Balduin Groller
Vom kleinen Rudi
Balduin Groller

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Rudi wird photographiert.

Wenn sich's noch ums Zahnreißen gehandelt hätte, dann allerdings, aber so!

Herr G. hatte die großartige Idee gefaßt, seinen dreijährigen Rudi photographieren zu lassen, und zwar sollte davon seine vortreffliche Gattin, Rudis Mama, vorher nichts wissen, sie sollte mit dem Bilde zu ihrem Geburtstage überrascht werden.

Das war nun so eine Sache!

Rudi auf so eine Expedition mitnehmen, ohne daß die Mama dabei war, die einzige, die sich in allen Lebenslagen mit dem trefflichen Knaben Rudolf zurechtzufinden wußte, deren Pflicht es wenigstens war, 27 alle Sorgen allein zu tragen, wenn sich im Verkehre mit ihm irgendwelche unerwartete Zwischenfälle ergaben – es war doch ein recht bedenkliches Unternehmen. Diese Ansicht hegte wenigstens die schöne Tante Cäsarine, die Herr G. doch vorher streng im Vertrauen zu Rate gezogen hatte. Sie hatte zwar das Recht, von der Behandlung kleiner Kinder nichts zu verstehen, denn sie war noch unvermählt, aber sie hatte sich doch schon, ohne daß sie dazu verpflichtet gewesen wäre, wie wir ohne weiteres zugeben wollen, im Hause G. eine gewisse Praxis darin erworben. Schon die ganz kleinen Mädchen müssen etwas haben, was sie bemuttern können – das Muttergefühl regt sich außerordentlich früh – und darin steckt die metaphysische Begründung für den durch alle Jahrhunderte sich in unverwelklicher Frische erhaltenden Reiz des Spieles mit der Puppe für kleine Mädchen; wie also erst, wenn eine erwachsene junge Dame es mit einer lebendigen Puppe, mit einem wirklichen, zappelnden kleinen Bengel zu tun kriegt, und noch dazu mit einem wirklich lieben Kerl, wie wir ja sagen dürfen, ohne unserem Rudi gar zu sehr zu schmeicheln. Also die schöne Tante Cäsarine war in dieser Affäre immerhin eine Autorität, aber die oberste Instanz, die Mama, war sie ja doch nicht, und sie trug gerechte Bedenken, ob sie in allen Stücken und immer der Situation werde gewachsen sein.

Ja, wenn es zum Zahnarzt hätte gehen sollen, dann wäre die Sache leicht gewesen! Rudis älterer Bruder Béla hatte nämlich kurz vorher sich einen Zahn reißen lassen müssen, und weil er sich bei der Operation so 28 tapfer gehalten hatte, wurde er nachher zur Belohnung zu einem Zuckerbäcker mitgenommen, wo ihm ein »Gefrorenes« bestellt wurde und noch dazu ein ganzes und zu alleiniger Nutznießung, ohne daß er hätte teilen müssen. Wenn es sonst zu Hause einmal so festliche Leckereien gab, so mußte er doch immer mit Rudi teilen – na, und das, die brüderliche Zärtlichkeit in allen Ehren, – die wahre Liebe ist das doch nicht. Also ein ganzes »Gefrorenes«, Erdbeer und Vanille, es war großartig, und man kann sich denken, mit welcher Renommage Beludschistan von der Begebenheit zu Hause erzählt hat.

Seit jener Zeit malträtiert Rudi das ganze, sonst so friedliche Haus G. mit seinem heißesten Wunsche: »Rudi auch Zahn reißen!« Er fühlt instinktiv – daß die Geschichte weh tut, weiß er noch nicht – daß es als ein Symptom von ganz besonderer Bravheit aufgefaßt werden muß, wenn sich jemand bereit erklärt, sich einen Zahn ausziehen zu lassen, aber er ist doch ein großer Pfiffikus, ich kenne ihn ganz genau, und wenn er vom Zahnausreißen spricht, so meint er doch nur das »Gefrorene«, und zwar Erdbeer und Vanille.

