder an den Linien veränderte. Und eine kalte Angst ergriff sie. Ihr geliebter Mann war krank, sehr krank. Seine Wildheit gestern, sie war nicht ein plötzlicher Ausbruch gewesen seines Jammers und die Gedanken waren nicht zum erstenmal in ihm aufgestiegen, die schlugen vielleicht schon lange ihre wilden, finsteren Schwingen um sein Haupt. Und draußen lachte das Kind und glänzte der goldene Morgen, und Schmetterlinge aus der Sommerwelt verirrten sich herein, und Harro stand da und korrigierte an seinem Liniengewirr. Schon fünfmal stand der unregelmäßige Beutel da mit seinen Strängen.

»Wenn ich jetzt fort könnte, wenn ich nicht so angekettet wäre! Daß er nicht merkt, wie schauerlich mir das ist. Nun muß ich liegen und ihm zusehen, oh, mein armer Harro! Und ob ich ihn stören soll, weiß ich nicht... und ob ich lügen soll, daß ich nicht weiß, was er da macht, weiß ich auch nicht.«

»Harro!« – Er drehte sich herum, er sah grünweiß aus. Er sah sie an, wie wenn er nicht wüßte, wo sie auf einmal hergekommen.

»Ja, ja, da bist du, Rose!« Er drehte sich so, daß er seine Zeichnung verdeckte... »Willst du in die Sonne... ich bin noch nicht ganz fertig.«

»Doch, du bist fertig, Harro,« sagte sie... »es macht dich noch kränker als du schon bist, das Zeichnen ... Komm mit mir heraus...«

»Krank, ich bin doch nicht krank!« er drehte sich um und fuhr auf seine Zeichnung los und wischte sie hastig aus. Er konnte sich nicht genug wischen, bis die Leinwand die gleiche gräuliche Farbe hatte. Dann kehrte er sich um und warf sich erschöpft auf einen Stuhl. »Es waren Ornamente,« stammelte er, »aber sie taugten nichts.«

»Nein, Harro, es waren kranke Herzen, und sie taugten auch nicht mehr viel.«

Er fuhr auf. »Welche Idee...«

»Sie taugten nur noch zu einem großen Kummer um dich.«

Harro verbarg sein Gesicht in seine Hände.

»Hast du das schon oft gezeichnet?...«

»Nichts anderes in der letzten Zeit. Ich habe oft etwas begonnen. Es wird immer das gleiche. Es macht mich halb verrückt, der Gedanke, man hätte dir vielleicht helfen können, wenn sie es anders gemacht hätten... Ich glaube selbst, daß ich krank bin, Rose. Ich fing an, deine klagenden Bäume zu zeichnen. Es ist wie ein Dämon in mir, die Gedanken treiben mich im Kreise herum.«

»Wenn du dich zwingen könntest, ein Bild zu malen, das dich ganz beschäftigte, ausfüllte, fortrisse, bedrängte. Ich weiß ja, wie es dir zumute sein muß, du mußt den Augenblick nicht erwarten können, wo du dich wieder darauf stürzen darfst. Du müßtest dran siebenmal in einem Tage verzweifeln und siebenmal selig darüber sein. Harro, Lieber! Hörst du auf mich?«

Er sah auf. »Doch... aber ich kann nur noch ein Bild malen, mein letztes. Ich sehe es vor mir, es verfolgt mich, um ihm zu entgehen, mache ich die Zeichnungen.«

»Du hast ein Bild im Herzen? Was ist es denn? Laß mich es wissen.«

»Du wirst unglücklich sein, wenn du es siehst, Rose... und wenn ich es male, bricht mir das Herz darüber...«

Er stöhnte. »Ich muß sehen, immer sehen! Vor mir verbirgst du nichts. Du kannst das stolzeste, das freundlichste, das liebevollste Gesicht machen. Ich sehe doch, wie du leidest, jeden feinen Schmerzenszug seh ich. Ich seh es, wenn es so schlimm wird, daß du deine Hände verstecken mußt. Du bist gar nicht immer traurig bei deinem Leiden, du lachst sogar einmal, daß es mich eine Sekunde blendet, dann seh ich es schon wieder. Und wie es schlimmer wird, seh ich, und wie es wohl sein mag, wenn du allein sein willst mit Ulrike. Siehst du denn so aus?« Er zog eine Farbenskizze hervor, die mit wahrhaft entsetzlicher Kunst gemalt war. Wie in jener Gewitternacht, so todblaß, solche verkrampften Hände, so wilde, schmerzliche Augen, und um den Mund ein Zug von hilfloser Qual.

