Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Achtunddreißigstes Kapitel: Der Herr Professor.

Schwere düstere Tage, herabstürzender Regen, im Goldhaus lastende Stille. Niemand darf die junge Herrin sehen. Der falkenäugige Professor ist mit dem Auto davongerast und hat seinen Assistenzarzt und eine blasse Schwester dagelassen. Er wird aber wiederkommen, und ehe er da war, soll niemand zu Rosmarie hereingelassen werden.

Und Harro wandert in seinem Goldhause herum und geht ins Atelier, wo Heinz den Tag über installiert ist, und steht am Bogenfenster des oberen Stocks, wo man am weitesten über die Wälder hinweg sieht und den Reihern in ihre Baumruinen hinein, in denen sie wohnen. Weiter geht er nicht, denn dort wendet sich der Gang zu seinem Festsaal. Sein Festsaal! Seit Märt da oben rein gemacht und die Spuren von des Doktors Arbeit entfernt hat, geht er wie ein Verstörter herum. Spricht laut mit sich selbst in rauhen Lauten, die kein Mensch versteht, und bleibt plötzlich, wo er geht oder was er gerade tun mag, stehen wie ein steinernes Bild, bis er auffährt wie aus tiefstem Traume.

Und Harro ist es, als wohne er in einem Hause, das man der Fenster beraubt hat, durch das alle Stürme des Himmels hindurchrasen können, und das auch nicht die kleinste Ecke bietet, darin man sich bergen könnte.

Nach Tagen erscheint der Professor wieder, und nachdem er Rosmarie gesehen, kommt er mit einem seltsam weißen Schleier über seinen Falkenaugen zu Harro und sagt:

»Gehen Sie nun zu Ihrer Frau hinein, ich hätte es Ihnen schon früher auf einige Minuten gestatten können, aber diese kurzen nichtssagenden Besuche erregen oft mehr. Nun können Sie schon ein wenig bleiben.«

Harro fragt schwer atmend: »Und Sie sind zufrieden?«

»So sehr als möglich; freilich, es wird Ihnen vorkommen, als ob keine Besserung eingetreten sei. Es war ein furchtbarer Eingriff, und niemals hätte ich es gewagt, wenn ich gewußt hätte, was ich nun weiß. Niemals. Es war auf einer Nadelspitze. Nach diesem ist ja alles verhältnismäßig befriedigend. Eine längere Schonzeit wird Ihre Durchlaucht freilich haben müssen. Aber ich hoffe, wenn alles so bleibt bis zum Herbst, daß Ihre Durchlaucht doch wieder die frühere Frische erreicht haben wird. Ich darf allerdings nicht verschweigen, daß auch Komplikationen eintreten können.«

»Gewiß, gewiß,« murmelt Harro, und versucht das stürmische Glücksgefühl zu dämpfen, das seine Brust bedrängt.

Dann geht er zu Rosmarie. Aber sie schläft, und man dürfe sie nicht wecken. So würde er jetzt wohl öfters vor geschlossenen Türen stehen und sich daran gewöhnen müssen.

Da fuhr eben sein Schwiegervater in den Hof. Er ging ihm entgegen. »Harro!« Er mußte über sein Aussehen erschrocken sein. »Es steht gut, Vater,« sagte er so hoffnungsvoll als möglich, »nur ich bin etwas herunter.« Der Fürst sprang ab von dem hohen Kutschbock und zog aus dem Wagen einen großen in Seidenpapier gewickelten Strauß.

»Es sind japanische Lilien. Ich habe sie Rosmarie mitgebracht. Ich wußte sonst nichts, was sie freuen würde.« Harro nahm die Blumen.

»Oh, sie wird sich sehr freuen,« sagte er mechanisch. Sie gingen hinein.

