Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Zweiundfünfzigstes Kapitel: Das Oratorium.

An jenem Herbsttage schien eine freundliche Sonne auf das alte Städtchen und die froh bewegten Menschenscharen, die von allen Seiten in allen möglichen Vehikeln herbeiströmten.

Die alte Stiftskirche mit dem hoch gewölbten gotischen Chor, und dem geschnitzten Gestühl der ehemaligen Stiftsherren war rasch bis auf den letzten Platz gefüllt. Leider konnte man nicht hoffen, die Prinzessin zu sehen, man wußte, sie würde erst ganz zuletzt kommen. In der Versammlung herrschte jene erwartungsvolle Stille, die den letzten Augenblick des Wartens bezeichnet.

Eben hatte man das leise Rollen der Räder vernommen, und das Licht in der alten Herrschaftslaube glühte auf.

Und nun sahen sie alle doch die Prinzessin, weiß und schlank stand sie da und schaute mit freundlichem Lächeln hinüber auf die Orgel und die jugendliche Sängerin. Als müßte sie ihr Mut machen, so lächelte sie.

Dann verschwand sie und die ersten Töne erbrausten durch das ehrwürdige Schiff des Gotteshauses.

»Jauchzet dem Herrn alle Welt, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!«

Im Schiff der Kirche, die ein sanftes Abendgold erhellte, dämmerte es schon stark. Oben leuchtete noch die Sonne auf dem jugendfrischen Blondhaar der Sängerin. Wie aus einer andern Welt kamen die Klänge in ihren einfachen, schweren Rhythmen, in dem weichen Schmelz der Flöten und den schlichten Hirtenschalmeien, die da ihre Stimmen zum Lobe des Herrn erhoben. Und wie die holden Laute eines jungen Vogels schwebte die Sopranstimme der Sängerin über den Tönen.

Und war da irgend jemand, der diese Musik nicht verstanden hätte? Dem einfachen Mann klang sie wie das Hirtenlied seiner Jugend, der Musikalische empfand die herbsüße Ausdruckskraft der alten Tonsprache.

Das Orgelspiel war mehr nur in Andeutungen gehalten. Hans Friedrich hielt seine volle Seele zurück. Er durfte den Aufstieg des Werkes nicht durch seine hervorbrechende musikalische Leidenschaft vor der Zeit beflügeln.

Die Prinzessin lag so sanft und ruhig in ihrem Stuhle, kaum ein leises Rot auf den Wangen. Es schien, als wäre sie von der Flut der Töne wie von unsichtbaren Schwingen getragen, als strömte von da Kraft und Ruhe in ihre müde Brust. Harros Angst wich einer stillen Freude.

Jetzt erhob der Bariton seine Stimme, in einfachen Kadenzen sang er das Lied von Christi Garten. Das kannten alle, die »ungebildet« waren, die Gebildeten kannten es aber nicht. Wie jauchzte das Reh in der Stimme des Sängers, wie sehnsuchtsvoll klang der Ruf der Nachtigall durch linde Frühlingsnacht.

Es war, als rauschten die alten Wälder draußen, als blühten zum zweitenmal in diesem Jahre die Wiesen.

Und nun steigt schüchtern und lieblich die Stimme der Sängerin empor:

Daß ich dir werd ein guter Baum, Den deine Kräfte treiben!

»Ich lege dich wie einen Ring an meine Brust,« jauchzte der Bariton in seliger Freude. Die Liebe, die erste, junge, die aus dem reinen Jünglingsherzen quillt, jubelt aus der Brust des Sängers.

Die Prinzessin lächelt, sie kennt das ja gar nicht, dieses stürmische Liebesglück. Die Liebe kam bei ihr mit den ersten Veilchen.

»Du bist eine Rose Sarons, o wie schön bist du.«

Und Harro lächelt seine blasse Rose an, daß sie dunkel errötet.

Der erste Teil war zu Ende. Eine Gemeinschaft der Seelen hatte diese Menschen ergriffen. Hatte nicht jedes Herz drunten seinen Frühling gehabt oder erhoffte ihn? Es war so still, so feierlich. Es raschelten keine Programme, denn es gab keine. Hans Friedrich sah auch darin seinen Lieblingstraum erfüllt.

