Balduin Groller
Vom kleinen Rudi
Balduin Groller

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Ein Nachtbild.

Was habe ich heute wieder von meinem kleinen Freunde hören müssen! Das muß ich Ihnen gleich erzählen. Denken Sie sich nur, der Junge, der noch nicht drei Jahre zählt – doch Geduld, hübsch eines nach dem anderen.

Also Rudi hat noch einen etwas älteren Bruder. Dieser heißt Béla, wird aber gemeiniglich der Kürze halber nur »Beludschistan« oder »Piffpaff Poltrie« genannt; 's ist auch ein nettes Bürschchen und stellt seinen ganz kleinen Mann. Neulich hat er folgendes Stückchen geleistet: seine kleine Mama rüstet sich eben wie alltäglich zu ihrem Mittagsschläfchen und befiehlt wie alltäglich dem ganzen Hause bei Todesstrafe oder wenigstens bei lebenslänglicher Deportation nach Sibirien unbedingte Stille an. Unser Musterknabe sagt darauf: »Wenn du jetzt schlafen gehst, Mama, wer soll denn dann auf mich acht geben, daß ich nicht aufs Klavier steige?«

Nun traf es sich vor einigen Tagen, daß der arme Béla, der Kürze halber auch wie oben angegeben genannt, krank wurde. Ja, daß er sogar in ein hitziges Fieber verfiel. Denken Sie sich, ein fieberndes Kind, es gibt keinen traurigeren Anblick. Der Doktor kommt 18 und verschreibt die Medizin, und mit der Medizin fängt der Rummel an. Der Kranke will sie nicht nehmen und der Rudl schreit, weil man sie ihm nicht geben will. Er ist aber pumperlg'sund, und wenn die Arznei an ihm die purgierende Wirkung in noch so hohem Maße übt, so hat doch der Kranke noch immer nichts davon. Es hilft aber alles nichts, wenn man ihm schon nicht, wie er es sehr kategorisch fordert, die ganze Flasche geben will, so muß man ihn doch wenigstens stündlich mittrinken lassen.

Ein Kind, das krank ist, das Arznei nehmen muß, muß auch neue Spielereien haben, das ist so selbstverständlich, als wäre es ein Naturgesetz. Herr G., der bekümmerte Papa, macht sich auch sofort auf den Weg und kommt nach einer Weile mit einem großen Pack zurück. Ebenso selbstverständlich wie ein Naturgesetz ist es, daß, wenn von zwei kleinen Kindern eines Spielereien bekommt, das andere auch welche haben muß, und so fiel denn auch für Rudi eine wunderbare Menagerie voll der reißendsten Tiere ab. Auch das war ein Unglück, sie gefiel ihm zu gut. Schon beim Mittagessen kam es zu stürmischen Szenen, er wollte sich nur mit dem Löwen und dem Panther unterhalten. Die Suppe ließ er mit Verachtung stehen, alle Hinweise auf das traurige Los des unglücklichen »Suppenkaspers« fruchteten nichts; den Braten stieß er geringschätzig von sich, und nur aus besonderer Gnade ließ er sich herbei, der süßen Mehlspeise einige Ehre anzutun.

Der Nachmittag verlief noch verhältnismäßig gut, aber als es für ihn Schlafenszeit wurde, da gab es 19 ein rechtes Kreuz. Er war müde, daß ihm die Augen zufielen, er wehrte sich aber gegen den Schlaf und wollte nicht in sein kleines Gitterbett. Es nützte nicht einmal etwas, als man ihm all die reißenden Tiere ins Bettchen legte, er wollte sie vor sich auf seinem Tische haben. Das ganze Haus war empört über seine Halsstarrigkeit, und es gab deshalb überaus geräuschvolle Verhandlungen. Zum Glück ist die Natur stärker als selbst unser Rudel und endlich war er doch im Angesicht der wilden Bestien eingeschlafen.

Und es ward stille im Hause.

Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, als Herr G. durch ein eigentümliches Krabbeln an seiner Decke aufgeweckt wurde.

»Was wimmelt denn da in meinem Bette herum?« fragt er erstaunt zu seiner getreuen Ehehälfte hinüber.

