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Der Bussard

In England herrschte einst ein König, der sandte, als die Zeit gekommen war, seinen Sohn auf die hohe Schule zu Paris. »Denn«, sagte er sich, »mein Sohn ist nun erwachsen und muß an Wissen und Kenntnis der Welt zunehmen, damit er dereinst in Ehren dieses Land beherrsche.« Sogleich wurde die Fahrt zugerüstet: Frauen und Mannen begleiteten den Scheidenden vor das Tor und umarmten ihn herzlich. Innig umfing er noch einmal die Königin, seine Mutter, neigte sich tief vor ihr zum Zeichen des Dankes und ritt hinweg, während die anderen den Weg zur Burg zurückgingen.

Man hatte ihm zum Hofmeister einen Kaplan mitgegeben, der ihn nun schon unterwegs auf mancherlei Art über edelmännisches Wesen, höfische Sitten, Worte und Gebärden belehrte. Der Schüler faßte rasch auf und erglühte, als er zu Paris angekommen war und die hohe Schule besuchte, sogleich von solchem Wissensdurst, daß er bald zwei seiner Genossen, die beide Söhne des Königs von Frankreich waren, an Wissen und edlem Wesen überflügelte. Da schlossen diese sich enger an ihn an und erwirkten von ihrem Lehrer, daß auch sie bei dem englischen Kaplan Unterricht empfangen dürften, so daß die drei Jünglinge rasch auf das innigste verbunden wurden. Auf diese Weise kam der junge Fürst auch zu Hofe, denn seine Freunde brachten ihn mit sich und führten ihn freudestrahlend ihrem Vater, dem König, vor. Das Hofgesinde hieß ihn allgemein herzlich willkommen und auch die junge Königstochter grüßte ihn freundlich. Ihm aber schien es, als wäre all der andern Gruß ein Wind wider den lieblichen Willkomm, den die zarte Prinzessin ihm bot. Er verneigte sich tief und ging tugendhaft fürbaß. Der König selbst empfing ihn wohl und auch die alte Königin: »Wer ist dieser edle Junker?« fragte sie, »er ist wohlgetan, ein Engel möchte ihn um sein lichtes Wesen beneiden.« Da trat der Kaplan vor und erklärte, auch dieser sei eines mächtigen Königs Kind und weile von England hier, die hohe Schule zu besuchen. »Was am Hofe liegt, seine Absicht zu befördern«, sagte der König, »das sei ihm jederzeit gewährt«, und hieß ihn nochmals willkommen. Alles freute sich des guten Empfangs, besonders aber die liebliche Tochter des Königs mußte dem Jüngling immerzu mit den Blicken folgen. Auch er sah sie oftmals an, Herz und Sinne neigten sich ihr zu, und seine Augen sagten ihr, wie lieb sie ihm wäre. Doch wagte er ihr nicht mit Worten zu verraten, worum Liebe zu bitten pflegt.

Der Kaplan aber sah mit Zorn, wie der beiden Neigung von Tag zu Tage wuchs: »Herr«, sprach er, »entehrt Ihr das Kind des Königs, nachdem Ihr hier bei Hofe so ehrenvoll empfangen worden, und wird man der Liebe gewahr, die Ihr zu ihr im Herzen tragt, nicht Ihr noch ich werden jemals England wiedersehen. Besser, wir ziehen unserer Straße und verlassen dieses Frankreich, als daß Ihr uns hier in Schande und Elend bringt.« »Du hast recht«, erwiderte der Prinz. »Wohlauf, laß uns von hinnen! Wenn mich die junge Königin entläßt, was soll ich dann noch hier.« Aber der König und die alte Königin wollten ihn nicht fortlassen und baten, er möge doch noch ein Jahr verziehen. Da sah er die Geliebte an. »Gewährt es uns!« sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. So blieb er denn und dachte, wie er mit ihr zusammen kommen möchte.

