Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundvierzigstes Kapitel: Von den himmlischen Gärten.

Schwer und dumpf lastete heute der Tag auf Thorstein. Grau versponnen der Himmel, in kurzen, mürrischen Stößen riß der Wind an den Rosenstämmen und zerzauste Harros mühsam gehütete Lilienecke, denn es war nicht mehr lange zum Lilientag. Die Frau von Thorstein war heute gar nicht aus ihrem Schlafzimmer gekommen und hatte, wie Harro sagte, nur eine viertelstündige Audienz erteilt.

Klein Heinz, der heute ganz der Babette anheimgefallen war, war darauf verfallen, Vaters Marmorbüsten im Empfangsraum mit einer Peitsche zu bearbeiten. Schreiend wurde er hinausgetragen. Im Garten hatte er sofort Märts Gießkanne umgestoßen und sich auch, ehe es Lisa hindern konnte, in der Wasserlache gewälzt und seine Locken mit feuchtem Sand bearbeitet. Mama hatte ihn auch da wieder brüllen hören, als ihm sein Vergnügen gestört wurde. Jetzt war er sicher in der Tantenstube untergebracht, und sein Vater hatte ihm dort eine Tracht tüchtiger Hiebe erteilen müssen, weil er eben dazu kam, wie der junge Herr die Enttäuschungen des Morgens dadurch rächte, daß er Baublöckchen nach der armen Babette warf. Wie einfach war vorher die Bändigung des jungen Thorsteiners gewesen und wie schwierig wurde sie jetzt. Harro hatte sich immer eingebildet, daß Heinz' Tugend hauptsächlich s e i n e r Erziehung zu danken sei, aber nun zeigte es sich, daß der Mutter ein sehr viel größerer Teil zugekommen war.

Seufzend stieg er hinunter, während die schluchzenden Klagetöne ihm noch nachhallen. Am Treppenfenster macht er halt, man genoß hier den weitesten Überblick, und seit er seinen Saal nicht mehr betrat, blieb er oft hier stehen. Grau versponnen der Himmel. Das Land, schon im vielfarbigen Sommergewand, zeigte in dem glanzlosen Lichte ein zerstückeltes Aussehen. Dunkel schwarz glitt unten der Fluß vorbei und in kurzen Windstößen wirbelten die Rosenblätter. Hochsommer, und doch lag eine drückende Müdigkeit auf dem Land, über das die zerfaserten dichten grauen Schleier hinjagten.

Harro dünkte es, er habe Jahre an dem Fenster da verwartet, wie oft hatte er in letzter Zeit dagestanden, ruhig und traurig, seine sonst so unermüdlichen Hände auf dem Rücken und dem schweren Schlagen des Reiherfluges nachsehend.

Aus dem Atelier vertrieb ihn die Unrast. Die Bilder, die er in so ganz anderer Stimmung begonnen hatte, fremdeten ihn an, er versuchte vergeblich, sich wieder auf die gleichen Gefühle zurückzuschrauben. Diese fliegenden Reiher, diese grau zerfaserten Wolkenschleiergewebe, diese düstern, glanzlosen Wipfel da unten, das wäre ein Bild. Das gäbe einen Ausdruck für seine Stimmung: seine unruhige Sehnsucht, die metallisch dunkeln Flügel würden sie dahintragen unter diesem verschleierten Himmel. Er sah es greifbar vor sich, das Bild, in düsterer Schönheit, aber seine auf den Rücken gelegten Hände zuckten nur, er blieb stehen und ließ die Stunde zerrinnen, bis ihn der Gong zum Essen rief. Ein einsames Mahl mit Tante Uli. Alfred fehlte.

Weder der Hausherr noch die Stiftsdame sprachen ein Wort. Tante Ulrike war nicht für unnötiges Reden, wenn sie sah, wie wenig es doch verschlug. Tante Ulrike hatte reichlich Eisen im Blut ... weich war sie eigentlich nur gegen das Kind, das ihr verspätete Mutterfreuden und -schmerzen zu genießen gab. Darum fing sie erst, als Harro seine Nachtisch-Johannisbeeren verzehrte, an zu sprechen.

»Harro, du mußt mir Geld geben.«

Sie führte die Rechnung, den einzigen Teil ihrer Pflichten, den Rosmarie ungemein gern und freudig abgegeben hatte.

»Habe nichts mehr ... du mußt Rosmaries braunes Buch nehmen und sie soll ihre Unterschrift geben. Dann kann Märt nach Brauneck hinüber. Die Füchse stehen sich ja die Beine ab.«

»Ha,« sagte Tante Uli. »steht es so? – – – Wir leben jetzt ganz von Braunecks Gnaden ...«

»Was willst du,« knurrte Harro, »ich habe zu früh mein Haus frei haben wollen. Ich hätte auch damit warten können. Und dann steht noch einiges aus, was ich bekommen muß.«

»Aber es liegen doch alle Morgen Stöße von Briefen da, die du nicht aufmachst, Harro. Wer weiß, was da alles darin steckt.«

»Schon möglich.«

Harro schob seinen Teller hinweg und zündete sich eine Zigarre an.

»Harro, wenn man so am Rande ist wie du, dann würde ich wenigstens nicht so mit gekreuzten Beinen dasitzen und nicht einmal Briefe aufmachen.«

»Bin noch lange nicht am Rande. Rosmaries Goldhaufen muß auch bewacht werden.«

»Harro, du wirst frivol .... Laß mich deine Briefe aufmachen, wenn es dich zu viel Anstrengung kostet bei deinem so außerordentlich nützlich verbrachten Leben.«

»Verlangst du, daß man bei dem Wetter arbeitet?« sagte Harro matt. »Such die Briefe ab, ob du etwas Aufregendes darunter findest, dann kannst du es mir sagen.«

Tante Ulrike griff mit dem langen Arm nach dem obersten Haufen und fing an, die Briefe zu öffnen.