»Ich komme spät, Harro, aber Charlotte hat mir Sorge gemacht. Sie war von Anfang an schon sehr von unserem Unglück angegriffen, obgleich sie es nicht Wort haben wollte, und ist heute in einem Zustand, der mich erschreckt. Diese taktlosen Menschen, der Amtsrichter und die Kommission, haben sich mit ihren einfältigen Fragen sogar an den alten Christian gemacht. Den alten Christian, der lieber selber vor jeden Flintenlauf hinstände, als daß er meiner Tochter etwas geschehen ließe! Die Sache hat ihn dann selbst so erregt, daß er Weinkrämpfe bekam. Die treue Seele! Ich bin bei ihm gewesen, habe ihn aber auch nicht trösten können. Er schluchzt immer wieder: ›Die Prinzessin‹. Und die Unnot dabei! Und sie haben ja jetzt den Menschen. Und die Waffe. Harro, du siehst erschreckend aus. Du darfst dich jetzt nicht unterkriegen lassen! Denke, wie Rosmarie sich ängstigen würde.«

»Der Mensch,« sagte Harro, »der Mensch!« und seine Arme bebten. Sein Schwiegervater mußte ihn auf das Sofa führen. Dort legte er ihn hin, schob ihm Rosmaries Seidenkissen unter den Kopf und deckte ihn liebevoll mit Rosmaries Decke zu. Dann setzte er sich neben ihn hin. Gebückt und grau. Von hinten sah er wie ein alter Mann aus.

»Der Mensch?« fragte Harro durch die Zähne.

»Ein entsprungener Zuchthäusler –«

Harro sah in die Höhe: »Wollte er denn morden? ...«

»Nein, nein, sie nehmen es nicht an. Ein Dieb und Wilderer. Er hatte es auf das Reh abgesehen. Der Mann leugnet übrigens. Natürlich. Er hat siebzehn Einbrüche begangen. Es ist eine allgemeine Erleichterung, daß es ein Fremder ist. Die Bauern wollten ihn totschlagen.«

Harro verbarg sein Gesicht in dem Kissen. Und dann schwiegen beide. »Bitter, o bitter.«

Endlich fragte der Fürst: »Hast du Rosmarie gesehen?«

»Nein.«

Der Fürst schüttelt den grauen Kopf. »Was kommt nicht alles über mich ... Rosmaries Mutter. Meine Söhne. Und jetzt erschießt mir ein Lump mein einziges Kind.«

Harro sah auf. Wie egoistisch hatte ihn sein Schmerz gemacht. Der Mann neben ihm hatte noch mehr hergeben müssen als er. Es war ihm, als habe er ihn noch nie so gut begriffen, sei ihm noch nie so nah gewesen.

Er erhob sich mühsam. Er hatte des kleinen Heinz Stimme gehört. Dann kam er wieder mit dem Kleinen, stellte ihn an der Tür auf den Boden und sagte: »Nun, Heinz!«

»Opa« rief er freundlich und lief auf den Fürsten zu, dessen Gesicht sich verklärte.

»Ja, Heinz-Friedrich, du gehst. Ganz allein!« Und nahm ihn auf den Schoß und küßte seine Haartolle. Er zeigte ihm seine Uhr und ließ sie repetieren. Harro sah ihnen zu, und es tat ihm wohl, zu sehen, welch süßer Trost von dem Kinde ausging.

Und nun klopfte es. Harro ging hinaus. Der Herr Professor stand da und sagte: »Meine Anwesenheit in Würzburg ist heute abend nicht nötig. Ich würde mir sehr gerne einen Ruhetag gestatten. Es ist ja gar nicht ausgeschlossen, daß mich die Frau Gräfin noch einmal braucht. Können Sie mich hier behalten oder ...« »Meinem Schwiegervater, der eben gekommen ist, wird es eine große Erleichterung sein, daß wir Sie noch nicht hergeben müssen.«

»Also gut. Ich werde mir jetzt den Genuß eines Spaziergangs bereiten. Ich tue das sonst nur im August und September, habe seit vielen Jahren keine blühenden Heckenrosenwege mehr gesehen. Gibt es hier solche?«

»Gewiß, Herr Professor. Die Füchse stehen Ihnen auch zur Verfügung, meine Frau hat einen sehr hübschen Viktoriawagen. Und Sie können des Fürsten Leibkutscher haben, der Sie fahren wird.«

»Nun. wenn ich es so bequem haben kann! Aussteigen kann ich ja immer, wo es am schönsten ist. Ich werde dem Kutscher den Weg angeben.«

Bald fuhr der Wagen vor und der Herr Professor davon. Aber durchaus nicht nach Heckenrosen. Er fragte den Kutscher:

»Wissen Sie die Stelle, wo das Unglück geschehen ist? So fahren Sie mich dorthin!«

Und der Herr Professor fuhr nach der Römerwiese.

»Und die Stelle?«

Der Mann konnte seine Pferde nicht verlassen, und so beschrieb er dem fremden Herrn genau den Schleichweg, der am Waldesrand von Büschen verdeckt die ganze Wiese umzieht. Und den Schießstand, von dem aus möglicherweise der Schuß gefallen war.