Tante Cäsarine hatte demnach alle Ursache, es für ein einfacheres Unternehmen zu halten, Rudi zum Zahnarzt zu schleppen, als zum Photographen, zumal da man bei dem letzteren Unterfangen doch nie wissen könne, wie es ausgehen werde, und zumal wenn die Mama nicht dabei ist. Sie kannte unseren Freund Rudi eben auch. Papa G. setzte aber ihrem Bedenken den sehr berechtigten Einwand entgegen, daß Rudis 29 Zähne durchaus tadellos seien, und daß man doch damit nicht der Mama eine Geburtstagsüberraschung bereiten könne, daß man dem Rudi einen gesunden Zahn ausreißen lasse. Überhaupt, meinte er, mache man mit dem Rudi zu viele Geschichten, und die Tante Cäsarine sei da mitschuldig. Das mache die Frauenzimmerwirtschaft im Hause; die Mama, die Großmama, die Tante Cäsarine, alle sehen sie Rudi als die erste Person im Hause an, und das merkt er dann natürlich und tyrannisiert alle Welt. Es muß ihm – Herrn G.s Ansichten sind von tiefer pädagogischer Weisheit erfüllt – das Bewußtsein beigebracht werden, daß das Weltall sich nicht um seine werte Person drehe.

Tante Cäsarine wollte Herrn G. nicht reizen und versicherte, daß das gewünschte Bewußtsein dem Rudi beigebracht werden solle. Im stillen, ganz im stillen, dachte sie sich aber doch, daß die Männer in gewissen Dingen furchtbar dumm seien. Also das mit dem gewissen Bewußtsein wird besorgt werden, aber um auf den vorliegenden Fall zurückzukommen, so sei er doch ein schwieriger.

Herr G. lächelte überlegen, mit wohlwollender Überlegenheit. Die Frauen sind doch wirklich merkwürdig; wie sie sich vor so einem kleinen Menschen fürchten! Der Bursche muß: er hat Order zu parieren, fertig! Tante Cäsarine machte erschrockene Augen, insbesondere da nun Herr G. seine Stentorstimme ertönen ließ: »Rudi!« Rudi kam hereingetrippelt.

»Magst du mit zum Photographen gehen?« lautete die in sehr energischem Tone an ihn gerichtete Frage.

30 »Ja, Papa, er will!«

Rudi spricht noch immer in der dritten Person von sich.

»Nun, du siehst!« sagt Herr G. lächelnd zu Tante Cäsarine. »Man muß mit ihm nur im richtigen Tone zu reden verstehen. Wenn ich nur Zeit hätte, mich ihm mehr zu widmen! In vierzehn Tagen sollte aus ihm der fügsamste, bravste kleine Mensch auf der Welt werden. Ihr habt alle zusammen keinen Dunst von der richtigen pädagogischen Behandlung. Also auf! Die Gelegenheit ist günstig.«

Die Gelegenheit war in der Tat günstig. Madame G. hatte von einer Freundin, die es wieder von einer anderen hatte, in Erfahrung gebracht, daß der Wein im Vorjahre in Italien so außerordentlich gediehen sei, daß in ganz Italien nicht Fässer genug waren, um den Wein zu bergen, und daß man deshalb mehr als die Hälfte habe wegschütten müssen. Gute Hausfrauen erfahren immer so interessante Räubergeschichten. – Nun, und infolgedessen sei furchtbar viel exportiert worden, und auch in Wien habe sich irgendwo vor der Linie eine Niederlage aufgetan, wo der Liter um neunundzwanzig Kreuzer verkauft werde. Ich bitte Sie – der Liter um neunundzwanzig Kreuzer! Und was das für ein Wein ist! Der rote ist »blutbildend«, und der weiße, der nun gar, das ist ein »schmecketer« Wein!

Ja so, meine liebe norddeutsche Freundin, die Sie sich für diese Sache gewiß auch ungeheuer interessieren, Sie wissen nicht einmal, was ein schmecketer Wein ist! Sie wissen, was »schmecken« heißt? Ja. Falsch; Sie wissen es nicht; setzen Sie sich. Schmecken heißt riechen, 31 und ein schmecketer Wein ist der aus den aromatischen Muskatellertrauben gezogene.