»Das ist der Rudl!«

»Wie kommt denn der daher?«

»Ich habe ihn weinen gehört und da habe ich ihn zu mir genommen, daß er sich beruhige; nun ist er eigenmächtig zu dir hinübergekrochen.«

Herr G. packt den Wurm zusammen und legt ihn der Mama ins Bett, er soll sich nur dort beruhigen. Eine Weile ist's still, dann sagt der Rudi: »Den Löwen will er!«

Rudi spricht von sich immer in der dritten Person.

Das fehlte gerade noch! denkt sich Herr G. und läßt einen barschen Ruf nach Ruhe vernehmen. Da wird's wieder still, aber nicht für lange, und Rudi beginnt wieder zu wimmern: »Das Nashorn will er auch!«

20 Ich bitte Sie, den Löwen und das Nashorn mitten in der Nacht! Herr G. versucht es mit gütigem Zureden, er erreicht aber damit gar nichts anderes, als daß Rudi in eine ungeheuere Schreierei ausbricht. Herr G. überlegt nun, was jetzt zu tun sei. Wenn er sich den Buben hernimmt und ihn gut durchwichst, wie er es verdient, so gibt das einen solchen Höllenspektakel, daß die sämtlichen westlichen Stadtbezirke in ihrer Nachtruhe gestört sind. Noch eine andere Erwägung bestimmt ihn, sich zu mäßigen. Wenn er jetzt unter seiner Decke hervorkriecht, um eine Exekution vorzunehmen, so bringt er sich selbst so aus dem Schlafe, daß er dann sicher sein kann, ihn nicht wieder zu finden. Er schluckt also die Erbitterung hinunter und beschließt, sich zu mäßigen. Schön gedacht, nun bleibe aber einer ruhig, wenn der Junge fortschreit. Herr G. wartet also einen Moment ab, in welchem der nächtliche Ruhestörer im Schreien absetzt, um Atem zu holen und gleichzeitig neue Kräfte zu neuen Anstrengungen zu sammeln. In diesem klug abgewarteten Momente stößt er mit donnernder Stimmentfaltung eine furchtbare Drohung aus. Von der Drohung selbst verspricht er sich nicht viel, doch hofft er etwas von der einschüchternden Wirkung seiner respektablen Stimmmittel. Rudi fuhr auch erschreckt zusammen, als er so plötzlich und unvermutet angedonnert wurde, so daß sein Papa schon reuig überlegte, ob es denn nicht überhaupt verwerflich sei, ein Kind so zu erschrecken. Auch das half nichts, Rudi tobte weiter, und seine Mama, die einigermaßen Angst zu bekommen schien, daß sie es 21 nun, nachdem sie diese Bescherung angerichtet, da doch sie den Bösewicht aus seinem Kinderzimmer herübergeholt hatte, nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem schwer gereizten Herrn Papa zu tun bekommen würde, versuchte es vergeblich, ihn zu beschwichtigen.

Ihre Befürchtungen erwiesen sich denn auch, als der heillose Spektakel durchaus nicht abnehmen wollte, sehr bald als wohlbegründet. Mit dem kleinen Wüterich war durchaus nicht zu reden, so hielt sich denn Herr G. an die bedrängte Gattin. Wozu war das auch notwendig, ihm zu dieser Szene zu verhelfen? Er muß sich den Tag über abarbeiten, bis Mitternacht war er wieder an den Schreibtisch gekettet, und nun soll er nicht einmal seine Nachtruhe haben. Man hätte den Bengel ruhig in seinem Zimmer lassen sollen, seine Französin wäre schon allein fertig geworden mit ihm.