Der Herr Professor schritt auf den schmalen, tadellos gereinigten Wegchen dahin zwischen Haselnuß- und Ligusterbüschen und Wildrosengeschlinge, den Hochwald über sich. Die Stelle war bald gefunden. Sie war von vielen Füßen zertreten, die ganze Wiese war zertreten, die Blumen lagen geknickt und traurig, und dazu war alles vom Regen verschlammt. Die Wiese sah aus, als traure sie mit.

Der Herr Professor sah sich mit seinen Falkenaugen so genau um, als ob die Tat ihn selbst angehe. Dort stak eine kleine weiße Stange im Boden. Da war wohl die junge Frau zusammengesunken. Von da ab war die Wiese unberührt. Langsam ging er wieder dem Walde zu und suchte nun die Stelle, wo er den Wagen verlassen hatte. Er ging auf den Schleichweg zu, aber irgendwie mußte er die Richtung verloren haben. Die Wege kreuzten sich, das schmale grüne Sträßchen, das auf den Ort zuführte, wo der Wagen stand, fand er nicht. Immer neue Wege kreuzten sich, und immer wieder glaubte er, da zu sein, und immer wieder fand sich's, daß er einen andern Zipfel dieser verhexten Wiese vor sich hatte.

Da hörte er Schritte. Auf einem kleinen Wege, der dem seinigen parallel lief, sah er einen Augenblick eine Dame im grünen Kleide auftauchen, einen Jagdgehilfen mit einer Flinte hinter ihr. Nun endlich, die würden ihm sagen können, wohin sein Weg gekommen sei. Er übersprang ein Bächlein und fand sich plötzlich an einem sumpfigen Orte, wo ihm Erlenbüsche ins Gesicht schlugen und er große Mühe hatte, wieder herauszukommen. Nun war die Dame wohl schon weit. Nein, da stand sie. Der junge Mensch reichte ihr die Büchse, einen Augenblick hielt sie die im Anschlag, dann knallte der Schuß. Sie mußte gefehlt haben, denn sie zuckte die Achseln, gab dem Menschen die Büchse wieder zurück und schritt weiter. Der Professor übersprang noch einmal ein Grübchen. Da glänzte wieder die Wiese, und da im hellen Sonnenschein der weiße Stab. Er mußte einen Kreis beschrieben haben. Neben ihm, nur durch ein Gebüsch verdeckt, war ja das grüne Sträßchen. Er schlug sich vor die Stirne: »Verhext, rein verhext!«

Und da kam die Dame plötzlich an ihm vorüber. Er grüßte, wie man im Wald auf engem Wege eine Dame grüßt. Sie dankte ihm nicht, sie sah ihm starr ins Gesicht, als sehe sie ihn nicht. Sie war jung und schön, in elegant einfachem Jagdhabit, und ihr Gesicht war wie eine Maske, aus der große starre Augen brannten. Der Jägerbursche hinten grüßte höflich, und es fiel ihm auf, daß das junge, sonnenbraune Gesicht fahl war und die Augen ganz verstört blickten. Sie bogen in einen Seitenweg ein und waren fast sofort verschwunden.

Er eilte nun zu dem Wagen. Der Kutscher schien ihn etwas besorgt zu erwarten. Er fragte:

»Haben Sie nicht eine Dame vorübergehen sehen? Wer war es wohl?«

»Es war ihre Durchlaucht, die Frau Fürstin.«

»Aber das ist doch nicht die Mutter der Gräfin Thorstein?«

Er hatte den Fürsten für einen Witmann gehalten, denn die Mutter wäre wohl bei ihrem Kinde gewesen. »Die Stiefmutter, Herr Professor.«

»Ach so.« Er setzte sich in den Wagen, der schnell mit ihm davonrollte. Also die Stiefmutter. Und sie hatte auch den Platz aufgesucht, wo ihre Tochter verunglückt war. Und sie hatte darüber geknallt. Eine seltsame Gedächtnisfeier. Das verstörte Gesicht des Burschen fiel ihm ein.