»Du starrst auch in den blendendsten Sonnenschein, Harro. Das Wetter ist eine Ausrede .... Hier. Von einer Dame: Mein teuerster Harro! Eine Handschrift wie gestochen ... soll ich weiter lesen?«

»Sieh doch nach dem Namen unten,« rief Harro, der schon wieder am Fenster stand.

Sie waren in Rosmaries Zimmer gegangen .... »Dein Hans Friedrich.«

»Gib!« Harro war rot geworden.

Sie gab ihm den Brief und sah, daß er ihn ungelesen in die Tasche steckte. Sie öffnete weiter. Plötzlich schrie sie auf: »Harro! Nein, du bist nicht am Rande. Sieh da, lies! Was dir einer für die Kopie von deiner Lindenprinzessin anbietet.«

Harro drehte sich nicht einmal um. »Kann er lang anbieten.«

»Harro! da sieh dir die Summe an. Davon könnt ihr Jahre leben ... Harro! So ... Harro, du erschöpfst mich .... Ja gedenkst du denn als fürstlich Brauneckscher Pensionär zu vegetieren?« Tante Ulrike hatte ihren höchsten Trumpf ausgespielt. Aber an diesem wie aus Holz geschnitzten Rücken verfing nichts. Ein leichtes Zucken der Achseln. Tante Ulrike hatte für heute ihr Pulver verschossen und ging hinüber zu dem »Kind«.

In dem großen Schlafzimmer standen die Fenster weit offen, und von Zeit zu Zeit, wie der stoßweise Wind hineinfuhr, flatterten die hellen Vorhänge auf und dann war's wieder schwül wie zuvor. Rosmarie lag auf ihrer Chaiselongue, die am Fußende des Bettes aufgestellt war, neben sich ein niedriges Tischchen mit allerhand Dingen beladen. Ein wundervoller großer Kornblumenstrauß stand in einer altsilbernen Vase. »Nun, Kind?« Aber das Kind hob kaum die großen müden Augen. Ihre schmalen Hände hatte sie unter ihr Haar vergraben, und das weiße zarte Spitzengewebe auf ihrer Brust war in leiser, zitternder Bewegung.

»Was macht Harro?«

»Er ist nicht in der glänzendsten Laune. Und er läßt dich um eine Unterschrift bitten. Hier. Die Thorsteiner sind wieder einmal arm wie Kirchenmäuse, das scheint ihnen von Zeit zu Zeit passieren zu müssen. Macht's dich nicht zu müde?«

Sie schob ihr Tinte und Feder hin.

Rosmarie hob ängstliche Augen: »Muh ich wirklich rechnen, Tante Uli? Heut bin ich zu müde.«

»Nein, Schäfchen, nein, wenn du es nicht selbst willst. Ich will es gewiß nicht. Nur deinen Namen, daß das Thorsteiner Schiff wieder flott wird. Es ist zu stark geladen und liegt auf einem Riff.«

Rosmarie sah sie verwundert an. Und nahm die Feder ... Tante Ulrike war rot bis in die Schläfen, als sie die Augen darauf fallen ließ. »Dieser faule Harro! Hier, ja hier.« Rosmarie schrieb ihren Namen, es war schon eine Arbeit für sie, obgleich die Tante ihr die Unterlage hielt.

»Ist es nun recht?«

»Gewiß, Schäfchen ... so schön hast du geschrieben. Nun ja, jetzt kann es wieder gehen. Ob es so gut für Harro ist, weiß ich freilich nicht.«

»Was ist nicht gut für Harro?« fragte sie ängstlich. »Was meinst du mit dem Schiff?«

»Ach, Herzchen, daß er sich so gar nicht zu rühren braucht und seine Tage so verdämmert und du ihm mit einem Federstrich verschaffst, was er sich eigentlich erringen müßte. Ob das so gut ist ...?«

Rosmarie errötete ein wenig, sie hatte jetzt erst begriffen. »Es war sehr unnötig, daß Harro es beim Vater durchgesetzt hat, daß alles auf meine Unterschrift geht. Es ist doch seine Sache. So gut ich ihm gehöre, so doch alles, was ich habe oder hatte.«

»Die Thorsteiner sind sonst nicht so gerne aus fremden Schüsseln satt geworden, und es wundert mich, daß sich Harro so schnell daran gewöhnt.«

Rosmaries große graue Augen wurden naß. »Es sind doch keine fremden Schüsseln, und ich möchte Harro jetzt sehen. Vielleicht ist er traurig ...«

»Aber Herzblatt, so mußt du es nicht nehmen ... Nein, es ist alles recht ... natürlich keine fremden Schüsseln, ein ganz dummes, altmodisches Wort von deiner altmodischen Tante, ich dachte nur, wie gut es wäre, wenn Harro wieder etwas täte. Seine Briefe liest er nicht einmal.«

»Dann ist er sehr, sehr traurig, Tante. Ach, man läßt ihn gar nicht zu mir.«

Die alte Dame nahm die ach so durchsichtig feine Hand in die ihre, auf der die bläulichen Schatten liefen, und sagte: »Kind, wenn das Schlänglein da an deinem Halse nicht wäre, das blaue Schlänglein, das so klopft ... Kind, sag doch selbst! Wenn du diesen langen Menschen jetzt bei dir hast, er ist wie lauter zähe, alte Buchenknorzen heute; so wirst du so schlimme Dinge anstellen ... du fühlst das Gewitter. Heinz schreit den ganzen Morgen. Das Kind spürt es auch, er weiß nicht, was er will. Unerträglich schwül ist's, Kind. Du mußt jetzt versuchen, ein wenig zu ruhen ... Du siehst selbst ein, daß du dich jetzt nicht mit widerhaarigen, schlechtgelaunten Männern abgeben kannst. Eine kurze Zeit Geduld noch, Kind!«

Sie nickte ihr zu und ging mit ihrem braunen Buch hinaus. Nein, es war doch nicht drückend, von Rosmarie etwas zu empfangen, ihr ganzes Wesen war so von demütiger Liebe erfüllt, daß ihr der Gedanke, daß sie noch ein Verfügungsrecht über ihr Eigentum hatte, nur schmerzlich war.