Um diesen Wein ausfindig zu machen, war Madame G. unterwegs. Bis die zurückkam, konnten Generationen, geschweige denn ein Rudi photographiert werden.

Also, los! meinte Herr G., aber so geschwind ging die Sache doch nicht. Zunächst hielt es Tante Cäsarine für geboten, auch noch Großpapa und Großmama zu dieser Expedition mitzunehmen, um nicht die ganze Last der Verantwortung auf ihre Schultern zu laden, die übrigens von tadelloser architektonischer Wölbung waren.

Die Großmama hat die reichste Lebenserfahrung und sie erklärt, daß, bevor man zum Photographen geht, man erst gewaschen, gekämmt und frisch angezogen werden müsse. Rudi hört diese sonderbare Ansicht und rennt davon. Es ist unglaublich, was die großen Leute manchmal für Ansichten haben! Er war doch schon einmal an dem Tage gewaschen, gekämmt und angezogen worden. Da könnte jeder kommen, sich das noch einmal anzuschaffen; das wäre schön! Rudi verschwindet also mit großer Vorsicht und bedeutender Geschwindigkeit. Die auf dem Platze zurückgebliebene feindliche Schar der Großen hält Kriegsrat und beschließt einmütig, daß es in der Tat nötig sei, Rudi vorher zu waschen und zu kämmen. Tante Cäsarine wird entsendet, den Flüchtling stellig zu machen. Sie entledigt sich ihrer schwierigen Aufgabe mit hoher diplomatischer Kunst, aber schrecklicher Verhöhnung aller pädagogischen Grundsätze. Wenn Herr G. all die lügenhaften Vorspiegelungen gehört hätte, mit welchen Rudi da 32 gelockt wurde, wie ihm Himmel und Erde versprochen wurden, er wäre einfach aus der Haut gefahren. Denn sein Erziehungsprogramm ist ein ebenso kurzes wie klares und wohldurchdachtes. Nach diesem heißt es: Rudi, du mußt dich waschen lassen! Und da darf es keine Macht der Erde geben, die da hindernd eingreifen dürfte. Das muß durchgesetzt werden, und Rudi hat sich unbedingt zu fügen. Das ist die weitausblickende Erziehungskunst; Tante Cäsarine hatte aber nur den zunächstliegenden Zweck im Auge und begann daher, sich Rudi gegenüber, der sich im Kinderzimmer verschanzt hatte, aufs Parlamentieren zu verlegen. Sie versprach Rudi eine goldene Eisenbahn, in welche er sich selber sollte hineinsetzen können, und die dann von selber laufen würde, und als auch die Eisenbahn noch nicht genug zog, da versprach sie ihm ein Gespann von zwei wirklichen Eseln. Zwei wirkliche Esel! Darüber ließ sich reden.

Rudi kam aus seiner Verschanzung hervor und zeigte sich nicht abgeneigt, auf das Geschäft einzugehen, nur stellte er noch einige unannehmbare Bedingungen. Die Esel sollten zuerst in sein freies Eigentum übergehen, und dann erst werde er sich waschen lassen. Auf solche Bedingungen kann kein Parlamentär eingehen, und so verlangte Rudi, daß die Esel wenigstens erst zur Stelle geschafft werden sollten, dann wolle man weiter sehen, und er ließ durchschimmern, daß er dann vielleicht, früher aber ganz gewiß nicht, bereit sein werde, für Tante Cäsarine ein übriges zu tun.

Plötzlich ward aber Rudi inne, daß seine Situation sich wesentlich verschlechtert habe. Denn im eifrigen 33 Parlamentieren hatte ihn Tante Cäsarine, ohne daß er die Kriegslist bemerkt hätte, wieder in den Kreis der Großen hineingelockt. Das nun wahrnehmend, wendet er sich wieder zur Flucht, aber ein donnernder Zuruf des gestrengen Papas bannt ihn auf den Fleck, auf dem er eben stand. Und nun kam ein kritischer Moment. Rudi machte ein Krickerl.