Nun begann der zweite Teil. Es stiegen die Wolken auf. das Vorspiel des Orchesters, das sich nun schon in viel reicheren Formen bewegt. Es ging ein Hauch von Leid, von Wehmut durch die Herzen. Es begann daß süß-sehnsüchtige Adagio der Geigen, die Harfen erklangen in zarten Akkorden. Ein Heimweh ergriff die Herzen der Zuhörer. Wonach? – wohin?

In Harros Seele stieg die Burg seiner Väter wieder empor, so daß ihm der Gedanke an das Goldhaus ganz unerträglich wurde und er sich damit aussöhnte, daß er in Brauneck war. Die Prinzessin hatte kein Heimweh. Warum sie von allen Seelen nicht? – Sie war ja daheim und war auch daheim in den seligen Gärten.

Da erhob der Sopran die Stimme, ja war es wirklich die blonde junge Sängerin? Unwillkürlich wendeten sich die Blicke nach ihr. Ein tiefer weicher Alt. Eine Klage, eine schmerzliche Klage.

Mich hat auf meinen Wegen
Manch harter Sturm erschreckt:
Blitz, Donner, Wind und Regen
Hat mir manch Angst erweckt.

Zu ihm steht mein Verlangen,
Da wollt ich gerne hin;
Die Welt bin ich durchgangen,
Daß ich's fast müde bin.

Je länger ich hier walle,
Je wen'ger find ich Freud,
Die meinem Geist gefalle;
Das meist ist Herzeleid.

Das alte Gerhardtlied, das den ehrenfesten Bauern und ihren Weibern ein teures Kleinod war. Die ganze Gemeinde stimmte ein:

So will ich zwar nun treiben
Mein Leben durch die Welt,
Doch denk ich nicht zu bleiben
In diesem fremden Zelt.

Ich wandre meine Straßen,
Die zu der Heimat führt.
Wo mich ohn alle Maßen
Mein Vater trösten wird.

Sogar Harro sang mit, allerdings vorsichtig, aber still konnte er nicht bleiben.

Nun vernahm man den Sopran in der weichen Mittellage, nur begleitet von einer Flöte, die die Worte wie eine tröstende Stimme umschwebte:

Ich habe mich ergeben
In alles Glück und Leid.

Es senkte sich ein Friede auf die Herzen dieser Menschen, denen das seltene Glück zuteil wurde, gemeinsam in reiner Andacht auf den starken Flügeln der Musik zu Gott hinaufgetragen zu werden. Da ertönt hell und lieblich von der höchsten Empore her, dort wo jetzt noch ein Lichtschein glänzt, der Schall herrlicher Knabenstimmen, jenes ahnungsvollste, vollkommenste Instrument, das wie keine andere Menschenstimme sonst in uns die feinsten Gefühle hervorlockt. Sind es denn noch Kinder oder sind es selige Engel, die singen:

Nach Meeresbrausen und Windessausen
Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht,
Freude die Fülle und selige Stille
Hab ich zu warten im himmlischen Garten,
Dahin sind meine Gedanken gericht't.

Es ist gut, daß Harro seine Rose nicht ansieht.

Da begann das Orchester, erst die Harfen, dann die Flöten und Geigen, dann die Orgel, ein Vorspiel von rührender Einfachheit. Es war nach der Melodie des alten Liedes »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Und nun setzten die Knabenstimmen ein, die Frauen- und Männerchöre, daß eine immer mehr anschwellende Tonfülle die Kirche durchflutete...

Den wird er wunderbar erhalten
In aller Not und Traurigkeit.

O wie sanft senkte sich der Gottesfriede herab.

Und da – ist das nicht das Lied des alten Straßburger Mönchs, das aus der Enge seiner Klostermauern gedrungen und das doch so zeitlos ist wie Sterben Menschenlos:

Ich wollt, daß ich daheime war,
Den Trost der Welt ich gern entbehr'.

Die Sängerin stimmte es an in den tiefen Lagen ihrer Stimme, jenem tiefen weichen Alt, durch den sie immer wieder überraschte. Der Gesang war nur von einer hoch oben auf der höchsten Empore aufgestellten Harfe begleitet, so daß die Töne wie vom Himmel herabzukommen schienen. Als sie geendet, schwebte über dem Raum noch eine Stille, in der die Andacht der vielen ergriffenen Seelen war.