Nun traf es sich eines Tages, daß er die Jungfrau bei einem Fenster stehen fand: sie waren allein, da umfing sie ihn. »Sei Gott willkommen«, sprach er, »daß ich dir nun endlich sagen darf, was ich so lange verhehlte«, und redete von seiner Liebe. Sie aber umfaßte ihn noch inniger: »Warum«, sprach nun auch sie, »hast du nicht meinen Vater um mich gebeten? Denn nun, sagt man mir, sei ich einem Manne anverlobt, der habe ein Königreich mit goldenen Bergen. Aber wie es darum auch stehen mag, er wird mich nie und nimmer bekommen, denn ich liebe keinen andern Mann als dich.« »So will auch ich keine Frau lieben außer dir«, erwiderte er: »Doch hat dein Vater das getan, so wird er nie davon zurückkommen, es wäre denn, du würdest ihm genommen und ich führte dich heimlich fort mit mir.« »Still«, sagte sie, »sprich nicht so laut davon! Pack auf, fahre heim und säume dich nicht! Wenn du aber zu Hause bist, so weile dort ein ganzes Jahr, denn sie haben auch schon den Tag bestimmt, an dem ich dem fremden König gehören soll. Indessen mußt du sorgen, daß du dir drei Fohlen verschaffst, edler, als sie irgend sonst zu finden sind. Mit denen komm dann heimlich wieder genau auf den Tag, da sie mich fortführen wollen, hier in dem Baumgarten wirst du mich wartend finden. Kommt dann der König mit den goldenen Bergen geritten, so werden sie ihm entgegengehen. Dann schwingen wir uns auf und sind schon weit, ehe sie erraten mögen, wohin wir verschwunden sind.« Da umfaßten sie eins das andere und küßten sich.

Der Kaplan aber beobachtete wohl, daß etwas vorging, und wurde immer zorniger. »O weh, Herr, der Not«, sprach er, »Ihr wollt uns ohne Zweifel dem Tode überliefern.« »Hat dich denn der Teufel hergebracht«, rief der Jüngling, »daß du mich ausspürst und mit deiner Neugier verfolgst? Auf, nimm aus der Schatztruhe Gewand, Silber und Schwert und heiße den Knecht uns die Pferde satteln – wir wollen gen England reiten!« Was er befohlen hatte, geschah. Er ging zum König, beugte das Knie und dankte ihm für die Huld und Gnade. Als er aber hinauskam, sah er die junge Königin vor der Tür stehen und seiner warten. Sie bot ihm ihre schneeweiße Hand: da brannten sie beide in Liebe und Sehnsucht. Und während ihr die Tränen über die Wangen rannen, sagte sie leise: »Nun gehst du und ich habe Freude mit Weinen.« »Laß mich aus deinen Armen«, erwiderte er, »und weine nicht! Wir müssen uns meiden, bis uns der liebe Tag erscheint, da ich dich mit mir nehme! Bis dahin schütze Gott dich vor aller Not!« So schieden die beiden in Jammer und Lust.