»Er wird gleich still sein,« tröstete die arme in die Enge getriebene Mama, während Rudi mit ungeschwächten Fonds fortfährt, das Äußerste zu leisten. Herr G. möchte nun wenigstens die eine Beruhigung haben, genau zu wissen, um welche Zeit sich die schöne Szene abspielt. Er greift nach den Zündhölzchen, die von Rechts wegen auf seinem Nachtkästchen stehen sollen, und greift dabei in das für ihn hingestellte Glas Wasser. Das Glas fällt natürlich um, und das Wasser ergießt sich über das Nachtkästchen, es läuft ihm zum Hemdärmel hinein und findet natürlich auch, wenigstens teilweise, seinen Weg ins Bett. Auf dem Nachtkästchen liegen die Uhr, das Kleingeld, das Federmesser, die Brieftasche, die Brille, die unerledigten Briefe der 22 letzten Abendpost, die Handschuhe, der Schreibtischschlüssel, die Krawatte, die lederne Zigarettendose und sonst eigentlich nichts mehr. Jetzt wäre Herr G. auch schon bereit, alle Bedenken fahren zu lassen und Rudi doch durchzuprügeln, er ist aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und wie er nun gar hört, wie das Wasser in seine vor dem Bette stehenden Hausschuhe hineinplätschert, studiert er erst darüber nach, wie diesem Wassersegen am besten zu begegnen sei.

Diesen Moment benutzte die schuldbewußte Mama, um mit Rudi in der Finsternis abzufahren. Jawohl, schuldbewußt! Denn die Zündhölzchen waren überhaupt nicht auf dem Nachtkästchen gewesen und Herr G. hat die Eigenheit, für alle Fehler der Dienerschaft, um die er sich niemals bekümmert und die ihn daher für einen vortrefflichen Herrn hält, seine schwergeprüfte Gattin verantwortlich zu machen. Er meint, daß der Minister des Innern für sein ganzes Ressort aufzukommen habe.

Der Lärm hat sich nun ins Kinderzimmer verpflanzt, das dicht neben dem Schlafzimmer liegt. Herr G. sieht Licht durch die Tür schimmern und verfolgt nun mit Interesse den weiteren Verlauf der Affäre. Rudi besteht darauf, daß ihm sofort die ganze Menagerie zum Spielen ausgefolgt werde. Die Französin ist mit an sein Bett geeilt und verspricht ihm alle Schätze Indiens, wenn er jetzt schön schlafen wolle.

»Weg, Marseille!« ist die brutale Antwort Rudis. Marseille heißt bei ihm Mademoiselle. Nun werden auch böhmische Liebkosungen laut; also auch die Köchin 23 hat sich zu diesem Auflauf, zu diesem Exzeß eingefunden. Sie geht die Geschichte eigentlich gar nichts an, sie ist nur aus gutem Herzen aus ihrer Küche herübergekommen. Eine recht polyglotte Gesellschaft! denkt sich Herr G. in seinem Grimme. Wenn auch er jetzt noch hinüberginge, so könnte er ebenfalls mit den klassischen und einigen noch nicht vertretenen modernen Sprachen dienen. Er will aber nicht stören, denn der Rudl ist jetzt in der Arbeit.

Die Französin singt ihm die schönsten Lieder; nicht einmal sein Lieblingsgesang verfängt. Der Refrain:

»Tchinn, boum, rataplan,
Vivent les rouges, à bas les blancs!
«

der ihn sonst regelmäßig begeisterte, verfehlt seine Wirkung vollständig, ein wildes Geschrei nach dem Nashorn und dem Löwen ist die Antwort darauf. Ein Mittel hätte es freilich gegeben, um ihn sofort zum Schweigen zu bringen; man hätte ihn nur mit dem schwarzen Manne oder mit dem Wauwau zu schrecken gebraucht. Dieses Mittel war aber ausgeschlossen, Herr G. hatte es ausdrücklich verboten. Einmal war es angewendet worden, er erfuhr es aber, und es gab dann einen Mordspektakel im Hause, seither ist es ganz außer Kurs. Man muß dem Rudi also anders beikommen. Nun wird ihm vorerzählt, das Nashorn schläft, die Giraffe schläft, der Löwe schläft, die Schachtel schläft, und der Kindersessel schläft auch, und der Rudi muß auch schlafen. Auf die Berichte von den Tieren hat er noch aufmerksam gelauscht, aber der Schlußpassus, daß er auch schlafen müsse, weckt seinen Zorn aufs 24 neue, und er strampelt und schreit wieder mit Vehemenz in seinem Bettchen. Herr G. verliert nun die Geduld und möchte hinaus, um ihn durchzuprügeln, aber mannigfache Erwägungen lassen ihn seine Absicht doch wieder aufgeben. Zunächst wird er, aus dem Bette steigend, wahrscheinlich ins Wasser treten, dann sind auch seine Hausschuhe voll Wasser, dann muß er doch einigermaßen Toilette machen, um in weiblicher Gesellschaft erscheinen zu können, und dann endlich ist die werte Gesellschaft da draußen wahrscheinlich auch nur sehr mangelhaft toilettiert, und es steht zu erwarten, daß sie schreiend auseinanderstieben wird, wenn er sich blicken läßt, und eigentlich ist es vollkommen genug an dem Geschrei des Kleinen. Er bleibt also liegen und wartet geduldig auf das Ende, das ja auch hier nicht ausbleiben konnte und das auch wirklich nicht ausblieb. Den vereinten Kräften gelang es, Rudi eine so lange Liste von schönen Dingen, die da alle brav schliefen, vorzuführen, daß er darob endlich doch einschlief. Natürlich hatte man es sorgfältig vermieden, ihm auch nur leise anzudeuten, daß auch er schlafen müsse.