Und nun war's, wie wenn sich in seinem Kopfe blitzschnell eine geheimnisvolle Rolle abwickle, in der sein Gedächtnis fast ohne sein Wissen Worte eingegraben ... »Schieß nicht, Mama, schieß um Gottes willen nicht. Sie kommt ja zurück, die Kugel. Auf dich kommt sie zurück ...« Es war ihm, als führe ihm ein eiskalter Hauch über die Stirne ... Unmöglich, die Gräfin konnte unmöglich gesehen haben, wer schoß. Die Schießstände waren ja so kunstvoll verborgen.

Da fragte er den Kutscher: »War es ein Jagdunfall, bei dem die Gräfin verunglückt ist?«

Der Kutscher erzählte ihm von dem entsprungenen Zuchthäusler und dem Jagdgewehr. Er fügte aber hinzu: »Der Kerl kann es gewesen sein, er kann es aber auch nicht gewesen sein. Er hätte doch die Herrschaften kommen sehen müssen, da wäre es immer noch Zeit gewesen, den Schuß zurückzuhalten. Aber die Leute seien wie toll auf den Menschen. Die Kerls, die hie und da einmal eine zerlegbare Büchse unter den Rock steckten und sich Ruß übers Gesicht schmierten, die schössen alle mindestens ebensogut wie die Jäger. Vielleicht noch besser. Bei einem Zuchthäusler wäre so ein Schuß ja vielleicht möglich, aber was hätte ihm das Losknallen im Angesicht der Herrschaften nützen können. Den Bock hätte er doch nicht vor ihren leiblichen Augen davontragen können.«

»Ja, könnte denn die Herrschaft nicht auch Feinde haben?«

Dem Kutscher verzog es das Gesicht in einem breiten Grinsen. Schimpfen, das täte man wohl. In den Wirtschaften. Besonders die paar Schnapser. Und drei Sozialdemokraten gebe es auch. Einer lese sogar den »Vorwärts«. Aber deshalb hätte Durchlaucht doch bei Tag und Nacht mutterseelenallein durch alle Wälder gehen können. Und nun wurde er wieder ernst. Und nach einer Pause: »Herr Professor, darf ich so frei sein, ich weiß, daß es ungehörig ist, aber darf ich fragen? Ihre Durchlaucht wird doch wieder gesund? Ich bin ein Braunecker, und mein Vater war auch Leibkutscher, und ich habe die Prinzessin gefahren, wie sie noch ganz klein war. Und in Brauneck gibt es niemand, nicht einmal die Schnapser und den Mann, der den ›Vorwärts‹ liest, der ihr etwas Böses wünscht. Da gibt es keinen, den sie auch nur unfreundlich angesehen hat. Wo sie gegangen ist. da lachte alles in Brauneck.« Und mächtig stolz seien die Braunecker auf sie.

Dies sagt der Mann erst, als der Professor zu ihm auf den Bock gestiegen ist, sich neben ihn gesetzt hat und somit aus der Herrschaftssphäre herausgetreten ist.

Riesig stolz sei man auf die Prinzessin. Und sie hätte gewiß Königin werden können, wenn sie gewollt hätte. Und sie sei die schönste Prinzessin weit und breit. Und es soll ein Bild von ihr geben, über das die Leute ganz verrückt wären. Es werde auch im großen Saal aufgehängt werden. Dann dürfe es einmal jedermann sehen, das habe Durchlaucht selbst versprochen. – Sie kommen ziemlich spät zum Essen an, und der Herr Professor hat jedenfalls keine Heckenrosen mitgebracht.

Die Gräfin schläft noch immer, und selbst die Schwester ist verschwunden und hat ihren Platz der Lisa überlassen. Sie hat ja nichts zu tun, als stillzusitzen und aufzupassen.

Um vier Uhr, als der Professor eben von seinem Nachmittagsschlaf erwacht ist, fährt ein Wagen an. Die Dame von heute morgen, aber nun im großen Federhut und pompösen Regenmantel entsteigt ihm. Die Falkenaugen da oben beobachten jede Bewegung. Er kann es gut. denn die Dame hält sich eine Zeitlang im Hofe auf. Der Fürst, den kleinen Heinz an der Hand, ist zu ihr hinausgetreten, und sie sprechen zusammen ...

Es klopft. Die Schwester, die schon wieder auf dem Posten ist, kommt herein. »Herr Professor, könnten Sie nach der Gräfin sehen? Sie ist aufgewacht und hat sich so sehr erschreckt über irgend etwas und hat nun entsetzliche Schmerzen bekommen.«

Schlimm ist das, sehr schlimm. Der Professor eilt hinunter. Und alles so schön bis dahin ... Sie liegt mit zuckenden Lippen und großen entsetzten Augen da.