Meine liebe Freundin, Sie wissen auch nicht, was ein Krickerl ist? Die Sache ist mir sehr genau bekannt, aber meine Erklärung ist nur eine Hypothese; sie kann richtig, sie kann aber auch falsch sein; jedenfalls genügt sie, die Sache zu erläutern: Krickerl oder Krückerl dürfte wahrscheinlich von Krücke abzuleiten sein. Eine kleine Krücke ist ein Krückerl; der Griff vom Spazierstock, wenn er abwärts gebogen ist, die kleinen Hörner des Rehbocks oder der Gemse sind Krückerln oder Krickerln. Wenn nun ein Kind in dem Augenblicke, bevor es zu einer großartigen Heulerei übergeht, die Mundwinkel nach abwärts zieht und der unbeteiligte Zuschauer noch nicht weiß, ob nun die große Plazerei wirklich beginnen oder das Kind sich doch noch »derfangen« und einen rühmlichen Sieg in der Kunst der Selbstbeherrschung feiern wird, dann macht es eben ein Krickerl. Das Phänomen ist immer nur auf einen flüchtigen Moment wahrzunehmen, und von den deutschen Genremalern ist es nur Benjamin Vautier, der es künstlerisch festzuhalten und treu wiederzugeben vermocht hat.

Also das Krickerl war da und der Moment war ein kritischer. Denn das sah auch Herr G. bei all seiner pädagogischen Überzeugungstreue ein: wenn der Bengel 34 jetzt anfängt zu heulen, dann kann man ihn nicht photographieren. Ein verweintes Gesicht mit geschwollenen Augen – Madame G., seine blonde Hausehre, hätte sich für ein solches Geburtstagsgeschenk schönstens bedankt. Es galt also, rasch zu handeln und der große Pädagoge rief plötzlich laut: »Rudi wird nicht gewaschen, ich erlaube es nicht!«

Augenblicklich war der Sonnenschein da, und Rudi fand im stillen gewiß, daß sein Papa doch ein Ehrenmann sei. Der geehrten Gesellschaft der Großen erläuterte Herr G. als Ergänzung zu seinen pädagogischen nun auch seine ästhetischen Ansichten. Es ist überhaupt ein Unsinn, sich für den Photographen erst besonders herzurichten. Die Bilder könnten nur gut werden, wenn man sich aufnehmen lasse, wie man im Werktagsleben sei. Er wolle gar keinen geschniegelten Rudi; er sei am allerhübschesten so, wie er zu Hause sei, und es wäre sogar ein Fehler, ihn erst steif auszustaffieren. Ob er nicht recht habe?

Natürlich hatte er recht und man brach sofort auf; Rudi kreuzvergnügt, daß er so mit fortgehen durfte, was ganz gewiß nicht der Fall gewesen wäre, wenn die Mama da mit dreinzureden gehabt hätte, obschon sich Rudi in seinem roten Samtüberzieher und seinem roten Samtbarett wirklich ganz anständig ausnahm.

Man war in der Woche vor Ostern und ein prächtiges Frühlingswetter veranlaßte Herrn G. vorzuschlagen, daß man zu Fuß gehen solle. Tante Cäsarine und die Großmama nahmen Rudi in die Mitte und Herr G. unterhielt sich mit dem Großpapa. Im Eifer des 35 Gespräches hatten die beiden Herren nicht gleich bemerkt, daß der andere Teil der Expedition etwas zurückgeblieben sei. Als sie sich dann umsahen, bemerkten sie, daß die Großmama und Tante Cäsarine eine spanische Wand bildeten, hinter welcher Rudi einen Wunsch zu befriedigen hatte. Rudi tat, was er mußte, aber ohne persönliche Anteilnahme an der Verrichtung, er schwatzte dabei so fröhlich in den Tag hinein, als ginge ihn die ganze Geschichte, mit der er eben beschäftigt war, gar nichts an, so daß er schließlich ermahnt werden mußte, bei der Sache zu bleiben. Rudi war ein Ausbund von Artigkeit, er folgte schön aufs Wort und trippelte dann vergnügt weiter.