Er warf die Skizze hinweg. »So bin ich, so geh ich mit dir um, das zeig ich dir!... Warum rufst du nicht nach deiner Mutter, daß sie den Menschen entfernt? Daß du Ruhe vor ihm hast!... Ja, nun stößt es wieder, dein Herz. So dunkel deine Augen.«

»Nimm den Pinsel, Harro, und male, was du siehst,« sagte sie mühsam. »Wenn du es doch sehen mußt, so male es dir vom Herzen... Ich bin ja immer dein Modell gewesen. Ich halt dir ja still, helfen kann man mir nicht, reden darf ich nicht mehr... So mal doch, Harro ...«

Er riß seine Pinsel heraus, seine Farben, mit wilden Strichen arbeitete er; seine dämonischen Augen ruhten auf ihr, glitten unbarmherzig über ihre bebenden Hände, über das ins Kissen zurückgeworfene Haupt mit den halbgeschlossenen Augen und den im heftigsten Leiden noch stolz geschlossenen Mund. Sein Schatten war auf ihm. Der Fluch seines Segens...

Im Garten jubelte das Kind und bellte das Hündchen, mit dem es spielte. Die alte Dame klopfte, aber niemand antwortete ihr.

Plötzlich entfiel ihm der Pinsel –, was war das? Fast plötzlich hatte Rosmarie die Augen weit geöffnet, die Iris lag nur noch als schmaler Rand, um die Pupille. Sie sah geradeaus ihn an und sah ihn doch nicht. In einem Momente spielte ein wundervolles Lächeln um ihre Lippen, das er noch gar nie an ihr gesehen hatte. Fremd und lieblich und hoheitsvoll. Der Ausdruck verstärkte sich in jedem Augenblick. Jede Spur des Leidens war aus dem Gesicht gewichen, sogar auf den Lippen blühte ein leises Rot auf, von innen her wie das köstlichste Rot an einer halberschlossenen Rose. Auch die Haare schienen ihm goldener, oder machte es, daß sie von irgendwoher den Reflex eines Sonnenstrahls streifte. Ihre Hände lösten sich, die eine Hand streckte sich wie verschämt glücklich mach etwas aus. Nicht nach ihm. Denn ihre weit offenen Augen sahen ihn nicht. Wie versteint steht er da... Ist das das allerletzte... Ist das schon gekommen... Er weiß es nicht. Sie flüstert etwas, er kann es nicht verstehen. Ihre Stirn ist marmorweiß und so königlich, daß er meint, er sehe die feinen Linien zum erstenmal. Dann schließen sich ihre Augen ganz leise, ihr Kopf sinkt wieder zurück, ganz hingegeben in einer sanften Ruhe. Das Rot vergeht auf den Lippen, sie wendet sich ein wenig auf die Seite, was sie sonst nie tun kann, und nun schläft sie ein. Den Kopf an die Kissen gedrückt wie ein müdes Kind. Leise legt er die Palette weg und eilt hinüber.

»Uli, ich weiß nicht, die Rose, die Rose, sie stirbt oder wird wieder gesund. Sieh sie dir an, komm. Sie schläft.«

Sie gehen vorsichtig hinüber. Die Rose schläft wirklich, aber nur ist sie so blaß und müde in ihrem Schlaf, daß Ulrike ihm zuflüstert: »Harro, was soll ich denn da von gesund werden sehen?«

Und sie setzt sich neben ihr Kind. Harro dreht seine Leinwand herum, daß sie die Malerei nicht sehen kann. So wartet er, und Tante Ulrike verbietet ihm sie anzusehen, weil sie gleich davon im Schlaf zusammen zucke.