Harro stand immer noch am Fenster. Sie sagte: »Harro, du hast eine gute Frau ..., die muß der Himmel für dich herausgesucht haben, gerade weil sie so weich ist. Hart trifft bei dir immer wieder auf hart...«

Aber er gab darauf keine Antwort, sondern schlenderte langsam in den Garten, wo der Rasen voll abgewehter Rosenblätter lag. Düster hing der späte Nachmittag über dem Thorstein, ein leises fernes Murren ließ sich hören, und zuweilen vergoldete ein ferner Blitz das graue Wolkengeschiebe.

Rosmarie hatte selbst nicht mehr nach ihrem Manne verlangt. Nur Tante Ulrike saß wieder bei ihr, als der frische Abend einbrach. Nun wehte kein Lüftchen mehr, kein Baumrauschen, nur der Brunnen erklang im Hofe. Das Licht glühte auf im Vogel Rock, alle Fenster standen weit offen, und doch war nirgends nur das leiseste Bewegen in den Vorhänge. Und nun kam das Knurren näher und näher, wie wenn die Burg auf dem Berge umlagert wäre von drohenden Ungeheuern, und überall an den Horizontlinien liefen glühende Fäden hin und her, zerrissen dort die Finsternis auf eine Sekunde und grenzten hier eine dunkle Hügelwelle, dort einen Waldrücken gegen den Himmel ab.

Tante Ulrike saß ängstlich neben dem Kinde. Der Herr Hofrat war schon dagewesen, hatte Rosmaries matte Erregtheit auf die schwüle Luft geschoben, und es war ihr doch ein gewisser Ernst des Mannes nicht entgangen. Rosmarie hat seit jener Nacht nie mehr ein Wort über ihre Krankheit gesprochen, als wären jene Worte nie gefallen, so war es zwischen ihnen. Nein, nein, das Kind würde eine lange schlimme Zeit haben, aber es ist ja zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt. Nein, das alte Herz, das sich noch einmal einer so innigen Liebe geöffnet hat, hält ihn fest, den köstlichen Besitz, das Wunderkleinod. Rosmarie hat ja nie eine Mutter gehabt und dieses selbstverständliche Verlangen und Hinnehmen gekannt, denn das köstlichste Teil der Liebe zur Mutter ist, daß man immer gibt, wenn man nimmt. Rosmarie ruhte. Jede Berührung ihrer Hand war wie eine süße Wohltat für Tante Uli, die für jedes Lächeln dankbar war. Und wenn sie litt, so brauchte sie es vor der alten Dame nicht zu verbergen. Die wußte es ja doch und sie stand so tapfer dabei. Sie ließ nie merken, daß es ihr selbst das Herz zerschnitt. Und doch konnte Rosmarie sie keine Sekunde für gefühllos halten. Und sie war immer ein wenig heiter mit ihren trockenen kleinen Redensarten, und ihre Hände waren weich und stark, und jede Berührung tat wohl. Sie war eine Mutter. In ihren alten Tagen war sie es geworden. Sie war eine große Menschenkennerin, die Tante Uli, und pflegte mit Stolz von sich zu sagen, sie habe sich noch nie im Leben in einem Menschen getäuscht, sondern jedem sofort an der Nase angesehen, was er wert sei. Und Rosmarie hatte ihr vom allerersten Anblick bei ihrer Hochzeit das Herz abgewonnen. Freilich hatte sie damals nur an mehr oberflächliche Beziehungen gedacht und gemeint, die junge Prinzessin werde wohl kein so ausgeprägtes Bedürfnis nach alten Tanten haben. Und nun war es doch so gekommen.

Ach, und heute litt ihr Mutterherz... Es war, als gäbe es ihr jede Sekunde neben dem weißen Bett deutlicher ein: wir haben umsonst gehofft... So unruhig und so matt ist das Kind. Ihr weißes Gesicht ist ganz umflutet von den goldenen Haarwellen, so wirft sie sich hin und her, und ihre Hände auf der dünnen blauseidenen Steppdecke halten keinen Augenblick still.

Und jetzt kommt Leben in die Vorhänge, ein leises Wehen, dann ein Stoß, daß sie emporflattern. Rosmarie zittert schon vor Kälte, ehe Tante Uli nur geschwind alle Fenster schließen kann. Und dann wirft sich der Sturm herein, und alle Ungeheuer, die um die Burg gelagert sind, öffnen ihre Feuerschlünde.

Rosmarie fährt zusammen. »O Tante Ulrike, war denn je ein solches entsetzliches Gewitter? Ich habe mich doch nie gefürchtet. Hast du je einen solchen Donner gehört? Mach die Vorhänge zu: ich kann die Blitze nicht sehen ... Ach, das große Licht... Liebste.«

Ein Heulen. Brausen und Toben ist in der Luft, und wie kurze Kanonenschläge kracht der Donner. Und jedesmal, wenn ein Schlag fällt, erzittert Rosmaries ganzer Körper, und ihre Hände verkrampfen sich an den Kissen. Das goldene Licht der Krone selbst kann die grellen Blitze nicht verdecken.

»O Tante Uli, sieh nach dem Kinde!« stöhnt sie.

»Ich kann dich jetzt nicht verlassen, mein armes Herzblatt. Harro ist bei ihm. Ich sehe sein Licht nicht mehr, er ist gewiß oben...« Ein neuer Schlag, da geht die Tür auf und Harro kommt herein.