Herr G. war dennoch schon über die erste Störung etwas ungehalten. Der Junge sei doch jetzt schon groß, und es wäre durchaus nicht nötig, daß er einem noch immer solche Scherereien mache. Großpapa wiegelte ab; er lebte der unerschütterlichen Überzeugung, daß die Erde kein zweites in jeder Beziehung so liebes und gutes Kind trage, wie unseren Rudi. In stillen Stunden war das sein ausschließliches Gesprächsthema mit der Großmama, die ganz derselben Ansicht war, und sie beide bildeten eine feindliche Liga gegen das würdige Ehepaar G., das mit einem so ausgezeichneten kleinen Menschenkinde offenbar zu roh und lieblos verfahre.

Eine weitere Stockung ergab sich, als Rudi das prachtvolle Schaufenster eines Zuckerbäckerladens entdeckt hatte. Nun stand er festgebannt vor demselben und betrachtete mit jubelndem Entzücken die dort ausgestellten wundervollen Ostereier und Osterhasen. Die 36 Versuche, ihn da wegzubringen, betrachtete er als direkt feindselige Angriffe, und die Großmama, die ihn sanft wegziehen wollte, schlug er einfach auf die Hand. Er blieb fest stehen in seligem Anschauen verloren, und zu der Freude des anfänglich wunschlosen Schauens gesellte sich bald die Begierde. Noch sagte er zwar nichts, aber er zeigte mit dem Fingerchen auf einen ganz besonders schönen Osterhasen. Großpapa, Großmama und Tante Cäsarine waren sehr in Sorge, wie Herr G. die Sache aufnehmen werde. Wenn er nicht dabei gewesen wäre, hätten sie schon gewußt, was da zu tun sei, aber er hat ja so seine eigenen Ansichten. Ein Kind ist ein Kind, und man kann einem Kinde nicht alles verbieten und alles verweigern. Die Mama ist gerade so – warum soll denn der Rudi nicht einen Osterhasen haben?

In Herrn G.s Brust tobte ein kurzer aber schrecklicher Kampf, dann nahm er seinen Sohn bei der Hand, führte ihn in den Laden und kaufte ihm den gewünschten Osterhasen. Der kostete nur fünf Gulden, die Zuckerbäcker sind so furchtbar billig mit ihren ganz unvernünftigen und unbrauchbaren Sachen! Herr G. hatte sich das Opfer abgerungen, weil er von Rudi durchaus ein freundliches Gesicht haben mußte, aber das eine ist sicher: nie mehr wird er sich in solche Unternehmungen einlassen! Wenn die Mama ihren Buben photographiert haben will, dann soll sie ihn nur selber führen. Ein Glück war es nur, daß nicht auch Herr G. selber photographiert werden sollte; er hätte das unumgänglich nötige freundliche Gesicht nicht mehr aufzubringen vermocht.

37 Stolz wie ein Schauspieler, dem ein Fürst die Hand gedrückt, und glücklich, wie eine Dichterin, die ihr erstes Gedicht bei einer wohlwollenden Redaktion angebracht hat, zog Rudi, seinen Osterhasen im Arm, des Weges daher.

Es war ein wunderschöner Tag. In ganz Wien gab es vielleicht überhaupt nur eine einzige Pfütze, aber in diese Pfütze fiel Rudi samt seinem Osterhasen hinein. Das auch noch! Herr G. blies von sich und pfiff, weil er nicht wußte, wie er sonst seinem Ärger Luft machen sollte. Großmama, Großpapa und Tante Cäsarine machten sehr erschrockene Gesichter. Und nicht nur auch das noch, o nein! Herr G. mußte sogar noch sehr fröhlich tun und Rudi, der nicht übel Lust zu haben schien, jetzt als neue Programmnummer eine herzbrechende Heulerei einzulegen, versichern, daß das gar nichts mache, daß alles nur Spaß und sehr lustig sei, wirklich sehr komisch. Wenn aber die Photographiererei vorüber ist! dachte Herr G. bei sich und er mußte so einen Gedanken haben, der ihm einen tröstlichen Ausblick aus seiner jetzigen ingrimmigen Stimmung bot.