Rosmarie hat einen langen erquickenden Schlaf getan und ist wieder aufgewacht. Sie haben ihr zu essen gebracht, und sie hat mit ihnen gegessen, und darüber ist's fast Abend geworden. Tante Uli geht hinüber, um nach dem kleinen Heinz zu sehen, und Harro sitzt noch da vor seiner umgedrehten Staffelei.

Da fragt sie ihn ganz freundlich und einfach, wie sie sonst immer nach den Sitzungen zu tun pflegte: »Nun, Harro, wie ist es geworden? Zeig es mir doch.«

Er senkt seinen Kopf. »Rosmarie, du hast eine unsägliche Geduld mit mir.«

»Warum denn, Harro... Die brauche ich doch gar nicht?«

»Die brauchst du nicht! Ich stehe vor mir selbst und frage mich, was ich sagte, wenn man mir dies von einem andern erzählt hätte. In früheren Zeiten, meine ich. Wo man nicht wußte, wieviel Dämonen in der Seele wohnen können.«

»Dreh die Leinwand um, Harro, und mache die Krone hell!«

»Ach nein, Rose...«

»Ja warum denn nicht, Harro?... Ich habe nicht das mindeste Mitleid mit ihr. Namentlich jetzt nicht, übrigens geht mich das Modell gar nichts mehr an, ich bin jetzt wieder Rosmarie von Thorstein, geborene Prinzessin von Brauneck, Durchlaucht. Laß mich sehen... Wehe dir, wenn du aus Mitleid etwas daran verpinselt hast. Auch dein Mitleid ist unnötig...«

Harro gehorchte... Das Licht flammte auf. Rosmarie betrachtete kritisch die große Skizze, die in Farben ausgeführt eine Riesenarbeit für die kurze Zeit war. Sie schwieg, und Harro mußte das Bild öfters hin und her wenden, bis sie befriedigt war.

Dann seufzte sie auf und sagte: »Einige Teilnahme muß man ihr doch gewähren, Harro ... Feig ist sie gottlob nicht. Das wollte ich auch wissen. Harro, komm her! Ich muß deine Augen küssen, über die du so gestöhnt hast. Deine geliebten Augen.«

Er kam langsam her und kniete vor ihr nieder, daß ihre Augen in die seinen tauchten. »Rosmarie,« fragte er, »woher hast du plötzlich den Heiligenschein bekommen?«

Sie errötete ein wenig. »Ja, Harro, du mußt nicht wieder über deine Augen stöhnen. Gott hat sie dir gegeben, deine goldenen Fensterlein!«

»Ach, red nicht von mir, Seele. Woher kam dir das plötzlich? Plötzlich habe ich meinen Augen nicht mehr geflucht. Dein Gesicht veränderte sich. Ich werde noch eine Skizze machen, Rose... Was träumte dir oder was sahst du?«

»Wenn du auch davon eine Skizze machst, sage ich es dir. Sonst nicht. Denn deine Augen sollst du nicht mehr nach Jammer suchen lassen und dem andern dich verschließen.«

»Die Skizze bekommst du, bis du aufwachst morgen früh, Rose. Mit dem ersten Tagesanbruch, sobald das Licht genügt, fang ich an.«

»Ach, du Liebster. Nun sollst du es wissen. Es ist nicht das erstemal, Harro, daß ich diesen Traum hatte. Immer, wenn es gerade so weit ist, daß ich... nun... aber dann... dann werde ich getröstet. Sie ist da, Gisela. Sie... Dann weicht der Schmerz zurück, ganz leicht wird mir.«

»So erlöst dich das?«

»Es erlöst mich... oh, mehr als das –« »Rose, du weißt alle meine Geheimnisse, sage mir, ich muß das wissen, das ist auch noch eine Wunde, die in mir schwärt... An jenem Tag. Im Saal, Rose!« er atmete schwer. »Rose, sie haben dir nicht... nein, es würgt mich. Sprich du...«