Nun sollte eine größere Pause sein und Rosmaries Stuhl wurde in das geräumige Vorzimmer gestellt, in dem die Fenster weit offen standen. Der Fürst näherte sich ihr zuerst. Voll Freude, denn wie befriedet, wie glücklich sah sie aus. Sie wechselten nur einen Blick miteinander. Aber dem Fürsten schoß das klare Freudenrot in die Wangen.

Harro war froh, daß soviel überstanden war. Noch nie hatte ihn eine Musik so innig ergriffen. So unmittelbar ans eigene Herz gefaßt fühlte er sich. Draußen stimmten sie schon wieder. Harro wußte, daß erst mit dem letzten Teile das Werk sich zu seiner vollen Höhe entwickle, aber er hoffte, da die Rose das Vorige so gut überstanden, werde es vollends gut gehen.

Hatte der erste Teil den Menschen von seinen Tier« und Waldfreuden zu der Seligkeit der Liebe begleitet und der zweite die Seele, die immer wieder getröstete, an ihrem Wanderstabe durch die Welt gezeigt, so brachte der dritte das Jubellied der Befreiten, den Freudenpsalm jenes frohlockenden Herzens.

Das Orchester begann jene eigentümlich hinreißende Melodie, die heute noch mit dem Liede fortlebt:

Jerusalem, du hochgebaute Stadt.

Zuerst führten nur die Orgel und leise Harfen die Melodie und wie von ferne begleitete sie die oberste Harfe. Dann ergriffen die Violinen das Thema. Geheimnisvoll, alles in zartem Piano gehalten, schwebten die Klange vom oberen Jerusalem hernieder. Der Sopran, wieder in der Höhenlage, ergriff die Melodie und der erste Vers erklang in sehnsuchtsbangen und doch so wandermutigen Tönen:

Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt Gott, ich wär in dir!
Mein sehnend Herz so groß Verlangen hat
Und ist nicht mehr bei mir.

Weit über Berg und Tale,
Weit über braches Feld
Schwingt es sich über alle
Und eilt aus dieser Welt.

Die Violinen und Harfen und Flöten schwollen an wie zu leisem Brausen, als rauschten dunkle Fittige herbei. Eine seltsame Kühle ergriff das Herz Harros, er blickte nach seiner Rose, ihre Lippen waren ganz weiß geworden.

Da glänzte die Stimme des Sängers auf wie der erste Lichtstrahl am Morgen:

Propheten groß und Patriarchen hoch,
Auch Christen insgemein,
Die weiland dort trugen des Kreuzes Joch
Und der Tyrannen Pein.

Schau ich in Ehren schweben,
In Freiheit überall,
Mit Klarheit hell umgeben.
Mit sonnenlichtem Strahl.

Die Rose lächelte wieder wie befreit, Harro hörte nichts mehr. Sein Ohr war verschlossen, sein Auge aufgetan. Er sah eine Seligkeit auf dem zarten Gesicht seiner Rose aufgehen, ihre Augen wurden groß und dunkel, doch war ihm nicht angst, daß sie sich überfreuen möchte. Wie holdselig sie war, wie schön die bläulichen Schatten an den Schläfen.

Zum erstenmal verschmolzen die Stimmen der Sängerin und des Sängers. Sie jubelten und jauchzten, eine kleine Flöte hielt wie Nachtigallengesang die Melodie des Liedes über dem Zwieklang der erlösten Seelen fest. Und nun endlich trat der Chor hervor, zuerst die Knabenstimmen, dann die Frauen- und Männerchöre. Unendlich brauste der Jubel der Erlösten, es donnerte die Orgel, daß die Fenster der alten Kirche leise erzitterten, und es erzitterten die Herzen, über die der Wonnesturm der Seligen dahinschauerte.

Nur ein Herz erzitterte nicht. Mit weit offenen Augen lag die Rose da, hinaufgetragen von den Klängen an die selige Pforte.

Harro saß neben ihr und sah sie an. Sie war selig, sie war ihm fremd. Es war, als hätte er keine Gemeinschaft mehr mit ihr. Da erschütterte ein Seufzer die breite Brust, als eben der letzte Ton verklang. Den herrlichen Schlußchor hatte er ungehört an sich vorüberrauschen lassen.

Es war dunkle Nacht, als sie heimfuhren, die Rose war freudensatt und müde.


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