»Ich leide. Herr Professor, oh, schrecklich leide ich. Ich will mein Kind haben, ich will meinen Mann und meinen Vater haben. Sie sollen kommen.«

Der Professor faßt den Puls und nickt Schwester Johanna. Die gleitet hinaus, und einen Augenblick später kommt Harro und der Fürst herein und Heinz zwischen ihnen. Dem Fürsten wanken die Knie, wie er seine Tochter sieht. Das Kind wirft sofort sein Köpfchen zurück und versteckt's an seines Vaters Knie und: »Nein,« schreit er. »Nein.«

»Ach, er fürchtet sich vor mir,« flüstert die arme Mutter. »Harro, nimm ihn auf den Arm.«

Der Vater tut's, und das braune Köpfchen drückt sich wie ein scheuer Vogel an seine Brust. Ihre Augen gehen von einem zum andern, wie wenn sie sich an sie klammerten. Und sie dürfen sie ja nicht einmal berühren, denn ihre eine Hand hält ja der Herr Professor.

Es steht sehr schlecht um die junge Herrin von Thorstein. Der Professor legt die kalte Hand wieder hin und geht ganz leise in das Nebenzimmer. Aber er kann das Bett und die weiße Gestalt darauf sehen.

Da plötzlich geht die Tür auf: rauschende Gewänder, die Fürstin. Ganz leise schiebt sie sich neben den Fürsten. Rosmaries Augen sehen nach ihr. Eine kleine, fast unwillige Bewegung macht der Fürst, seine Augen hängen ja an seiner Tochter. Harro sieht sich nicht einmal nach ihr um. Nur der Herr Professor sieht ihr ins Gesicht.

Sie spricht kein Wort, sie steht und schaut auf die todblasse Tochter, und ihre Gewänder rauschen fortwährend. Sie kann keine Sekunde ruhig stehen ...

Harro hat nun die arme Hand in der seinigen.

»Mama,« sagt Rosmarie leise. Das Rauschen wurde heftiger, und noch einmal: »Mama. Du tust mir leid! Nein, ich möchte noch nicht sterben. Lieber Harro, bete für mich! Und du auch, Vater, lieber Vater!«

Der Fürst sagte leise: »Ein jeder Atemzug tut's, Rosmarie. Für dich ...«

»Nimm mich in deine lieben Arme, Harro, mich friert.«

Der Professor kam mit einem Kissen, bettete Rosmarie sanft darauf und schob ihres Mannes Arm darunter und flüsterte ihm zu: »Halten Sie sie hoch.« Da lag sie an ihres Mannes Brust so schön geborgen, ihr Vater faßte ihre Hand. Klein Heinz, als er das blasse Gesicht nicht mehr sehen konnte, trippelte eifrig herum und setzte sich dann mit dem Knäuel von Schwester Johannas Häkelarbeit auf den Boden.

Die Fürstin stand immer noch da unten am Bettrand, und ihr Kleid rauschte.

Der Herr Professor bot ihr den Arm: »Darf ich bitten, Durchlaucht? Ich glaube, Durchlaucht sind hier überflüssig!« Sie sah ihn an, und ihre Augen veränderten sich. Sie ließ sich hinausführen. Er begleitete sie an den Wagen. Der Diener legte ihr den Mantel wieder um. – Da schien sie wie aus einer Erstarrung zu erwachen. Sie blickte ihn an, daß dem Professor eiskalt wurde vor der Wildheit in den Augen. Dann warf sie ihren Kopf auf, ihre Augen glitten an ihm herunter wie an einem ekelhaften Insekt. Sie stieg ein und der Wagen fuhr davon.

Der Professor stand im Schloßhof und schaute ihr nach. Dann ging er hinein ... Rosmarie streckte ihm die Hand entgegen: »Es geht mir schon besser, fühlen Sie und sagen Sie meinem Mann, daß er es glaubt.«

Der Krampf war vorüber ...