Rudi – Großpapa hat doch recht, er ist ein musterhaftes Kind – Rudi zeigte sich bereit, die Katastrophe von der leichten Seite zu nehmen und also nicht zu heulen. Die anwesenden Damen der Familie beschäftigten sich damit, ihn rein zu machen, so gut es ging, und dann wurde weiter marschiert, bis man endlich glücklich beim Photographen anlangte. – – –

Beim Photographieren läßt sich die Geschichte gar nicht schlecht an.

38 »Ist der Rudi brav?« fragt Herr G. mit einer Liebenswürdigkeit, die ihm nicht ganz vom Herzen kommt.

»Er ist brav!« versichert Rudi mit ernsthafter Wichtigkeit, die jeden Zweifel an seinen Worten ausschließt.

»Na, dann legen Sie los, Herr Angermayer!« sagt Herr G. aufmunternd zum Photographen.

Dieser zeigt sich ganz unbesorgt. Er hat eine große Praxis in der Aufnahme von Kindern und die Bilder seien stets vorzüglich gelungen. Großpapa und Großmama fühlen, wie ihnen ein Stein vom Herzen fällt. Wenn es bei anderen Kindern auch geht, von denen doch anerkanntermaßen ganz gewiß keines dem Rudi auch nur das Wasser zu reichen vermag, dann haben wir ja heute etwas geradezu Großartiges zu erwarten. Großmama bemüht sich, meuchlings und ohne daß Rudi dessen inne würde, ihm das Haar mit der Hand etwas in Ordnung zu bringen. Als sie ihm dann aber ebenso meuchlings mit einem angefeuchteten Taschentuch über das Gesicht fuhr, um die letzten Spuren seines Sturzes auf der Straße wegzubringen, da wäre es doch beinahe zu einem ernsten Zerwürfnis gekommen. Denn obschon sie versicherte, daß alles nur Spaß sei, zeigte sich Rudi doch nicht geneigt, auf solche Späße einzugehen, wie es denn überhaupt gewisse Dinge gibt, in welchen er keinen Spaß versteht, und dazu gehört das Waschen, beziehungsweise das Gewaschenwerden.

Rudi wird nun auf einen großen Sessel gesetzt, wo er ruhig sitzen zu bleiben hat, und der Photograph verschwindet, um seine nötigen Sachen zur Stelle zu schaffen. Rudi sitzt mit musterhafter Geduld da, nur 39 findet er, gerade als der Photograph wieder eintritt, daß er nun genug photographiert sei.

Allgemeines Entsetzen und Protestieren! Jetzt soll es ja erst losgehen, aber Rudi hat doch schon genug und er will nun wieder fort.

Ah, das geht nicht! Mit den scharfsinnigsten Vernunftsgründen sucht man Rudi von allen Seiten zu überzeugen, daß ein wahrhaft edler Mensch jetzt noch nicht ans Fortgehen denken, sondern sich erst schön ruhig photographieren lassen würde. Also gut. Rudi läßt sich noch einmal auf den großen Sessel hinsetzen, und der kundige Photograph beginnt, seine Künste spielen zu lassen. Er kräht wie ein Hahn und miaut wie eine Katze, dann schwingt er, während er den Kopf unter dem schwarzen Tuch hält, um zu visieren und das Bild »einzustellen« und während er mit der Rechten die Plattenkassette zurechtschiebt, mit der Linken einen gestrickten Wurstel, so einen Polichinell mit Glöckchen. Dem Photographen wird es ganz warm bei der Arbeit, aber der Zweck ist wenigstens nicht verfehlt; Rudi unterhält sich ganz gut dabei.