»Ich habe geklopft, ihr hörtet mich nicht. Ich wollte sehen, ob Rosmarie sich nicht aufregt.«

Tante Ulrikes Gestalt hatte ihm seine Frau verdeckt. Nun drehte sie sich um, und Harro beugt sich über sie. Einen Augenblick nur, dann sagte er: »Gott steh mir bei...« und wieder ein Schlag, und wieder rann das Zittern durch ihre Glieder, als hämmere der Schlag auf ihr armes Herz.

»Harro,« stöhnte sie, »hilf mir, so hilf mir doch! Warum kommt der Donner auf mich?«

»Nimm sie auf deinen Arm, Harro!« flüsterte ihm die alte Dame zu. »Ich will dir helfen. Wie es der Professor damals getan hat.«

Er hielt sie in seinem Arm, das aufgelöste blasse Gold ihrer Haarwellen strömte über seine Schulter und er fühlte das harte unruhige Stoßen ihres Herzens. Noch ein schweres verhallendes Rollen und draußen strömten die Wasserfluten.

»Danke dir.« flüsterte sie, als ob er den Winden gebieten könne. »Heinz?«

»Er schläft, Rose. Er ist nicht einmal aufgewacht.«

»Ich bin so dankbar, daß du gekommen bist. Harro. O Harro, Lieber, warum war denn der Donner im Zimmer? Er rollte über mich hinweg wie ein schwerer Wagen.«

Harro gab ihr keine Antwort, nur Tante Ulrike tröstete. »Du hast es mehr gefühlt, weil du krank bist, mein Herzblatt.«

»Ja, ich bin sehr krank, heute bin ich sehr krank, oh, mein armer Harro! Und den ganzen Tag schon war ich krank, und sie ließen dich nicht zu mir. Und ich wollte dich doch trösten, Harro... Aber ich war zu müde dazu. Halt mich doch in deinem lieben Arm... nun regnet's auf meine Lilien, meine armen, und der Sturm zerknickt sie, Harro!«

»Ja, er zerknickt sie,« sagte er leise.

»Nicht alle, Herzenskind,« tröstete Tante Ulrike. Harro beugte sich sanft über Rosmarie herab und küßte den blassen Mund, da ging die alte Dame leise hinaus.

Draußen strömte der Regen eine herrliche duftende Kühle, und der Atem vieler Rosen zog durch den Raum. »Harro,« sie sprach so leise, »sie sagten, du seist so traurig ... warum kommst du nicht zu mir?«

»Sie ließen mich nicht... ich könnte dir schaden, sagen sie. Aber es ist nicht wahr. Habe ich dir nicht heute den schlimmen Donner verjagt?«

»Wie du kamst, war's besser... Warum läßt du mich deine Augen nicht sehen, Harro? Immer siehst du hinweg. O Harro, du weinst.«

»Nein,« lügt er, »es ist das Licht.«

»Ach, nicht weinen, du mußt mir helfen, Harro. Du siehst doch, daß ich kämpfe. Immerfort kämpfe ich. Für dich, Harro, um mein armes Leben. Wärst du nicht gekommen, ich hätte das Rollen und Stoßen auf mir nicht mehr ertragen. Und ich darf dich doch nicht allein lassen, Harro.«

»Wie kann ich dir kämpfen helfen, Seele... wie kann ich's denn?«

»Ach, weiß ich das... du sollst bei mir sein, du sollst mich nicht so viel allein lassen. Die Quelle, nun ist sie ein Bächlein geworden – es rauscht so stark, und wie die Sternblumen duften.«

»Ich lasse dich nicht mehr allein. Ich stehe jetzt bei dir. Nein, auf fremde Quellen sollst du nicht hören. Es ist unser lieber alter Brunnen, der rauscht. Ach, was für kostbare Stunden ließen wir uns nehmen, und du hast deinen armen Harro vor deiner Tür vor Warten fast vergehen lassen! Nun machen wir es, wie wir es wollen. Sie haben dir nicht gut getan mit ihrer Ruhe. Ich bringe dich wieder in den Wald. Unter dem Kastanienbaum kannst du auch schön still liegen, und die Tannen rauschen dich in den Schlaf. Und die Rehe kommen ganz dicht heran, und es fällt im ganzen Walde kein einziger Schuß. Den ganzen Tag rufen die Waldtauben. Und nachts spinnen die weißen Nebel. Silberne Gewänder spinnen sie, und morgens ist alles mit Diamanten bestickt. Und die Hasen spielen Verstecken am Rain. Und wenn der Mond kommt und du im Sälchen in deinem schönen weißen Bett liegst und die Tannen draußen ganz versilbert stehen, dann hörst du eine wunderfeine Musik wie aus weißen Nebeln und Mondschein gewoben. Das ist Hans Friedrichs Geige. Er ist unten in der Veranda und seine Geige singt dich in den Schlaf.« Durchsichtig zart und weiß mit zart geröteten Lippen und fest geschlossenen Augen, unter deren schwerem Lid der kostbare Edelstein noch eben hervorleuchtet, liegt sie und horcht und lächelt... Ist das Harro? Kann er denn solche sanften lieben Bilder vorzaubern? Nun ist plötzlich in ihrem schönen Antlitz das Seelchen wieder erwacht. So lächelt sie. Ihre Hände haben sich gelöst und hängen wie sanfte weiße Blumen herab ... Auch das wilde Stoßen des Herzens hat aufgehört.

»Ich will noch mehr hören, Harro ... Von dem himmlischen Garten sprichst du doch, denn von dem andern... du siehst doch, ich kann nicht mehr.«

»Vom himmlischen Garten weiß ich nichts, Liebste... Ich spreche von unserem Waldhaus.«

Ihre Hände zucken in die Höhe, als müßte sie versuchen, sich zu erheben, sie sinken zurück.