Als er in England ankam, fand er daselbst Städte und Burgen in blühendem Frieden. Der König kam ihm mit seinen Mannen entgegengeritten und empfing ihn ehrenvoll. Aber seine Sehnsucht und sein Herz war fern bei der Geliebten und achtete nicht darauf, was um ihn vorging: »O lieblicher, roter Mund«, dachte er, »wann soll ich dich wieder küssen? Mir ist so weh nach dir, daß ich keine Freude mehr habe.« Frauen und Männer trieben mancherlei Kurzweil vor ihm, Trommeln, Pfeifen und Saitenspiel, Turnieren, Stechen und Singen. Aber ihm wollte keines davon gefallen, seine Trauer wich nicht von ihm und je mehr schöner Frauen er sah, desto tiefer nur wurde sein Leid, gedachte er jener, die er in Kummer dort zurückgelassen. Indessen ritt er aber im Lande herum und erforschte eifrig die Namen der Burgvögte. Als er sie alle kannte, ließ er drei der besten abseits in ein Haus kommen, und bat sie, ihm drei schnelle Rosse zu verschaffen, edler, als sie irgend sonst gefunden würden. Da suchte man manche gute Stadt ab, ehe man die besten fand: doch wurden sie schon in kurzem vor ihn gebracht. Indessen hatte er bereits einen Ort ausfindig gemacht, wo die Tiere heimlich stehen sollten, daß niemand sie entdeckte. Dort wurden sie hingeführt und glänzend gepflegt: drei kunstreiche Sättel wurden angeschafft, Zaum und Steigbügel mit Golde beschlagen und alles, was sonst von Leder ist, aus seiner Seide hergestellt und mit goldenen Borten überzogen, und Sporen und Sattelbogen aus dem edelsten arabischen Golde gearbeitet. Als dies vollendet war, ließ er sich eine gute Fiedel mit seidenen Saiten und goldenen Nägeln fertigen, wie sie einem Fürsten geziemt: das Holz glänzend poliert, den elfenbeinernen Griff mit Gold und Edelsteinen ausgeziert, dazu einen Fiedelsack von Seide, mit seidenen Goldborten und lieblichem Bildwerk geschmückt.

Über solchen und ähnlichen Vorbereitungen war endlich das Jahr vorübergegangen und der Tag der Abreise da. Der Jüngling brannte, fortzukommen, und schickte seinen Knecht voraus, daß er ihn vor dem Tore erwarte. Dann ritt er ihm heimlich auf Wegen, wo niemand ihn sehen konnte, nach und sprengte mit ihm in fliegender Eile die Straße gen Frankreich zu. »Ich gäbe das Himmelreich um diese Fahrt«, dachte er und ließ das Bild der Geliebten vor seinem Auge schwanken. Nachts, wenn sie in der Herberge waren, schlief er nur selten bis zum nahenden Morgen: »Auf!« rief er und weckte den Knecht, »wir wollen reiten, es ist mir eilig mit dieser Fahrt!« Der Knecht mußte ihm die kostbare Geige nachtragen. Denn er wollte, daß ihn niemand in Frankreich erkannte, bis er endlich in die Nähe des Hoflagers kam. Da wunderten sich Frauen und Edelleute, daß ein so stolzer Herr nichts andres wäre als ein fahrender Fiedler, und der König trat ihm entgegen und bat ihn, bei der Hochzeit seiner Tochter aufzuspielen. Doch der Fremde weigerte sich: »Nein«, sagte er, »ich muß allein weiterreiten bis zu einer, der ich es angelobt habe.« »Ei seht mir doch den Tobsüchtigen«, rief der König, »schlägt er mir nicht meine reiche Gabe und die Ehre ab, bei meinem Feste zu spielen?« »Ach, Ihr wißt ja nicht, wie es darum steht«, erwiderte der Fiedler, »vor einem Jahr hab' ich eine weiße Taube in einem Strick gefangen, in dem sie immer noch gefesselt liegt. Ließ' ich sie nun noch länger darin, so nähme sie mir vielleicht ein anderer Mann, aber dem gönn' ich sie nicht, weil ich sie selber haben will.« Da lachte der König, denn es dünkte ihn ein rechter Narrenstreich, daß einer wegen einer Taube seine Einladung in den Wind schlüge. So ritt der Jüngling denn weiter, den wohlbekannten Weg dahin, und begab sich an eine Stelle, wo er vor dem Blicken der andern wohl geborgen war. Indessen befahl der König seinem Hofgesinde, sich zum Empfange des Königs von Marokko gerüstet zu halten, denn dieser war es, der die Prinzessin an diesem Tage holen sollte. Als der Bote kam, gingen alle Frauen und Mannen dem König feierlich entgegen, um ihn mit geziemenden Ehren zu begrüßen. So vergaß man der Jungfrau und ließ sie allein. Als sie dessen gewahr wurde, ging sie rasch hinunter in den Baumgarten, den Geliebten zu erwarten, er aber war schon da. Schnell, ohne sie erst noch zu begrüßen, denn Furcht und Not drängte, hub er sie auf sein Roß, die ihm geschwind ihr Händlein hinaufgereicht, und ritt mit ihr und den Pferden in fliegender Eile dahin. Sie hielten sich umschlungen und küßten sich Mund und Wangen, während die Rosse über das Gefilde sausten. Inzwischen war auch der fremde König eingeritten und man fragte nach der Braut. Alles suchte, aber die Jungfrau war nirgends zu finden. Da erhob sich allgemeiner Jammer und Leid, denn das Gerücht verbreitete sich, ein Engel habe sie entführt, damit ihr reiner, zarter Leib nie durch eines Mannes Liebe befleckt werde. So nahm denn der König von Marokko Abschied und ritt wieder dahin, von wannen er gekommen war.