Am Abend bat der Professor den Grafen: »Sorgen Sie doch, daß die Fürstin nicht so bald wieder kommt. Ich habe den deutlichen Eindruck, daß der Besuch die Frau Gräfin aufgeregt hat. Die Damen lieben sich wohl nicht.«

Harro sagte: »Nein, durchaus nicht. Es war mir nicht recht, daß sie hereinkam. Doch hätte ich sie wohl nicht abhalten können, wenn sie endlich etwas Teilnahme zeigen wollte. Aber Sie werden wohl recht haben. Meine Frau hat zuzeiten eine unerklärliche Angst vor ihr.«

»Sie dürfen es durchaus nicht mehr dulden, Herr Graf.«

Harro sah ihn an. Erstaunt, fast ein wenig befremdet.

Der Professor dachte: »Wie kann der Mensch doch nur so ahnungslos sein. Das sah doch dem Weib aus den Augen: wie die auf ihr Opfer schaute, aber er hat sie gar nicht angesehen.« Dann sagte er: »Die Fürstin ist krank, sehr krank. Sie darf nicht im Land herumfahren, sondern gehört in eine Nervenheilanstalt.« »Die Fürstin krank? Ja, ich bitte Sie! Sie ist immer kerngesund gewesen. Bis auf einen Punkt. Aber der ist erledigt.« »Nein, Herr Graf. Ich rede Ihnen nicht darein, ob Tempera oder Öl, aber was mein Geschäft anbetrifft ...«

»Gewiß, Herr Professor. Ich bin nur erstaunt ... Kein Mensch ahnt etwas. Mein Schwiegervater sagte mir allerdings, sie sei erregt gewesen.«

»Ein Blick genügte mir. Die Augen. Doch Sie haben sie gar nicht angesehen.«

»Nein, ich allerdings nicht.«

»Die Unruhe. Keine Sekunde hielt sie Ruhe! Das Rauschen müssen Sie doch gehört haben. Sorgen Sie jedenfalls für eine Pflegerin. Sie allein herum fahren zu lassen, ist geradezu ein Frevel. Ich will der Fürstin nachfahren und ihr einen Besuch machen. Sagen Sie es Seiner Durchlaucht. Dann will ich mit dem Hofrat eine Konsultation haben. Sagen wir, bis acht Uhr schicken Sie den Fürsten heim und bereiten ihn vor.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, Herr Professor, Sie glauben doch, daß bei meiner Frau der Anfall überwunden ist? Sie darf nichts wissen von dem, was wir jetzt reden, nicht wahr?«

Märt kutschierte den Herrn Professor hinüber. Den sichersten Kutscher hatte der nicht. Es war gut, daß er nicht ahnte, was in dem Dickschädel da vor ihm vorging.

Der Kammerdiener bedauerte; »Ihre Durchlaucht empfängt heute niemand mehr.«

»Haben Sie meine Karte abgegeben?«

»Ihre Durchlaucht bedauerte sehr.«

»Ich bedaure auch sehr,« sagte der Professor, schob den erstarrten Menschen einfach hinweg und ging hinein. Der wagte nicht nachzugehen. Die Fürstin ging auf ihn zu: »Was erlauben Sie sich, mein Herr.«

»Ich komme im Auftrag der Herrschaften drüben. Ich habe mit Bedauern gesehen, daß Durchlaucht sich in einem so hochgradigen nervösen Zustand befinden und komme nun, um meine Dienste anzubieten.«

»Ich brauche Sie doch gar nicht. Ich bin gesund.«

»Durchlaucht müssen mir da meine eigene Meinung gestatten. Ich habe Eure Durchlaucht heute morgen schon gesehen und habe es wahrgenommen.« »Heute morgen?«

»Durchlaucht haben mich nicht gesehen. Durchlaucht waren auf der Römerwiese, dort wo der kleine weiße Pfahl ist. Durchlaucht schossen danach...«

An der hohen Dame rauscht plötzlich nichts mehr... Sie ist wie eine Statue. Ihr gemaltes Gesicht, weiß, rosig und bläulich unter ihren gelockten Haaren, ist wie das einer Meduse. Sie sinkt in ihren Stuhl. Die Flammen, die vielen Flammen, krachend schießen sie über ihr zusammen... Wie gelähmt ist ihr Denken, die Faltenaugen bohren sich in sie hinein und lähmen ihr den Willen .... Der Herr Professor wendet kein Auge von ihr. Dann redet er weiter. »Durchlaucht bedürfen durchaus der Ruhe, einer längeren Ruhezeit. Ich werde mit dem Herrn Hofrat reden, ob es besser hier im Hause zu machen ist, die vollständige Ruhe meine ich, oder ob Durchlaucht eine Heilstätte aufsuchen sollten. Ich wäre ja für das letztere.«

Die Fürstin fährt auf, unter dem Blick sinkt sie aber wieder zurück.