»Auf meinen Atmen kommst du dahin, Rose... So wie du jetzt dein liebes Haupt daherlegst...« Immer röter werden ihre Lippen, und nun öffnet sie ihre fieberblanken Augen.

»Ja, ja, Lieber,« sagte sie hastig, »nur ist das so sonderbar, daß ich hier angekettet bin. Und wenn du mich in die Höhe heben willst, so hoch, daß du mich auf die Römerwiese heben kannst, so reißt du doch an den Ketten...«

»Tante Uli...« rief Harro... »Sieh die Rose!«

»Sie hat Fieber, sie hat hohes Fieber, Harro... das ist immer so, das Gewitter hat sie angegriffen,« raunt sie ihm zu. »Gib ihr das.« Sie bringt ihm eine kleine Tasse. »Wenn sie es nimmt, ist es gut.«

»Rose, trinke das!«

Aber sie schüttelte... »Dann schlafe ich den schweren häßlichen Schlaf und du gehst fort.«

»Ich gehe nicht.«

»Aber ich fühle dich nicht mehr, Harro.«

Ulrike zuckt die Achseln. »Zwinge sie nicht... wenn sie von selbst einschläft, ist es noch besser... Sie ist nicht ganz klar.«

»O doch,« sagt Rosmarie scharf. »Ihr seht nur die Dinge nicht ganz recht. Und Harro weiß zu wenig von dem himmlischen Garten. Die Geige, das gefiele mir. Und die Töne, die sich verspinnen wie Mondschein-beperlte Nebelfäden. Ach, wie mich das freut. Still, Harro, daß es der Tyrann nicht hört. Freude, das Wort ist ihm schon zu viel. Immer still. traurig und Ruhe, so will er es. Aber wir überlisten ihn, Harro. Wir tun stille, traurig und ruhig und sind doch an den himmlischen Gärten. Sieh, wie die Sternblumen durch das Gitter hängen. Und das alte Weib in der schwarzen Florhaube mit den langen Seidenbändern, die da mit dem schwarzen silberbeschlagenen Buch in den Händen geht, das ist Märts Mutter. Sieh, wie wunderbar, der lange Märt, schier so groß und breit wie du und hat so eine klein winzige Mutter. Du mußt sie grüßen, Harro, damit sie nicht denkt, du seist hochmütig.«

»Ich grüße sie, Liebste...«

Ulrike war ängstlich. »Das Kind spricht zu viel; du mußt mit ihr reden, Harro!«

»Rose, soll ich dir von dem schönen blauen See erzählen, wo wir dich jetzt hinbringen werden, und wie das Abendgold hineinfällt und du in dem kleinen Boot liegst und alles um dich herum ist golden und blau. Und ich rudere dich, und jeder Ruderschlag zieht einen goldenen Streifen durch das Blau... Wir nehmen das Auto und sind in einem halben Tag dort. Oder wir fahren durch die Nacht und du schläfst, und wenn du am andern Morgen aufwachst, dann sieht der See durch die Bäume wie ein Stück heruntergefallener Himmel.«

»Ja, Harro, wenn die Ketten nicht wären und der Abgrund. Lieber, du läßt mich doch nicht fallen. Du hältst mich ganz fest. Die Tiefe ist so gräßlich –... Man muß immer den Abgrund bedenken, Harro.«

»Ich halte dich sehr fest, Rose. Ich habe so starke Arme. Und wenn ich dich bis an den See tragen müßte, Rose.«

Sie lächelt zu ihm auf. »Du bist so gut, Harro, und ich bin sehr glücklich. Ich bekomme immer meinen Willen, sagen sie...« Sie lachte leise. »Tante Helen meint: Biskuitporzellan. Natürlich, das zerbricht leichter, und wenn es einen Sprung hat, dann muß man auch viel feiner damit umgehen. Und alles zulieb tun, wie Tante Uli. Oh, meine liebste, beste Mutter Uli. Sie läßt sich quälen und ist noch froh darüber.«

Harro sah auf die greise steife Tante. Ja, war sie das noch, die jetzt die Hand seiner Frau an ihre Wange hielt, auf der ein Rot brannte, und aus deren Augen alles Stählerne verschwunden war. Dieselbe Tante Ulrike, die heute so spitzige Pfeile nach ihm abgeschossen hatte! Und wie ihre Stimme klang, die tiefe Altstimme, woher kamen ihr nur auf einmal die dunkel-weichen Töne?

»Kind, wer dir dienen darf, ist froh darum, und wenn du ganz gesund bist und keine schlimme alte Tante mehr brauchst, was wird sie tun? In dem Winkel wird sie sitzen und weinen.«

»Ach, das wirst du nicht tun, Tante Uli. Denke, welchen kleinen Weg du noch zu mir haben wirst. Der arme Harro hat einen langen Weg. So allein... Harro, halt fest, du läßt mich fallen. Du zitterst ja...«

Ulrikens Augen wurden plötzlich die alten. Sie warf ihm einen Blick zu. »Es ist nichts, Herzblatt, sein Arm ist nur ein wenig müde. Ich schiebe ihm ein Kissen unter, dann ist's gut. So, Harro. Das muß man auch lernen. Du siehst ja, was für ein feines Porzellan es ist.«

»O Harro, ich glaube, ich sage Dinge, die ich nicht wollte. Ich habe dir weh getan. Ihr habt recht, ich habe wohl Fieber und bin nicht so ganz klar. Es ist ja mein Schlafzimmer und es kann nirgends ein Abgrund sein. Und die Brücke, die da über den breiten Strom geht, der so dunkel und brausend daherfließt, die träume ich auch nur. Wieder ziehen und gleiten die großen und kleinen Wellen... das kann nicht mein alter kleiner Bach sein. Der Strom, wie er rauscht und tost. Er geht ins Meer. Ins große Meer... wenn du ganz still bist, kannst du durch sein Tosen hindurch die Brandung hören... Meinst du, daß ich über die leichte Brücke hinüberkomme zu den Gärten dort?«

Harro ließ sie sanft auf die Kissen gleiten... Sie schien es kaum zu bemerken. Ulrike hielt ihre Hände fest. Sie sah mit ihren strengsten Augen zu ihrem Neffen hinauf und dann zur Türe.

