Balduin Groller
Vom kleinen Rudi
Balduin Groller

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Von Rudi und seinem Bruder.

Es wird Ernst mit Rudi, er lernt nun wirklich lesen. Onkel Groller, der Schriftgelehrte und Literaturkundige, wie ihn Madame G. zu bezeichnen die Güte hatte, war bekanntlich mit der ehrenvollen Mission betraut worden, ein geeignetes Lesebuch zu beschaffen, und er schmeichelt sich, seine Mission in wahrhaft glänzender Weise erfüllt zu haben. Rudi hat ein Exemplar einer Jubelausgabe erhalten, die 1000. Auflage der »Fibel oder Schreib- und Leseunterricht« von Albert Haesters. Da ist nicht etwa aus Irrtum eine Null zu viel gesetzt worden, es ist wirklich und wahrhaftig die tausendste Auflage. Onkel Groller hat das treffliche Buch mit einem Seufzer der Wehmut eingekauft. Er gedachte dabei seiner eigenen herrlichen Werke, von welchen jedes eine ununterbrochene Folge von einer Auflage zu erleben pflegt – doch – alles was recht ist! – sein 54 »Junges Blut« hat es zu zwei Auflagen gebracht. (Laßt uns sofort zum Buchhändler eilen, um diese Jubelausgabe zu kaufen.) Er seufzte; denn bei Büchern pflegt die Zahl der Auflagen doch etwas zu beweisen. Ach, du lieber Herrgott, tausend Auflagen! Das sind in diesem Falle drei Millionen Exemplare. Rudi, mein wackerer Jünger der Wissenschaft, du weißt noch nicht, was das heißt. Sei gescheit, mein Junge, und hüte dich davor, je ein näheres Interesse für die Zahl der Auflagen zu gewinnen! Onkel Groller würde sich noch im Grabe umdrehen, wenn du das Gebäude der Bildung, zu dem er nun mit der Fibel den Grundstein gelegt, damit krönen solltest, daß du am Ende selber Bücher schreibst.

Ich rate dir gut. Principiis obsta! Fange lieber gar nicht an – aber ich muß mich besinnen, solche Ratschläge darf ich ja gar nicht geben, sonst bekomme ich's mit Herrn und Madame G. zu tun. Es läßt sich nicht ändern, lesen lernen muß der Mensch; ergib dich darein!

Wenigstens sind deine Fesseln mit Rosen umwunden. Denke mal an, du erhältst eine Jubelausgabe! Ist das nicht eine Lust? Du machst ein Mäulchen und meinst, daß du dir daraus gar nichts machst, und daß die wohl auch nicht anders oder besser sein werde, als die neunhundertneunundneunzig anderen Ausgaben. Du hast ja recht, mein Kind, aber wir können's nicht ändern, wir zwei. Die anderen sind mehr und stärker, sie zwingen uns. Man hat es einmal auf dich abgesehen, daß du auch ein nützlicher Staatsbürger werden sollst, und wenn es nun einmal nicht anders ist, so sei 55 du wenigstens der Vernünftigere, so freue du dich doch mit deiner tausendsten Auflage. Schau, ein so glorreiches Buch! Wenn man von der Bibel absieht, so hat der buchhändlerische Erfolg dieses Buches nicht seinesgleichen. Mir ist kein zweites Beispiel einer solchen Auflagefülle bekannt. Nicht einmal Vater Homers Werke haben es soweit gebracht, und es geht nun schon hoch ins dritte Jahrtausend, daß sie sich ihrer enormen Berühmtheit erfreuen, während das für dich geschriebene Buch es in drei Jahrzehnten zu solcher Verbreitung gebracht hat. Ich rate dir, sei stolz und froh, das ist das beste; denn wenn du's auch nicht bist, es nützt nichts – die Lawine ist im Rollen, ein Opfer der Wissenschaft mußt du werden.

Rudi hat sich mit Würde ins Unvermeidliche gefügt, und ich darf es heute, nachdem mir mehrere Male gestattet war, dem Unterrichte beizuwohnen, mit einem Gefühle der Genugtuung aussprechen, daß er befriedigende Fortschritte macht, und daß Papa G. schwer Unrecht hatte, wenn er gelegentlich zu behaupten liebte, Rudi sei dumm, ach, so dumm! Es ist das nur ein Gebot der mich mit Rudi verbindenden Freundschaft, das mich das hier ausdrücklich betonen heißt.