Um dieselbe Zeit war der junge Fürst mit der Entflohenen in einen verwilderten Tann gelangt, der lieblich in Maienwonne voll von Blumen und Blüten stand. Da bat sie ihn herzlich, er möge den Knecht in die nächste Stadt vorausschicken, Herberge zu beschaffen. Sie selbst aber blieben allein auf dem grünen Plan zurück und ruhten im Grase zwischen den Blumen, bis das Mädchen ihm auf dem Schoß entschlief. Sie hatte zwei Ringlein an der Hand, die zog er ihr ab, während sie schlief, und betrachtete sie, denn ihn dünkte, er habe nie schönere an eines Menschen Hand gesehen. Da stieß plötzlich ein Bussard herab und riß ihm den einen von den Ringen aus der Hand. Ihn dauerte die Kostbarkeit, zornig sprang er auf und eilte mit Prügeln und Steinen hinter dem Bussard her, der immer weiter entflog. So kam er stets tiefer in die Wildnis hinein, irrte, den Vogel verfolgend, bald hierhin, bald dorthin und fand sich am Ende so fern von der Stelle, von der er ausgegangen war, daß er den Weg zurück nicht mehr finden konnte. Da brach er in schrecklichen Jammer aus und schrie in Elend und Not: »Nun hab' ich mein Lieb verloren, weh, warum wählte sie mich, da doch ein Fürst, viel edler als ich, sie in Freuden und Herrlichkeit dahingeführt hätte, und ritt mutterseelenallein mit mir aus Ehre und Glück davon! Hätt' ich die Fahrt nie getan, lieber wollt' ich für immer ein landfremder Pilgrim sein und morgen nicht schlafen, wo ich heute schlief!« So klagte er fort, Stiche durchbohrten sein Herz, wilde Tränen quollen ihm strömend über Wangen, Brust und Hände. Er schlug und raufte sich und gab Hirn und Mark so grenzenlos dem Jammer dahin, daß seine Vernunft zerbarst: er wurde wahnsinnig. Da mißhandelte er seinen Leib, zerrte seine Kleider herab, ließ sich auf die Hände nieder und lief gleich den wilden Tieren des Waldes auf allen vieren durch Dornen und Gebüsch. Menschlicher Sinn schwand ganz und gar von ihm: so lebte er vertiert in dem großen Walde.