»Durchlaucht haben schon länger sehr schlechten Schlaf. Durchlaucht gebrauchen ein Schlafmittel.«

»Lassen Sie die Komödie,« zischt sie.

»Es ist gar keine Komödie. Das nervöse Zucken in den Füßen, die Unruhe, die entsetzlichen Träume..., das Angstgefühl wie jetzt eben. Ich fühle mich nicht berufen, der Justiz irgendwie Amateurdienste zu leisten. Ich bin Arzt, und als solcher suche ich der Familie, die mir die Ehre ihres Vertrauens schenkt, zu dienen. Ganz besonders der jungen Gräfin Thorstein in ihrem schweren Leiden. Sie sind gefährlich, Frau Fürstin. So wenig ich einen Pockenkranken herumlaufen ließe, sondern sorgte, daß man ihn verpflegt und acht gibt, daß er seine Krankheit nicht verbreite, ebensowenig werde ich dulden, daß Durchlaucht länger im Land herumfahren und über Wiesen knallen. Und das schwere, mit so heldenhafter Geduld getragene Leiden auch noch durch Ihre Gegenwart vermehren.«

Da fuhr sie auf wie eine Schlange.

»Sie können mir nichts beweisen... Gar nichts können Sie beweisen... Ich war in der Kreuzklinge mit dem alten Christian...«

»Auf Kreuzklingen lasse ich mich nicht ein. Sie schlagen nicht in mein Metier. Aber daß Durchlaucht krank sind, das werde ich beweisen. Lassen Durchlaucht sich einmal von dem Hofrat den Puls fühlen und die Herztätigkeit behorchen und fragen Sie ihn, warum Sie die Füße keine Sekunde ruhig halten können.«

»Ich will den Hofrat nicht, ich...«

»Es kommt nun darauf an, ob Durchlaucht sich fügen wollen, oder ob Durchlaucht mich zwingen, von unserer Begegnung auf der Römerwiese dem Grafen Thorstein Mitteilung zu machen. Ich möchte, wenn irgend möglich, jetzt noch den Fürsten schonen. Auch als Arzt.«

Da bricht sie zusammen. Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und wirft sich auf ihre Chaiselongue. Da geht der Herr Professor hinaus.

Es kommt der Herr Hofrat, und die Herren konsultieren länger. Von der Römerwiese sprechen sie nicht. Es ist aber sonderbar, daß der Herr Hofrat den Professor sofort versteht, als er sagt:

»Es muß absolut verhindert werden, daß die Fürstin herum fährt, geht oder reitet, oder schießt. Diese ihre Besuche schaden der jungen Gräfin.« Aber die Konsultation greift den Herrn Hofrat so an, daß sein Kollege warten muß, bis er sich gefasst hat.

Seltsam, wie schnell, wie rasend schnell alles geht. Um acht Uhr ist der Professor schon wieder zurück, hat sich über der jungen Gräfin Puls gefreut, und er und Harro haben den Fürsten zwischen sich genommen und haben ihn so schonend als möglich davon benachrichtigt, daß die Fürstin krank sei. Der Fürst ist dankbar, und keinem der beiden Herren ist es verborgen, daß er erleichtert ist.

Es wird nach zwei geschulten Pflegerinnen telegraphiert, die abwechseln sollen. Denn die Fürstin soll nie mehr allein gelassen werden. Sie soll oben im Braunecker Schloß die ganze Flucht der großen Gastzimmer bewohnen, die teilweise ineinandergehen und die in ihrem ganzen Zug abschließbar sind, denn es soll ja niemand dort weilen als die Kranke und ihre Pflegerinnen. Dann müssen im Zimmer der Fürstin Glastüren angebracht werden. Alles wird schon besprochen.

In seiner tiefsten Seele denkt der Professor: Es wird vielleicht das alles nicht nötig sein. Sie kann ja so gut mit Schießwaffen umgehen, vielleicht richtet sie sich selbst.