Am nächsten Morgen sahen Madame und Monsieur etwas bleich und übernächtig aus, und beim Frühstück ging es ziemlich einsilbig her. Als sie dann ins Kinderzimmer hinübergingen, fanden sie Rudi schon vor seiner Menagerie. Er war frisch und munter und sang seelenvergnügt sein Rataplan und sein Vivent les rouges! Ein Engel an Schönheit, Heiterkeit und Bravheit, und so einem Kerl soll man dann böse sein! Er ist ja so dumm, noch gar so dumm. Neulich 25 klatschte er vor einem schön gemalten Kruzifix in die Händchen und rief: »Der turnt!« Er ist kein Lästerer, er versteht noch nichts, er ist noch gar zu dumm. Als er seine Französin bekam, schrie er: »Nicht böhmisch reden!« Daß das Böhmische auf der Welt sei, wußte er von der Köchin her, sonst wußte er von der Existenz einer fremden Sprache natürlich nichts. Er setzte sich in den Kopf, nicht böhmisch zu reden und spielte mit merkwürdiger Konsequenz einen halben Tag den Stummen, indem er immer nur mit dem Kopfe wackelte, und dann hat er es doch wider seinen Willen dazu gebracht, nach wenigen Wochen »böhmisch« zu plappern.

Seine Menagerie hat er nun schon mehrere Tage, und sie lebt noch, sie hat sich als dauerhafter erwiesen, als seine unzerreißbaren Bilderbücher. Das erste dieser Art hatte er zum Fenster hinausgeworfen in einen Lichthof. Das war an einem Sonntag. Der Kaufmann, der den Schlüssel zu diesem Hofe hatte, war am Sonntag nicht aufzutreiben, und am Montag konnte man das unzerreißbare Bilderbuch, nachdem ein ergiebiger vierundzwanzigstündiger Regen auf dasselbe niedergegangen war, beruhigt im Lichthofe liegen lassen. Das bewies aber noch nichts gegen die unzerreißbaren Bilderbücher. Er bekam also ein zweites, und als Papa G. noch an demselben Tage, an welchem er es gekauft hatte, einen Blick ins Kinderzimmer warf, sah er verdächtige Fetzen auf dem Boden herumliegen. Er hob einen Fetzen auf und las darauf: »Unzerrei . . .«, das war das Titelblatt gewesen. Er sinnt jetzt über das Problem der Bilderbücher aus Bessemer Gußstahl oder Stahlbronze.

26 Ich habe versprechen müssen, Rudi für seine jüngste nächtliche Schlechtigkeit vor der Welt an den Pranger zu stellen und ihn öffentlich zu blamieren. Das ist nun geschehen, ob er aber ein Einsehen haben wird, mein junger Freund, ich glaube es kaum, er ist noch gar zu dumm. Das sieht sein würdiger Papa auch ganz gut ein und trägt ihm seine Schlechtigkeiten nicht nach. Am Morgen nach jener bewegten Nacht saß er doch wieder glücklich bei dem Missetäter und stellte die reißenden Tiere mit auf, und als er dann aufbrach, um seinen Geschäften nachzugehen, sagte er sich im Weggehen noch mit Stolz: dieser Junge ist mir eigentlich sehr gut gelungen! Mein Gott, ein Vater! Man muß Nachsicht haben mit seinen Schwächen.

 


 


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