Inzwischen war fern in dem Tann, wo der Bussard ihm den Ring geraubt, das Jungfräulein in süßem Schlafe gelegen und erwachte nun. Sie sah sich um und es wurde ihr ein wenig angst, als sie den Liebsten nicht bei sich fand, aber sie dachte: »Sein Roß und sein Mantel sind hier, so wird er wohl bald wiederkommen«, und tröstete sich. Als es aber gar zu lange währte, saß sie traurig da und blickte weit um sich: »Liebster, was hast du mich so lange hier allein gelassen«, sprach sie zu sich selber. Sie kannte nicht Weg noch Steg, da sah sie dorther ein Wasser fließen, dem ritt sie nach und ihr war ernst und trüb zumute. Endlich kam sie an eine Mühle, wo sie zu nächtigen gedachte, und stieg vom Roß. Der Müllermeister trat ihr entgegen, da grüßte sie ihn züchtig, neigte sich und bat ihn herzlich um Herberge. »Schönes Fräulein«, sagte er, »wie kommt es doch, daß Ihr so alleine seid?« Da erzählte sie ihm, sie habe ihren Begleiter verloren. Er führte sie hinein und ließ ihr von seinem Knaben die Rosse abnehmen. Drinnen bereitete man ihr einen schönen Sitz, darauf sie sich niederließ, und der Müller fragte sie nun weiter darüber aus, was in dem Walde geschehen sei. Da berichtete sie ihm alles, wie es sich zugetragen. »So ist mein Rat«, sagte er, »daß Ihr hier bei mir in der Mühle bleibt. Ist er am Leben, so kommt er hierher sicherlich früher, als an irgendeinen andern Ort.« »So nimm und verkaufe die Pferde«, erwiderte sie, »und bring uns um drei Mark Seide und Gold, daß ich damit unsern Unterhalt verdiene. Denn Stolen und Kirchengewänder, Tücher und Borten weiß ich gar kunstreich zu machen, und wir können beide von meiner Hände Arbeit leben.«

So war sie in der Mühle ein ganzes Jahr, bis gegen Ostern, da die Vöglein wieder zu singen begannen und Klee und Blumen aufs neue hervordrangen. Ihr war weh um ihren Lieben, aber sonst hatte sie es gut. Nun hauste in der Nähe der Mühle ein reicher Herzog, der es liebte, sich am Maientag im schönen Wald mit seinem Hofgesinde um einen Brunnen zu lagern und sich den Tag lang im Freien zu ergötzen. Die Mühle lag mitten im Walde, eine schöne Linde stand davor, unter der ein kalter Brunnen entsprang. Da ritten sie nun alle hin, um dort ihr Lustlager aufzuschlagen. Als die Herzogin das königlich feine Mägdlein erblickte, wunderte sie sich und sprach zu ihr: »Wie mag das sein? Bist du in dieser Mühle erzogen? Wärst du als ein lieblicher Engel aus dem Himmelreich hierher gekommen, du könntest nicht schöner sein.« Sie bat den Müller, er möge gestatten, daß sie das edle Mägdlein als Hoffräulein mit sich nehme. Aber dieser erwiderte: »Gnaden, Frau Herzogin, fragt sie selbst, denn ich wag' es nicht, darüber zu bestimmen.« »Ich täte es gern«, sagte das Mägdlein, »verstünd' ich nur, wie man auf Burgen dienen muß. Doch weiß ich leider nicht Bescheid darin.« »Was sprichst du da!« entgegnete die Herzogin. »Du wirst es mir nicht ausreden, daß du aus einem edlen Hause bist, alles spricht dafür, die Bildung deines Leibes, dein Wesen und lieblicher Anstand. Wo hast du so herrlich nähen gelernt? Dergleichen Arbeit mit Seide und Gold ward wohl noch selten in Mühlen gesehen.« »Wir wollen sie mit uns nehmen«, entschied der Herzog.

Dieser entstammte dem mächtigen Hause derer von Engelstein und war ein Bruder des Königs von England, mit dem gemeinsam er noch tiefes Leid um das Unheil trug, das sie betroffen, als der junge Fürstensohn spurlos verschwunden war. Zwar hatte man manchen Boten weithin in die Lande gesendet, aber keiner hatte Kunde von dem Verlorenen gebracht. Am Hofe dieses Herzogs lebte nun die Jungfrau und wurde von allen auf das beste gehalten und geehrt. Aber kein Mensch sah sie jemals fröhlich. Wenn sie allein war, weinte sie. So ging abermals ein Jahr dahin.