Harro ging hinaus in das dunkle Wohnzimmer, vor dessen offenem Fenster der Regen niederrauschte wie ein gleichmäßiger Strom. Dort warf er sich auf den Boden, und über sein Herz rauschten die bitteren Wasserfluten. Ein rufender Jammer hielt ihn gepackt und ein wildes Grollen zugleich... »War ich nicht dankbar genug, als sich die Wagschale neigte und sie mir von Leben sprachen? War ich nicht bereit, alles dahinzugeben, habe ich nicht mit mir gekämpft, daß ich mein altes Selbst niederringe? Meine alte Welt habe ich selbst zertrümmert, ich habe keinen Winkel in mir behalten, wo ich das neue Licht nicht hereingelassen hatte.«

Und seine wilden Gedankenrosse rissen ihn dahin. »Unbegreiflich bist du, Gott. Furchtbar. Immer neue Schleier webst du vor dein Angesicht. Ich wollte dir dienen. Du weißt es, daß ich aufrichtig bin. Aber du nimmst sie mir, ja meine Seele nimmst du mir ... Meinen blauen Himmel. Ich werde sehen müssen, wie das Licht aus ihren Augen geht. Ich werd es vielleicht ersehnen, wenn ich sie noch einmal so daliegen sehen muß wie da, als der Donner über sie hinrollte. Grausam bist du, Gott, und deine schönsten Blumen triffst du am härtesten. Und keinen Ort hast du gelassen, wo ich die Seele vor dir berge. Entfliehen kann ich dir nicht mehr. Wenn ich noch frei wäre, wenn ich noch trotzen könnte wie früher. Aber du hast mich zerbrochen ... ich wehre mich gegen dich und deinen Willen und muß deine bittern Wasser über mich rauschen lassen, wie meine armen Lilien da draußen den Regen. Wenn ich noch frei wäre, ich würde ein Ende machen mit dem Jammer da drüben. Und mit mir ein Ende. So sanft käme sie hinüber in ihre himmlischen Gärten. Ich könnte ihren letzten Atem trinken von ihren Lippen, und sie vertraute mir. Und meine Arme würden nicht zittern... Und das Kind ließe ich dem Vater. Und wir schliefen zusammen. Aber den Glauben daran hast du mir zerrissen. Wie einen dünnen Fetzen Tuch, mit dem ich mir dein Licht verdecken wollte. Und meine Seele liegt vor eisernen Türen und deine Nähe, deine furchtbare Nähe, hält das Gewand von Fleisch und Bein und der Betrug des Tages nicht mehr ab. Ich werde es mit ansehen müssen. Ich werde dabei stehen. Gottes Will hat kein Warum.«

Leise Schritte kamen von der Tür her. Er hob seinen Kopf nicht: wie ein Erschlagener lag er da, seine Fäuste vors Gesicht gedrückt... Ein Licht flammte auf. Die alte Dame wäre beinahe über ihn gefallen.

»Harro,« sagte sie, »ich habe dem Kind das Morphium doch aufzwingen müssen, es grämte und ängstigte sich um dich. Nun schläft sie oder liegt wenigstens ruhig.« Sie setzte sich steif und aufrecht neben ihn auf das niedere Sofa. »Ich habe Babette geholt, daß sie bei dem Kind sitzt, und ihr versprochen, daß ich nach ihr sehe, sonst hätte sie das Zeug nicht genommen. Steh auf, Harro, du mußt ja doch hindurch.«

»Ich kann nicht. Ich ertrag's so besser. Ich bin ein böser Hund heute. Das ist wohl auch Gottes Will.« Er lacht ein wildes Lachen.

»Ja, Harro, mit dir hat die Rose noch einen schlimmen Kampf vor sich. Und einzubilden brauchst du dir nicht, daß sie etwas nicht wisse, was du treibst. Sie weiß es ganz genau. Das wird auch Gottes Will' sein... daß sie das von dir hört, Harro!«

Er schwieg. Dann sagte er: »Warum hast du mir all die Zeit gestohlen?«

»Harro, ich mußte tun, was der Herr Hofrat verlangte. So wie heute war es noch nie. Und dann fürchtete ich mich vor dir, und was die arme Rose noch mit dir ausstehen würde. So, wie du bist, Harro! Daß du sie nicht einmal in deinen Armen ruhig halten kannst, obgleich du wissen mußt, wie glücklich und dankbar sie darüber ist. Nein, du mußt fortrennen und uns allein lassen.«

»Ich habe es noch nicht gelernt, das Danebenstehen und das Mitansehenmüssen, wie du. – Tante Uli,« stöhnte er, »wenn du nur so gut wärest und ließest mich wenigstens allein. Ich verlange nichts weiter. Aber so verwundet, wie ich bin, und das Stachelbett, auf das du einen legst, auch noch dazu.«

»Es wäre mir wohl auch lieber, neben der Rose zu sitzen und sie von ihren himmlischen Gärten und Märts Mutter flüstern zu hören, als neben dir. Aber ich kann nicht anders, ich habe Dienst. Die Rose selbst hat es befohlen.«

»Du sollst mich wohl trösten, Tante Ulrike, und du tust das auch, nicht wahr? Auf deine Art und Weise. Vielleicht nicht ganz so, wie sich die Rose das gedacht hat, dein Trostamt.«