»Schwester Johanna,« sagte er, »bringe ich Ihnen noch vierzehn Tage zum Opfer.«

Harro wundert sich sehr: »Ja, in vierzehn Tagen sollte meine Frau schon wieder keine eigentliche Pflege mehr brauchen?«

»Ich hoffe es. Es kommt natürlich alles auf den weiteren Verlauf an. Ihre Frau ist doch ganz gesund gewesen zweiundzwanzig Jahre lang. Eine Schonzeit braucht sie natürlich. Sagen wir den Sommer über. Im Herbst erwarte ich Sie mit der Frau Gräfin in Würzburg. Dann hoffe ich, daß eine definitive Freisprechung erfolgt.«

Harro atmet tief auf. »Das ist so schön, daß ich's beinahe nicht glauben kann.«

»Ich sehe nicht ein, warum nicht ... Die Fürstin wird länger mit der Sache zu tun haben, viel länger.«

Sie gehen noch durch das Atelier, die beiden Herren ... dann sagt Harro:

»Herr Professor, gibt es gar nichts, womit ich Ihnen eine Freude machen könnte? Es ist mir ein so großes Bedürfnis. Von meinen angefangenen Sachen vielleicht. Die ich vollenden könnte. Eine verhängte Leinwand steht da. Von heute morgen ...«

Etwas zögernd deckt Harro auf. Es ist Rosmaries goldenes Haupt. Weiß und müde liegt sie da, auf ihrer Stirne das geheimnisvolle Licht, die Augen halb offen und darunter hervor den schönsten Liebesblick. Harro hatte sich nichts erspart, nicht die bläulichen Schatten der Schläfe, nicht die eigentümlich weißen Linien um Nase und Mund. Die hoffnungsvollen Worte des Herrn Professors paßten sehr wenig zu der Skizze.

Der Herr Professor schwieg, und Harro schwieg auch, dann deckte er sorgsam wieder zu. Der Professor sagte endlich:

»Warten Sie ein paar Tage, Herr Graf, nur ein paar Tage, und schicken Sie mir dann eine Skizze. Am nächsten Sonntag vielleicht, und sehen Sie, ob das Bild dann nicht neben dieses gehalten Ihnen schon eine Belohnung Ihrer Mühe ist. Und mich werden Sie sehr verpflichten. – Und noch eins! Sie werden Ihre Frau nur in Gegenwart des Herrn Assistenzarztes und der Schwester Johanna sprechen. Ich meine, wenn wir Ihnen so Schönes versprechen, dann können Sie auch noch die paar Tage daran geben.«

Harro brauste auf. »Ich habe immer wohltätig auf sie gewirkt, nie aufregend.«

»Ich muß doch darauf beharren,« sagte der Professor, »es ist Ihr Interesse.«

Gleich darauf surrte das Auto der Fürstin, in dem sie nie mehr fahren würde, mit dem Professor davon.

Harro fand, daß die Instruktionen des Herrn Professors sehr streng waren und daß die beiden Wachthabenden so gänzlich unter dem eisernen Willen ihres Chefs standen, daß er fast kein Wort mit seiner Rosmarie allein wechseln konnte. Sie fragte ihn nach der Fürstin. Als sie hörte, daß sie krank sei und eine Kur machen müsse, sagte sie nur:

»Ich habe es Mama angesehen. Darum sagte ich: Du tust mir leid.«

Der Fürst kam jeden Nachmittag, und mit ihm wurde zu Harros großem Schmerz viel liberaler verfahren. Er durfte eine Viertelstunde lang neben Rosmaries Bett sitzen und sie unterhalten. Harro durfte sich nicht setzen. Er mußte stehen bleiben, den Herrn Assistenzarzt neben sich, die Schwester Johanna an der offenen Tür des Nebenzimmers. Und Rosmaries Augen sahen ihm traurig nach, wenn er gehen mußte. Und so viel hatte er zu bedenken und mit sich auszumachen, wozu er so notwendig Rosmarie hätte haben sollen. Die Lösung der Geheimnisse und Rätsel, die ihn bestürmen, schien sie in ihrer schmalen blassen Hand zu halten. Manchmal wollte ihn die Ungeduld ob den eifrigen Wächtern fast zerreißen.

Der kleine Heinz wurde jeden Tag herrischer und gewalttätiger, man merkte es ihm an, daß er die gute Babette tyrannisieren lernte. Wenn er den Willen nicht gleich bekam, warf er sich auf den Rücken und schrie sich blau. Und das hörte die arme Mutter, denn seine Stimme war kräftig, und es regte sie auf, darum mußte es vermieden werden. Man sah sich zu allen möglichen Konzessionen genötigt.


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