Balduin Groller
Vom kleinen Rudi
Balduin Groller

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Rudi lernt schreiben.

Rudi lernt schreiben – das heißt er kann es schon.

Große Epochen lassen sich nicht genau auf den Tag abzirkeln und ihr Beginn auf die Stunde präzis feststellen. Wann schließt das Mittelalter ab, und wann hebt die neue Zeit an? Ganz genau wissen wir das nicht; so um die Zeit herum, da das Schießpulver und die Buchdruckerkunst erfunden, Amerika entdeckt worden ist und die Reformation ihre Flutwellen über die Welt warf. So werden auch die Geschichtsforscher nie ganz genau erheben können, wann eigentlich Rudi begonnen hat, schreiben zu lernen.

Bevor er noch in die Schule ging, gab man ihm zu Hause einen Bleistift in die Hand und ließ ihn gewisse Striche machen zu ihm dunklen und rätselhaften Zwecken. Dann kam der große Tag des ersten Schulbesuches. Wer da nicht dran glauben will, daß die Menschheit doch fortschreitet, der fasse nur unsere liebe Schuljugend ins Auge. Es sind doch »bessere Menschen«, als wir es waren. Ich bitte um die Erlaubnis, es ganz unter uns, uns Großen, aussprechen zu dürfen, daß wir ganz beträchtlich nichtsnutzigere Geschöpfe waren, als die Kinder von heute, und daß es eigentlich ein sehr unbegründetes Recht ist, das wir uns da herausnehmen, indem wir sie gelegentlich recht fest abkanzeln und heruntermachen. Ich weiß, es muß sein, und ich sage es deshalb auch nur ganz unter uns.

73 Und die Schulen erst! Der Unterschied ist so erheblich, daß man sich wundern muß, daß er nicht allseitig lebhafter empfunden wird. Das kommt aber daher, weil uns Großen das Leben viel zu viel zu schaffen macht, als daß wir genügend Muße und Stimmung finden konnten, uns mit Betrachtungen über die Entwicklung des Schulwesens zu befassen. Wir mußten noch mit Zuckertüten, mit Äpfeln und Schokoladetafeln in die Schule gefoppt werden, und selbst da wollten wir noch oft genug nicht anbeißen. Heute laufen die Kinder mit größtem Vergnügen in die Schule ohne alle Fopperei und machen ihre Aufgaben, ohne daß man mit dem Stecken hinter ihnen stehen müßte. Sie sind zwar auch heute noch keine Blasengel mit Flügeln, aber sie sind viel anständiger, sittsamer und fleißiger, als wir es waren. Ich bitte um Entschuldigung, falls jemand anderer Ansicht sein soll, allein ich glaube, daß die allgemeinen Tatsachen mich berechtigen, das auszusprechen.

Also die Kinder der jetzigen Generation gehen lieber in die Schule, als die der früheren. Wie erklärt sich das? Es gibt nur zwei Erklärungsgründe: entweder sind die Kinder dümmer, oder die Schulen sind besser geworden. Untersuchen wir genau: es könnte ja tatsächlich eine allgemeine Verdummung platzgegriffen haben. Aha, Sie haben selbst Kinder, das erstere geben Sie also nicht zu, dann wird wohl das letztere richtig sein! So ist es auch. Die Schule ist heute nicht mehr eine Stätte des Heulens und Zähneklapperns, kein Ort der Pein, der Angst und der tödlichen Langweile. Heute 74 versteht man es, den Kindern den Lehrstoff angenehm und interessant zu machen, und abgesehen von allen Ausnahmen, an welchen es ja auch hier nicht fehlt, gehaben sich unsere Kinder von heute wie aus dem Bewußtsein heraus, als hätten sie vorläufig keinen anderen Lebenszweck, als den, in die Schule zu gehen.