.Trösten?« rief Tante Ulrike mit ihrer tiefsten Stimme. »Trösten? Als ob es dafür einen Trost gäbe! Ich wüßt keinen: Wenn du sie verlieren mußt, dann kann dich Gott im Himmel selber nicht trösten. Nein, das versteh ich nicht. Du mußt hindurch. Durch alle sieben Wehe. Das seh ich auch kommen. Sich jetzt noch einen blauen Nebel vormachen, das hat keinen Wert. Der Strom und die Brücke. Ich kenne das. Aber ich denke an die Rose. Wie wir ihr hinüber helfen. Wir sind auch aus lauter Liebe grausam gewesen. Nicht einmal ihren Herrn Stiftsprediger, den sie gewollt hat, haben wir ihr geholt. So haben wir uns von den Doktoren tyrannisieren lassen. Natürlich, so lange du so bist wie jetzt, ist es ja nur gut, wenn man dich von der Rose fern hält...«

»Hast du noch ein paar Stacheln, Tante Ulrike, so stoß zu, aber schnell. Ich glaubte schon, du fingest an, mich zu trösten.«

»Harro, was tue ich mit dir und der Rose? Du mußt es anhören lernen, wenn sie von himmlischen Gärten spricht. Hart für dich, hart. Du mußt lernen, sie in den Armen halten, ganz ruhig, wenn ihr Herz in ihrer Brust wie ein armer Vogel flattert. Du mußt einen kleinen Scherz mit ihr machen, wenn sie so matt ist, daß sie kaum die Augen heben kann. Wenn es am schlimmsten ist, darfst du sie mir nicht hinlegen und hinausgehen. Sie macht es dir nach einer Seite hin nicht schwer. Denk, sie könnte auch jammern um ihr junges Leben und um ihr Kind und um ihr bitteres Leiden... Ihr unschuldiges Leiden. Da hörst du aber keinen Ton. Ich sehe sie an, zu jeder Stunde sehe ich sie und immer größer wird sie mir... Und sieht so sanft und zart aus und hat so viel Stahl in sich ... Oder das ist es nicht. Es ist Gold. Schönes, reines Gold, das wird immer heller von den himmlischen Tränen.«

Harro zog seine eine Hand unter dem Kopfe hervor und streckte sie aus: »Woher?« Dann verstummte er wieder.

»Ja, woher nimmst du das, meinst du. Da könnte ich dir manches sagen, Harro, aber du wirst's nicht hören wollen, dein alter Thorsteiner Trotzkopf nützt dir jetzt wenig. Dann hilft dir auch die Rose selbst. Sie wird morgen erschrecken, wenn sie sich noch erinnert, was sie alles gesagt hat... Wenn du einmal so ganz einsiehst, wie ihr Herz in dich verkettet ist –«

»Einsiehst,« rief er... »Mußt du sie mir denn erklären?«

»Ja, es kommt mir nötig vor, denn irgendwie muß sie dich immer fühlen... Darum habe ich ihr jetzt das Morphium gegeben. Wenn du das bedenkst, Harro, so mußt du ihr auch nicht den wilden Mann machen. Zähne zusammen beißen und ihr so viele schöne Stunden bereiten, als du kannst. – Harro, du hast die sieben Seligkeiten gehabt. Wüte also jetzt nicht, als ob noch nie ein Mensch ein solches Schicksal getragen hätte. Es gehen manche dahin in Schuld. Müssen in ein Grab hineinsehen mit ihrer Schuld. Du hast deiner Rose nur ein großes Glück gegeben. Ihr ganzes Herz ist voll davon. Weine, mein armer Bub, es tut so gut, wein dich aus. Sie sagt: Harro hat mich halb erfroren aufgehoben und hat mich auf seinen Arm genommen, und so lang sie ihn ließen, mich darauf getragen. Sie vergoldet dich über und über. Nun muß man sie wieder auf den Arm nehmen und dahin tragen. So wie du es heut abend gemacht hast mit lieben, sanften Worten. Hast du gesehen, wie sie lächelte? Glaubst du, daß sie in dem Augenblick noch gelitten hat? Ihre feinen Hände öffneten sich, und ihr Mund war so wunderschön, du hast ihn vor mir geküßt, so holdselig war es. Deinen grimmen Schmerz, ja den mußt du in den geheimsten Winkel hinunterstoßen für nachher. Man weiß ja nicht, was kommt. Das Morgen heut zu beweinen, hat keinen Sinn. Das kommt schon und bringt seine Last mit, und das Heute hat genug aufgepackt. Denk, wie du ihr die Last erleichtern kannst.

Danke schön, sagt sie zu dir, wenn das Gewitter nachläßt. Denk nicht, sie würde dich für gefühllos halten, wenn du einmal heiter mit ihr bist. Ach, dazu ist sie zu fein, du hast's ja gehört. Vom allerfeinsten Porzellan...«

Harro hob seinen Kopf und sagte mühsam: »Wenn ihr mich vor der Tür stehen laßt.«

»Nein, nein, das nicht mehr. Aber nur, wenn man sie dir ruhig anvertrauen kann. Der wilde Mann bleibt draußen ...« Damit erhob sich die alte Dame, die neben ihrem hingeschmetterten Sohn so gerade gesessen hatte. Sie ging zur Tür und drehte das Licht aus und ließ ihn im Dunkeln, als müßte sie seinen Anblick selbst hinter Mauern vor Rosmarie verbergen.