Eines Tages nun fuhr des Herzogs Jägermeister mit seinen Gesellen in den Wald zur Jagd. Man koppelte die Hunde los und machte sich auf: über rauhe Stege ging es kreuz und quer dahin, durch Gefilde, Wald und Ödnisse. Man war einem Hirsche auf die Spur gekommen, der lang und lang vor ihnen herlief. Da erblickten sie plötzlich einen Mann, der in der Wildnis auf allen vieren herumging. Die Hunde liefen ihn an, da floh er hoch auf einen Baum und wiegte sich in seinem Wipfel. Es waren im ganzen drei Jägersleute: von denen blieben zwei bei dem Wilden zurück, den dritten aber schickten sie heim, daß er dort verkündige, wie ihr Meister einen behaarten wilden Mann erjagt habe, der dann auf einen Baum entflohen sei. »Ich will hinreiten«, sagte der Herzog, ließ sich sofort Reitkleid und Roß geben und machte sich auf. Aber ehe er noch in den Wald kam, hatten die Jäger den wilden Mann gefangen und trieben ihn vor sich her. Als der Herzog dies sah, erbarmte ihn des Mannes Unglück: er ließ ihn aufrichten und ihm die Beine gerade ziehen. Aber es half nichts, der Wilde fiel wieder zurück und war auf keine Weise zu bewegen, wie ein Mensch zu gehen. Doch der Herzog sprach: »Er sieht nicht aus wie einer, der von Geburt auf so tierisch gewesen. Gebt ihm warme Speise und pflegt ihn, so wird er wieder zu sich kommen.« So führten sie ihn denn mit sich nach Hause.

Als man daselbst angekommen war, bat man die Frauen, hinauszugehen, denn man wollte ihnen den schrecklichen Anblick ersparen, ehe der Wilde nicht gebadet und geschoren sei. Denn Leib, Arme und Beine waren ihm ganz und gar mit spannenlangen Haaren überzogen. Sechs Wochen wurde er nun gebadet und geschoren, des Abends gesalbt und gerieben und Tag und Nacht mit guter Speise gepflegt, dergestalt, daß Hirn und Mark ihm wieder frisch ward und er menschliche Rede verstehen, reiten und gehen konnte. Da sah er einmal einen Falken bei der Wand auf dem Gestänge sitzen. »Kannst du damit umgehen?« fragten sie ihn. »Ei ja, gehörte der mir«, entgegnete er, »da könnt' ich wohl mit beizen und jagen.« Darüber lachte der Herzog und gab ihm vier Leute mit, die ihn bewachen sollten, wenn er in Toben geriete. Als sie nun draußen auf dem Gefilde waren, sahen sie einen Bussard fliegen. Kaum hatte der Wilde diesen erblickt, so ließ er den Falken schwingen und rief: »Bringe mir den Bussard, das gebiet ich dir, denn er muß mein sein!« Schnell schwang der Falke sich auf, noch schneller senkte er sich wieder und stieß den Bussard zu Tode. Da stürzte der Jüngling sich über den getöteten Vogel, biß ihm den Kopf ab, riß ihm Haut und Fleisch vom Leibe und warf Gebein und Gefieder in den Schmutz. Als die vier dies sahen, sprachen sie untereinander.: »Wir wollen ihn heimbringen, es scheint, er will wieder toben.« Sie legten Hand an ihn, er aber rief: »Laßt mich hier draußen, bis wir einen Vogel erlegen, den wir dem Herzog bringen können.« Da kam just hoch und schnell eine wilde Ente vorübergeflogen, der beizte der Falke nach, bis er sie herunterstieß. Sogleich sprang der Jüngling vom Rosse, nahm den Falken auf die Hand und streichelte ihm das Gefieder. Dann hob er die tote Ente auf und stieß sie in seine Jagdtasche. So ritten sie hinein: man brachte Wein und Brot und bewirtete sie wohl, wie es glücklichen Jägern geziemt. Der Herzog selbst setzte sich zu dem Wilden und trank und aß wacker mit. Man hatte ihm erzählt, was der Mann draußen getrieben: »Nun wird es ihm aber nicht erlassen,« sprach er, »er muß sogleich ansagen, aus welchem Grunde er den Bussard so jämmerlich zerriß.« Der Fremde zögerte zuerst: »Ihr würdet nimmer froh«, sagte er, »erführt Ihr nur die Hälfte von dem, was Leides mir widerfahren ist.« Dann aber begann er zu erzählen: und je mehr er erzählte, desto höher und klarer stiegen die Erinnerungen in ihm auf, bis er mit dem Raub des Ringes, der wilden Verfolgung des Bussards und seinem Irrgang in der Wildnis schloß. »Mir hätte der Tod nicht so weh getan«, sagte er, »als daß ich die Allerliebste dort allein ließ und nicht weiß, wie es ihr geht. Denn sie war die Tochter eines Königs in Frankreich, ich aber bin von England her und auch eines Königs Sohn.«