Der kritische Moment kommt immer näher, und um Rudi in guter Stimmung zu erhalten, beginnt der Photograph ein neues sinniges Spiel. Er hat immer noch unter dem schwarzen Tuch zu tun; wenn er nun den Kopf hinuntersteckt, so ruft er »Guck, guck!« und wenn er wieder zum Vorschein kommt, ruft er fröhlich: »Da, da!«

Auf dieses Spiel nun hätte sich der Photograph nicht einlassen sollen. Rudi fand nämlich, daß das 40 wirklich ein ganz annehmbares Spiel sei, bei dem man bleiben könne, aber es soll dann auch ordentlich gespielt werden. Er klatschte vergnügt in die Hände, wenn der rote Kopf des Photographen, dem schon die Schweißperlen auf der Stirne standen, zum Vorschein kam, verlangte dann aber noch zahlreiche Wiederholungen, die der Photograph ursprünglich eigentlich nicht auf sein Programm gesetzt hatte. Und nicht genug an dem. Rudi wollte nun, daß es wie bei jedem Spiel ehrlich zugehen müsse, und daß daher der Photograph und er mit den Rollen tauschen sollten. Jetzt wollte er einmal unter das schwarze Tuch kriechen und der Photograph, der sollte sich jetzt nur selber schön auf den großen Sessel hinsetzen.

Herr G. war über diesen Vorschlag sehr entrüstet, und wenn er jetzt nur nicht so dringend angewiesen gewesen wäre auf das verfluchte »freundliche Gesicht«, so hätte er seinem ungeratenen Sohne schon gezeigt, wie so dumme Ideen auf sehr einfache Art zu vertreiben seien, so aber blieb, da alles Unterhandeln nichts nützen wollte, nichts anderes übrig, als auf Rudis Wunsch einzugehen. Der Photograph setzte sich auf den großen Sessel und für Rudi wurde zu dem Apparat ein Rohrstuhl hingeschoben, damit er sich auf diesen stellen und von dort aus das schöne Spiel spielen könne. Den Überwachungsdienst bei dem schwarzen Tuche hatte Herr G. persönlich übernommen; er muß es aber dabei doch versehen haben. Denn nach wenigen Augenblicken lagen der Apparat, das schwarze Tuch, der Rohrsessel, Rudi und Herr G. in einem Knäuel auf der Erde.

41 Herr G. hatte sich also doch überschätzt. Rudi ist nicht leichter zu halten als ein zappelnder Fisch, und so ein windiger Apparat, mit dem dreibeinigen Stativ ist auch leicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Als nun Rudi so neben seinem Papa auf der Erde lag und inne ward, daß die erwarteten »Wichse« sich nicht sofort einstellten, da nahm er die Geschichte von der heiteren Seite. Sich so auf der Erde herumzukugeln war doch auch sehr hübsch und vielleicht noch hübscher, als das Guckguck-Spiel.

Der Photograph besah sich den Schaden; er war nicht der Rede wert. Gebrochen war nur eine Stütze des Stativs, das Objektiv und eine Platte. Für fünfzehn Gulden ist die ganze Sache wieder zu richten, bemerkte er tröstend zu Herrn G., der förmlich nach Luft schnappte, weil er auch jetzt noch nicht den Bengel von einem Sohne durchhauen durfte. Er erwog aber ernstlich im tadellosen Gemüte, ob er ihn nicht doch durchhauen sollte. Es ist wahr, Madame G. wird eine große Freude mit der Photographie Rudis haben, aber anderseits wäre es auch ihm jetzt ein hoher Genuß, Rudi durchprügeln zu dürfen, und so stand Freude gegen Freude – welcher sollte man den Vorzug geben? Herr G. beschloß, ein edler Mensch zu sein und dieses Mal der Gattin die Freude zu lassen, und so kam Rudi wieder ungewichst davon.

Es wird ein anderer Apparat gebracht, und nun übernimmt die Großmama die Leitung des Unternehmens. Sie ist ja doch die Schlaueste von allen. Durch ein großartiges Lügengewebe bannt sie ihn wieder auf 42 den großen Sessel. Sie versichert ihn, daß, wenn er recht aufmerksam auf den Apparat hinschauen werde, dort im geeigneten Moment sein bester Freund, sein liebes, herziges Pintscherl herausspringen werde. Die Unterhandlungen über dieses Pintscherl, das er gleich haben möchte, ziehen sich in die Länge, und der Photograph hat Zeit, seine Sachen wieder herzurichten.