Sie verstand ihn. »Daran denkst du noch? Sie konnten wohl nicht, Harro, und sie ahnten, daß ich doch bewußtlos werden würde... Und sie hatten auch wohl recht, denn es geschah alles wie ein wenig von ferne. Und sehr viele Nebel hingen um mich, aber daß du mich allein lassen mußtest, tat mir doch weh. Und mit einem Male zerrissen die Nebel. Es geschah etwas mit mir, es ist ja vorbei, ich rede nur davon, daß du auch nicht mehr in Gedanken daran herumtasten und dich etwa bedrängen lassen mußt.«

»Sag alles, Rose. Schone mich nicht.«

»Ich schone dich auch nicht. Es geschah etwas mit mir, etwas Unmögliches. Und gefesselt hatten sie mich auch, da dachte ich: das ist das Kreuz, so war es!... Nackt und verlassen unter den fremden Menschen. Da warf jemand einen Schleier über mich und bedeckte mich... Und da sah ich sie. Ich sah nur ihr Antlitz, ihre blauen Flammenaugen ... Sie sprach zu mir: Nein, das Kreuz, das war etwas anderes. Ich weiß, was es war. Bist du denn verlassen? fragte sie mich. Bist du denn getrennt von Gott? – Ich sah sie an, ach, ich brauchte sie so nötig. Ich lag ja unter ihrem Schleier, aber so fern von mir geschah das alles doch nicht. Und ich hörte auch, was die Herren sprachen, und daß sie sich verwunderten. Von dem Schleier wußten sie nichts. Und noch mehr Dinge sah ich, die nicht im Saal waren. Dich sah ich ausgestreckt auf Märts Bett mit einem Wassertrug daneben. Es sah aus, als wärest du im Gefängnis. Ich erschrak sehr und sagte zu ihr: Du solltest dorthin gehen mit deinem Schleier... Da sagte sie etwas Wunderliches. Sie sagte: Geh selbst! – Ich bin doch angefesselt. – Sieh, du kannst es, wenn du willst. – Es war mir aber zu, schwer, einen Augenblick meinte ich, ich sei ihnen entschlüpft. –Aber du mußt es wohl nicht gefühlt haben...! und dann wurde der Schleier bleischwer, und ich versank in eine Dunkelheit, und wie ich die Augen wieder aufmachte, da wickelten sie mich in weiße Binden ein, und es war mir sehr schlimm zumute. Und dann trugen sie mich herunter. Und dann ist nichts mehr zu sagen ...«

Harro hat lautlos zugehört, seine Augen hingen an ihren Lippen. Dann erhob er sich und streckte seine Arme aus. »So, das wäre vorüber. Das wäre auch vorüber. Ich werde wieder in meinen Saal gehen. Ich werde so viel Mut haben wie Märt. Das war die Hypnose des Herrn Professors. So sah sie aus.«

Die Rose fuhr fort: »Ich wollte dir doch heute eine Geschichte erzählen ... Du wolltest aber nicht. Wirst du mich morgen anhören?«

»Du darfst nicht mehr reden ... Liebste ...«

»Ach, sie ist nur so kurz, die Geschichte ... Ich drehe sie herum, daß sie ganz klein ist ... Ich pflücke ihr nur die Blüte heraus, Harro ... Die klagenden Bäume, die Reiher, das finstere Wasser, die Augen aus der Tiefe, nimm die gelben Asphodelen vorn hinweg. Gib uns Raum, mir und ihr. Mal dir den alten bitteren Greuel vom Herzen. Mal deinen Jammer, es werden schon Stunden kommen, wo ich das Modell dazu wieder bin. Die sind dann nicht umsonst. Male das schönste Bild. Du weißt: aus dem Schmerzensgrund steigt die himmlische Rose, wenn der Atem Gottes über sie hinweht ...«

Harro fing an, in dem Atelier hin und her zu wandern, der Geist trieb und bedrängte ihn ... Rosmarie sah nach ihm hinüber. »Gott sei Dank ... Er wird wieder gesund ... Gott segne seine Augen.«


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