Als die Jungfrau dies vernahm, sprang sie auf und sank ihm weinend in die Arme, dann fiel sie ohnmächtig zu Boden. Der junge Fürst schwieg still, denn das Wort versagte ihm. Der Herzog aber, ohnmaßen froh über die Kunde, umfing sie beide und sprach: »Bist du meines Bruders Kind, so sei mir Gottwillkommen! Und ist jemand hier, dem meine Ehr' und Freude lieb ist, der trete auch herzu uud begrüße meinen Fürsten und Herrn!« Man geleitete sie auf die Sitze zurück, bot ihnen den Ehrenplatz und bewirtete sie noch reicher und edler denn zuvor. Dann gab der Herzog Befehl, zwölf stolze Ritter sollten sich zur Fahrt bereit halten, sechs gen England, sechs gen Frankreich. Als sie zu Paris ankamen, empfing der König sie ehrenvoll und ließ ihnen Rosse und Gewänder geben, als er die Botschaft vernahm. Grafen, Freiherren und Dienstmannen, alles, was von edlem Geschlechte an dem Hofe war, Ritter und Knappen wurden sogleich zur Fahrt gerüstet. Die Königin befahl ihren Jungfrauen, ihre festlichsten Kleider anzulegen und sich gleichfalls zur Reise bereit zu halten. So machte sich der glänzende Zug schleunig gen Engelstein auf.

Als man daselbst angelangt war, wurden auf dem Gefild die prächtigsten Lustzelte aufgeschlagen. Da kam auch schon der von England daher, reich mit Geleit und Rossen. Als man auf der Burg vernahm, daß beide Könige mit großem Gefolge angekommen seien, erschien der Junker mit vierundzwanzig Rittern, selbst ritterlich gekleidet, zu Rosse auf dem Plan, danach die junge Königin von Frankreich mit ihren Mägden. Ein Ausrufer verkündigte im Lande zweier Könige Hof, die ihre Kinder verloren und wiedergefunden hätten und nun die Vereinigung mit nie dagewesenen Lustbarkeiten zu feiern gedächten. Da kamen viele Bischöfe und Herren des Landes auf das liebliche Gefild bei Engelstein, und Frauen und Männer drängten sich stürmisch heran. Vierhundert Spielleute machten Musik und war keiner unter ihnen, der nicht Stoffe und Kleider zum Lohn erhalten hätte. Der Junker wurde zum Ritter geschlagen und warf, desgleichen die Braut, güldene Pfennige unter die Menge, als der Hochzeitszug sich über den Platz bewegte. Da wurde reich gegessen, getrommelt, gepfiffen und gefiedelt, turniert und gestochen, bis endlich das Fest zu Ende ging. Als man nun den Junker fragte, wo er wohnen wolle, in Paris oder England, entschied er sich für beides abwechselnd, erhielt von seinem Vater Städte und Burgen und lebte mit seinem lieblichen Gemahl in Glück und Herrlichkeit bis sein sein Ende.


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