Herr G. sollte überhaupt nur ganz still sein. Er hat auch in diesem Falle nicht jene Seelengröße, jene Hingebung und Selbstaufopferung geoffenbart, deren man sich von einem wahrhaft väterlichen Herzen sehr wohl hätte versehen dürfen. Es hat, ehe der Unterricht begann, einige häusliche Szenen gegeben, über welche ich hier nicht ganz mit Stillschweigen 56 hinweggehen kann, schon darum nicht, weil ich die Gelegenheit nicht versäumen darf, Madame G. meinen Respekt zu bezeigen. Sie hat sich auch in dieser Affäre als eine Ehrenfrau gezeigt, was man von Herrn G. durchaus nicht sagen kann.

Wer hat ein Kind zu unterrichten, der Vater oder die Mutter? Die Mutter behauptet, der Vater; der Vater erklärt, die Mutter.

»Onkel Groller, wer hat recht?«

Onkel Groller wird von beiden Seiten unter dem Tisch gestoßen und getreten. Von der einen Seite ist es ernste, nachdrückliche, freundschaftliche Mahnung, von der anderen versuchte Bestechung. Onkel Groller macht ein Gesicht, das er zwar nicht selber gesehen hat, von dem er aber nachträglich vermutete, daß es nicht sehr tiefsinnig und geistreich ausgefallen sei. Die Mienen, mit welchen er betrachtet wurde, legten eine solche Annahme ziemlich nahe.

Die Debatte nahm ganz beträchtliche Dimensionen an. Es ist doch ganz klar, daß die Mutter die erste Erziehung des Kindes zu leiten habe. Gewiß, aber das gehöre gar nicht mehr zur ersten Erziehung. Oho! Das Oho! beweise gar nichts; um die wissenschaftliche Ausbildung habe sich der Vater zu kümmern, und man dürfe es nicht darauf ankommen lassen, daß sich die Mama vor den Kindern blamiere! Herr G. läßt sich aber nicht ins Bockshorn jagen. Hier handle es sich noch lange nicht um Wissenschaft, aber selbst, wenn das der Fall wäre, hätte er zu ihr entschieden mehr Vertrauen, als zu sich selbst. Übrigens gebe immer der 57 Gescheitere nach, und zu allem Überfluß läge auch ein Präzedenzfall vor: Beludschistan ist auch von der Mama im Lesen unterrichtet worden.

Die arme Mama! Immer muß sie herhalten und immer muß sie das Bad ausgießen. Beludschistan muß schon die schwere Menge lernen und sie muß alles gewissenhaft mitlernen, weil sie mit ihm die Aufgaben machen muß, während der Rabenvater die vollständigste Talentlosigkeit heuchelt und sich's dabei wohlgeschehen läßt. Man muß nur wissen, was das für eine Arbeit ist mit diesen Aufgaben, insonderheit mit den Zeichnungen. Es ist gar keine Rede, daß der kleine Junge die machen könnte, und die arme Mama muß sich oft stundenlang plagen, bis sie sie fertig bringt. Es sind meist geometrische Sterne und Kreisspielereien, die mit freier Hand gezeichnet werden müssen. In dem Hause verkehren auch sehr berühmte Maler, und so manch ein berühmter Künstler hat schon aus Erbarmen für die geplagte Mama Beludschistans Zeichnungen gemacht. Es ist betrübend, es sagen zu müssen, daß der Junge in solchen Fällen gewöhnlich die schlechtesten Noten für seine Zeichnungen nach Hause gebracht hat. Das ist kein Scherz und keine Übertreibung. Meine Berichte sind authentisch und streng der Wirklichkeit entsprechend; das ist ihr einziger Vorzug, sofern ihnen überhaupt ein solcher beigemessen werden kann.

Immer und immer wieder die Mama! Was geschieht neulich? Beludschistan kommt mit der Meldung aus der Schule, er müsse am nächsten Morgen um fünf Uhr aufstehen und mit der ganzen Klasse beichten 58 gehen. Das ist nun durchaus nicht so eine einfache Sache, man muß doch vorher das Gewissen erforschen. Der Junge hat sich zwar schon eine Skizze seiner Sünden entworfen, aber er besteht darauf, daß ihm bei der endgültigen Feststellung seiner Missetaten geholfen werde. Herr G. lehnt natürlich wieder entschieden ab, das ist das Bequemste. Kaum ist also das Abendessen absolviert, als Beludschistan auch schon mahnt: »Mama, tun wir jetzt Gewissen erforschen!«