Endlich ist alles in Ordnung, und Rudi braucht nur noch angeschraubt zu werden, sein Kopf wenigstens, das ist unerläßlich. Anschrauben läßt sich aber mein Freund Rudi nicht. Der Photograph, der da hinten an seinem Kopf herumschrauben will, kriegt eine ganz gehörige Ohrfeige und die Großmama, die auch intervenieren will, wird auf die Hand geschlagen. Das findet selbst der Großpapa etwas stark und Herr G. stürzt wütend herbei. Es ist ein gefahrvoller Moment, die Atmosphäre ist pulvergeschwängert. Herr G. ist schon blaß vor Zorn – der wird in seinem Leben keine Rudis mehr zum Photographen führen! – Großpapa hat auch schon die Geduld verloren, Tante Cäsarine ist verzagt, und nur die gute Großmama zeigt sich noch immer der Situation gewachsen. Sie hat die Schraube doch richtig herumgedreht, und in Anbetracht dieses Umstandes beschließt man allerseits, sich noch einmal zu mäßigen.

Nun könnte es eigentlich losgehen, wenn Rudi sich jetzt nicht auf eine andere Stellung kaprizierte. Herr G. ist die Beute einer maßlosen Erbitterung und er überlegt, ob man den Kerl nicht festbinden solle, auf alle Gefahr hin, das Bild möge ausfallen, wie es wolle. Die Großmama beschwichtigt auch Herrn G., 43 sie findet, daß die Sache ganz gut im Zuge sei, und stellt sich neben den Apparat, und markiert mit vormärzlicher Anmut einen schottischen Fackeltanz, um Rudis Aufmerksamkeit ganz zu fesseln.

Der schottische Fackeltanz gefällt ihm ganz gut, aber – der Großpapa soll auch tanzen! Der Großvater beginnt sofort auch zu tanzen. Die Tante Cäsarine soll auch tanzen! Tante Cäsarine tanzt auch. Rudi hätte noch einen Wunsch, aber er traut sich nicht recht heraus damit. Man versteht: Papa G. soll auch tanzen. Und Herr G. in einer Stimmung, daß er den Ozean vergiften könnte – er tanzt auch.

Jetzt ist alles gut, nur der Mann soll dort weg! Der Photograph soll weg, die wichtigste Persönlichkeit! Herr G. schluckt in seiner Wut, aber er tanzt. Da kommt dem Großpapa im entscheidenden Moment die rettende Idee. Er illustriert den schottischen Fackeltanz durch ein wildes indianisches Kriegsgeheul; die Großmama stimmt mit ein, so auch Tante Cäsarine, und schließlich auch Herr G., der sich so wenigstens Luft machen und sich dabei der tröstlichen Vorstellung hingeben kann, daß er jetzt bald jemand skalpieren darf.

Es geht zu wie in einem Narrenturm, und das macht den kleinen Missetäter auf dem großen Sessel doch so perplex, daß der Photograph endlich den Verschluß vom Objektiv abnehmen kann. Jetzt geht's los! Tanz und Gesang werden immer wilder und leidenschaftlicher, bacchantischer, mänadischer, betäubender. Fertig! Der Narrenturm ist wie weggeblasen, und wir haben es wieder mit einer Gruppe vernünftiger 44 zivilisierter Menschen zu tun; nur Rudi wünscht eine Wiederholung der Vorstellung.

Der Photograph verschwindet mit der Platte in die Dunkelkammer. Nach einigen Minuten kehrt er wieder, spitzt den Mund und sagt nichts als: »Großartig!«

Es ist unglaublich, wie dies eine Wort die Stimmung umwandelt. So sind die Menschen; der Erfolg entscheidet. Herr G. küßt seinen Sohn ab und ist ganz stolz auf ihn; er ist ja doch ein braver, ein prächtiger Bub'. Und der Großpapa küßt ihn auch, und die Großmama auch und die Tante Cäsarine auch.

Auf dem Heimweg wird dann Rudi nur noch geschwind im Lügen unterrichtet, damit die Mama nicht erfahre, wo sie heute gewesen seien. Rudi ist auch sehr gelehrig, und zu Hause tritt er zur Mama mit den Worten ins Zimmer: »Rudi nicht beim Photographen gewesen!«

 


 


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