Ich treibe keine Schönfärberei und ich bin mir bewußt, nicht aufzuschneiden. Da habe ich noch einen kleinen Freund, Rudis Bruder Béla, der Kürze halber auch Beludschistan genannt, Sie kennen ihn ja ohnedies, hab' ihn ja schon hier mehrmals vorzustellen die Ehre gehabt. Nun denn, auch er ist gerade wild genug; ein rechter Junge, der einer Schneebataille niemals aus dem Wege geht, der auch sonstigen gewalttätigen Abenteuern nicht abhold ist, der unglaubliche Mengen von Hosen zerreißt, der nur zwei Tage in der Woche hat, auf welche er sich unbändig freut, das sind die Tage, auf welche die Turnstunden fallen – und dieser Junge, der von Haus aus mit allen Gassenbubeninstinkten reichlich bedacht ist, macht seine Schulaufgaben doch mit planetarischer Pünktlichkeit und musterhafter Ordnung. Der Fall ist ganz undenkbar, daß er einmal zu Bette gehen sollte, ohne vorher mit peinlicher Gewissenhaftigkeit alle seine Aufgaben gemacht zu haben. Nicht aus Angst – das Lernen macht ihm Spaß. Unsere Jugend hat scharf ausgeprägte Neigungen für alles, was Sport ist, und sie treiben nun zum guten Teile auch das Lernen als Sport – der Rekord soll verbessert werden. Das Bürschchen hat sich mit Ruhm bedeckt; er ist der Erste seiner Klasse geworden. Wenn 75 nun auch nicht jeder der Erste werden kann, so möchte ich doch für die Richtigkeit der Beobachtung einstehen, daß die heutige Jugend, wenn sie im ganzen auch nichts anders ist, als die der vorigen Generation, doch lieber lernt und lieber in die Schule geht, und das scheint mir ein unbezweifelbarer Beweis dafür, daß die Schulen selbst bedeutend besser geworden sind. Und wenn die Errungenschaft in gar nichts anderem bestünde, als daß die Kinder keinen Abscheu mehr vor ihr haben, sich vor ihr nicht fürchten, so wäre selbst das schon nicht hoch genug anzuschlagen.

Auch bei Rudi hatte es keiner besonderen Kunststücke bedurft. Er freut sich über einen Ferialtag, aber er grämt sich nicht über einen Schultag, er geht gerne in die Schule. Der erste der Menschen ist ihm natürlich sein Herr Lehrer. Dieser Volksschullehrer ist der Ausbund aller Vollkommenheit. Das ist ein so großer Mann, daß Rudis Herr Papa, der gelegentlich mal auch mit einem Minister ziemlich ungeniert spricht, doch, wenn er sich zur Schule begibt, um sich ab und zu über die Aufführung des Kleinen zu informieren, womöglich schon eine Viertelstunde vor dem Schulhause demütig den Hut abzieht.

Im ersten Schuljahre mußte Rudi seine schriftstellerischen Versuche einer Schiefertafel anvertrauen. Die Methode mag recht nützlich sein – ich weiß es nicht – aber sie setzt bei der Umgebung starke Nerven voraus. So ein harter Griffel von einer ungelenken Hand recht steil und recht kräftig auf eine Schieferplatte gedrückt – man wird daran, wenn man nicht zufällig selbst 76 der ausübende Künstler ist, nicht leicht Gefallen finden können.

Da begab sich mit einem Male etwas Großes. Rudi kommt mit offenem Winterröckchen, atemlos, erhitzt, aufgeregt aus der Schule gerannt: »Mama! Mama!«

»Was denn?«

»Wir werden morgen zum erstenmal mit Tinte schreiben!«

»Ah!!!«

»Gib mir Geld, Mama,« fährt er in größter Hast und sehr ungeduldig fort.

»Wozu denn?«

Er ist entrüstet über die Frage.

»Ich muß mir doch ein Schreibheft und eine Feder kaufen!«

»Ja doch, aber das hat ja Zeit. Der Kaffee steht schon auf dem Tisch. Trinke erst deinen Kaffee, iß dein Butterbrot und den Apfel und hole die Sachen dann.«

»Nein, nein, nein! Ich muß gleich gehen!«

Er geht also gleich, das heißt er fliegt die Treppen hinunter und über die Straßen. Die Kinder haben ihre Schutzengel, sonst hätte er sicher unter ein Wagenrad geraten müssen. Mit fliegendem Atem kommt er zurückgerannt. Den Kaffee läßt er stehen und ißt nur den Apfel; dabei hat er das neue Schreibheft immer neben sich liegen, und man muß sehr acht geben, daß das Heft nur wenigstens für das erste Treffen rein bleibe.

77 Das bevorstehende Ereignis erfüllt ihn ganz und regt ihn sehr auf. Da die ganze Angelegenheit am Familientisch auf die Dauer doch nicht genügend gewürdigt wird, geht er in die Küche hinaus zu seiner Freundin, der Köchin. Er setzt sich zu ihr und verhandelt das Ereignis, das nun wie eine Bombe in sein bisheriges junges Leben hineingeplatzt ist, sehr eingehend und gründlich.

Mit Tinte schreiben! Mit Tinte – ganz so, wie die Großen! Nun, er ist ja auch schon groß, aber sehr schwer ist es doch. Ja, auf der Schiefertafel – da ist es freilich leicht, aber mit Tinte, das ist ganz etwas anderes. Ob sie's auch kann, die Johanna. Sie könne es, erklärt die Köchin. Rudi lächelt aber ungläubig. Warum schreibt sie denn dann die Küchenrechnungen immer mit Bleistift; es wird doch niemand mit Bleistift schreiben, wenn er mit Tinte schreiben kann, das wäre ja ein Unsinn!