»Ja, ja, den Gewissen erforschen, ich auch!« schreit Rudi mit Begeisterung, indem er in die Hände klatscht. Er weiß nicht, um was es sich handelt, aber er möchte nicht zugeben, daß sein Bruder irgendeinen Vorzug genieße. Was wollen Sie von einem solchen Jungen haben? Wenn er vor dem Schlafengehen in seinem Bettchen laut betet, während die Überwachungs- und Bedienungsmannschaft still und andächtig dabei steht, so betet er regelmäßig in aller Frömmigkeit »verheiliget werde dein Name«. Er läßt sich's nicht ausreden. Und lange noch bevor das Wort »gebenedeit« kommt, blickt er auf, um aufmerksam zu machen, daß jetzt bald das schwere Wort kommen werde, das er trotzdem so gut sagen könne. Wenn er von seiner Briefmarkensammlung spricht, so bringt er regelmäßig auch die »gereinigten Staaten von Nordamerika« aufs Tapet. Mit einem Wort, ein ganz dummer Kerl, pflegt Papa G. zu sagen. Wir möchten das doch nicht so schroff hingestellt haben, er denkt nur einfach noch nicht nach über die Bedeutung der ihm unverständlichen Ausdrücke. Man darf es ihm also auch weiter nicht für übel 59 nehmen, wenn er sich über die Erforschung des Gewissens noch keine zutreffende Vorstellung gemacht hat.

Er hat dieses Mal vergeblich »Ich auch!« gerufen, er ist auf dem Wege des kurzen Prozesses ins Kinderzimmer gebracht und ins Bett gesteckt worden – und dann taten Mama und Belus Gewissen erforschen. Ganz ohne Erfahrung ist der letztere nicht mehr, denn er steht jetzt schon vor seiner zweiten Beichte. Dabei ist er nur von einem sträflichen Ehrgeiz besessen. Er hat trotz aller Bemühung nur zwölf Sünden zusammengebracht; sein intimster Freund, der Ludi, hat vor ihm renommiert, daß er siebzehn Sünden habe. Auf dieses Quantum will er nun auch kommen, um nicht zurückzustehen. Er muß es auch so weit bringen, und darum quält er jetzt die Mama, daß sie ihm helfen soll, Gewissen erforschen. Also, Mama hilft.

»Hast du schon: mit der Mama keck gewesen?«

»O ja! Das war das erste!«

Man muß also weiterstudieren, und es wird solange weiterstudiert, bis die gehörige Sündenlast beisammen ist. Es ist kein kleines Stück Arbeit, denn er will sein gerüttelt und gehäuftes Maß, er besteht darauf, denn der Ludi hat auch so viel. Zuletzt erteilt ihm Mama noch eine fromme Lehre und erkundigt sich teilnahmsvoll nach der Buße, die ihm bei der ersten Beichte auferlegt worden sei. »Drei ›Vaterunser‹ und drei ›Glauben‹«. Ob er das auch ordentlich gebetet habe? »Nicht ganz; damals habe er den ›Glauben‹ noch nicht so gut auswendig gekonnt, wie jetzt, darum habe er statt der drei ›Glauben‹ noch vier ›Vaterunser‹ 60 zugegeben.« Der Junge hat also mit dem lieben Herrgott nach seiner Schätzung ein Kompensationsgeschäft gemacht. – Ob er das Beichtgebet ordentlich könne?

»Ich armer, sündiger Mensch –«

Schon gut. Der arme sündige Mensch wird nun auch zu Bett gebracht, damit er am nächsten Morgen nicht gar zu verschlafen sei, und nun endlich kann die arme gute Madame G. auch zur Ruhe gelangen und aufatmen. »Haben wir für morgen nichts mehr auf?« war ihre letzte Frage an ihren Erstgeborenen. Haben wir nichts auf? Sie kommt da zu einer zweiten Jugend, ohne mit der ersten noch fertig zu sein. Jetzt ist Ruhe im Haus, die Schulweisheit ist abgetan, genug ist's studiert und Gewissen erforscht, jetzt kann sie Dame sein. – Ich aber bin noch längst nicht fertig mit meiner Rudi-Epopöe. Sie haben mich A sagen lassen – das Weitere folgt daraus. Wir müssen doch einmal wirklich sehen, wie Rudi lesen lernt. Die Gerechtigkeit erfordert es, daß ich nun auch über sein wissenschaftliches Streben berichte, nachdem ich ihm nun schon so vieles Böse nachgesagt.

 


 


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