Schon stand die Sonne sehr hoch am Himmel, als Harro an Rosmaries Schlafzimmer klopfte. Seine Tante kam heraus, die Nacht sah man ihr nicht an. Sie warf einen mißtrauischen Blick nach ihm: »Du erwartest doch nicht, daß nach einer solchen Nacht die Rose sehr wohl ist?«

»Nein, etwas Gutes erwarte ich vorderhand nicht mehr. Wie lang muß ich antichambrieren? Weil ich sonst lieber sitze; ich habe einen Weg gemacht.«

»In den Wäldern herumgerannt? Meinst du, wir wissen es nicht. Und es ist Zeit, daß du kommst... geh nur hinein! ...«

Es war gut, daß die Tante ihn vorbereitet hatte. Rosmarie lag matt und weiß in ihren Kissen, als habe sie seine Schmerzenswege mit ihm wandern müssen. Aber sie war allein. Tante Ulrike vertraute ihm doch trotz ihres Empfanges. Er glitt vorsichtig auf den Stuhl neben ihrem Bette und legte ihr zwei lange, schneeweiße Waldglockenstengel auf die Decke.

Ihre weißen Hände griffen danach, und sie sagte: »So weit bist du gegangen, Lieber, bis zum Hirschgraben, da wachsen die doch nur.«

»Bis zum Hirschgraben, Rose. Nach dem Waldhäuschen hab' ich gesehen, ob wir dich nicht doch einmal hinausbringen, aber ich fürchte, es wird etwas eng hergehen. Zur Not geht's aber... Und wie du dahin kommst, brauchst du dich auch nicht zu sorgen.«

»Ach, du bist so gut, Harro, aber ich will lieber hier bleiben. Das liebe Goldhaus. Und vielleicht möchte ich am liebsten einmal nach Brauneck. Solange Mama fort ist. Ich war jetzt nie mehr dort über Nacht, und für Vater wäre es auch so schön. So allein ist er jetzt in dem großen Haus. Und ich würde in meinem alten Muschelbett schlafen und meine Linde rauschen hören. Jetzt blüht ihre Nordseite.«

Harro würgte etwas hinunter. Warum wollte sie denn nicht in seinem Hause bleiben, wo alles ihr zuliebe entstanden und für sie zugeschnitten war?

Sie fühlte es sofort und sagte: »Jetzt noch nicht, Harro, erst später. Zuvor habe ich noch andere Wünsche. Ich möchte im Atelier liegen. Ich habe Tante Ulrike schon so viel gequält darum. Und du sollst eine Leinwand aufspannen.«

»Es sind Leinwände aufgespannt, große und kleine, Rose.«

»Harro, wenn ich dir zusehen könnte...«

»Rose,« sagt er mühsam, »du kannst gewiß alles von mir verlangen, aber sei lieb und tu das jetzt nicht. An Klecksereien, wie ich sie jetzt doch nur zustande bringe, hättest du auch keine Freude.«

»Harro, wann willst du denn das schönste Bild malen? Weißt du, ich sprach dir doch immer davon, als ich noch dein Seelchen war.«

»Mein schönstes Bild hab' ich schon gemalt, die Lindenprinzessin, und es ist mir einsam im Herzen, daß es heraus ist.«

»Harro, ich habe mir so brennend gewünscht, daß ich dir noch einmal zusehen darf...« Sie verbesserte sich ängstlich. »Ich meine, bei dem Bilde zusehen. Ich könnte so schön still dabei liegen und wäre bei dir und könnte dir so wundervoll drein reden. Du weißt, das tu ich so gern.«

»Dann ist's mir sehr schmerzlich, daß ich dir die große Freude nicht machen kann.«

»Aber warum denn nicht?« fragte sie mit ihrer alten Hartnäckigkeit.

»Liebe Rose, weil ich nicht weiß, was ich machen soll und weil man selbst dir zulieb Bilder nicht wie Ostereier malt. Wenigstens solche, die deine Kritik aushalten sollen. Ich weiß noch etwas anderes, was dich freut, Rose, wenn du das einmal anhören willst. Hans Friedrich schreibt mir. Sehr lieb, wie du dir denken kannst. Das alte Chorwerk! Er sitzt ja seit März daran, weil er zuvor immer wieder an der Arbeit erlegen ist. Da mußt du ihn einmal ermahnt haben, und für dich tut er alles. Es muß eine kleine Sisyphusarbeit gewesen sein. Die einzelnen Blätter waren in gar keiner Weise numeriert oder gekennzeichnet, sondern alles war durcheinander gekommen. Die Schreiberin oder der Komponist müssen von einem plötzlichen Ereignis überrascht worden sein, oder es kamen fremde Hände darüber, die keine Ahnung hatten, um was es sich handelte. Da hat er entwirren müssen. Mehr als einmal habe er alles zurückschicken wollen, um so mehr, als er ja gar nicht wissen konnte, ob sich die Riesenmühe auch lohnen würde. Aber er hat vor dir Angst gehabt, Rose. Du könntest unzufrieden mit ihm sein. Und schließlich fand er auch so eine Art Faden. Und es muß sich gelohnt haben. Er tut noch geheimnisvoll, und er fragt an, ob er dir einmal etwas daraus vorspielen dürfte. Er ist ja sehr bescheiden, fürchtet, uns jetzt ungelegen zu kommen und meint, er könne ganz gut im ›Stern‹ wohnen.«

»O Harro, wie ich mich freue! Wie ich mich freue. Du sprachest doch gestern von Hans Friedrichs Geige.«

»Ja, ich dachte mir, es wird dich freuen. Und wohnen wird er natürlich bei uns. Ich bin froh, wenn ich ihn habe. Und abends macht er dir schöne Musik. Ja, und dabei kannst du schon liegen; greift es dich zu sehr an, dann kannst du im Schmollwinkel sein. Da hörst du nur, was dich freut.«

Rosmarie hatte schon wieder ein wenig rote Wangen bekommen. »Ach, du hast mir eine Freude gebracht. Weiß Tante Uli es schon? Einen Morgenkuß hast du mir aber nicht gegeben, Harro!«

»Ich wußte nicht, ob ich es wagen dürfte.« Er beugte sich über sie, und seine Lippen brannten auf ihrer Stirne. Dann ging er schnell hinaus, es war doch noch zu gefährlich, sie zu küssen.


 << zurück weiter >>