Er läßt sich an dem Tage willig zu Bette bringen. Er muß ja morgen zeitlich aufstehen, um es ja nicht zu versäumen – sie schreiben ja morgen zum ersten mal mit Tinte.

Um sechs Uhr morgens rumort es schon in seinem Kinderzimmer: er ist aus seinem Gitterbettchen gekrochen und will angezogen werden. Seine Freundin, die Johanna, hat ihn gehört und bedeutet ihm, daß es noch viel zu früh sei. Nein, es ist nicht zu früh! Die Debatte wird flüsternd geführt, damit nicht das übrige Haus auch schon aufrebelliert werde. Rudi dringt durch mit seinem Willen. Es wird Licht gemacht und 78 Johanna wäscht und kämmt ihn und zieht ihn an. Er hätte sich sonst selbst gewaschen und angezogen, und darauf durfte man es nicht ankommen lassen. Er wollte auch seinen netten Sonntagsanzug haben, den setzte er jedoch nicht durch. Darin war Johanna unerbittlich.

»Aber wir schreiben doch heute zum erstenmal mit Tinte!« Eben darum, und darum erst recht nicht! Darein ergab er sich schließlich. Wer wird sich auch mit Kleinigkeiten abgeben, wenn es um so wichtige Dinge geht!

Um halb sieben Uhr, es ist noch stockfinster, steht er, zum Aufbruch bereit, im Vorzimmer, angetan mit seinem Pelzmützchen und mit seinem Winterrock und gesattelt mit seiner Schultasche. Johanna muß ihm ein Licht hinausstellen, damit er die Vorzimmeruhr im Auge behalten und sofort davonschießen könne, wenn die gewohnte richtige Zeit gekommen sei.

Nun wickelt sich das morgendliche Vorzimmerleben ab. Zuerst kommt das Milchmädchen.

»Der junge Herr ist schon auf?!«

»Wir schreiben heute zum erstenmal mit Tinte!«

Dann kommt der Bäckerjunge, und nach ihm der Fleischhauer. Auch ihnen fällt die Sache auf, und Rudi gibt die nötige Aufklärung über die wichtige Sache. Dann kommen die Kohlenmänner, die kümmern sich um den kleinen Jünger der Wissenschaft gar nicht und schicken sich an, wieder fortzugehen, ohne von dem kleinen Manne und seinem großen Ereignis Notiz zu nehmen. Rudi möchte sie aber doch nicht abziehen 79 lassen, ohne sie durch die sensationelle Neuigkeit beglückt zu haben. Er zupft also schüchtern einen der schwarzen Männer bei dem rußigen Sack und teilt es mit, daß er heute zum erstenmal mit Tinte schreiben werde.

Inzwischen ist das Frühstück für ihn fertig geworden und er nimmt es zu sich, wie er steht und geht, gesattelt mit seiner Schultasche, damit er es nur ja nicht versäume. Nach und nach ist das ganze Haus wach geworden und man verlangt, daß Rudi vom kalten Vorzimmer in die warme Stube hereinkomme und daß er sein Winterröckchen noch ausziehen solle.

Man verlangt Unmögliches. Es setzt Tränen; heute kann er nicht nachgeben. Endlich entläßt man ihn heute schon um halb acht Uhr, nicht wie sonst, erst um dreiviertel.

Um zehn Uhr langt er wieder zu Hause an. Der große Tag war nicht glücklich. Das Gesicht zeigt Spuren von Tränen und Tinte – das ist eigentlich nicht richtig ausgedrückt; es zeigt noch einige Spuren, daß es einmal gewaschen war, einige wenige – das übrige Tränen, Tinte, Schulstaub.

Es war ihm nämlich auf ganz unbegreifliche Weise, auf eine Weise, die wahrscheinlich niemals ganz aufgeklärt werden wird, gleich bei dem ersten Federstrich ein ungeheuerer Tintenklecks aufs Heft geraten. In seinem Reinlichkeitsdrange hatte er dann einen Finger in den Mund gesteckt, und mit diesem befeuchteten Finger versucht, den Klecks wegzuwischen und ungeschehen zu machen. Das Entsetzen über die sich sofort 80 erweisende Unzweckmäßigkeit dieses Mittels war groß. Er half dann mit der Zunge nach, dann kamen die Tränen; die flossen nun auch auf das Heft. Nun mußte das Heft abgewischt werden, dann das Gesicht. Dann kam noch ein Klecks, der aufgeleckt wurde, und seitdem weiß Rudi, daß Tinte ein ganz besonderer Saft ist.

 


 


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