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Neununddreißigstes Kapitel.
Die Folgen eines großen Verbrechens.

»O, Eleonore!« rief ich, ohne große Umstände in ihr Zimmer eilend, »sind Sie vorbereitet, eine gute Nachricht zu vernehmen? Eine Nachricht, welche das Rot auf Ihre bleichen Wangen und den Glanz in Ihre matten Augen zurückzaubern wird, die den Freudenschein der Hoffnung und des Glückes wiederum über Ihren Lebenspfad breitet?«

»Ich weiß nicht,« murmelte sie; »ich fürchte, was Sie für gute Nachricht halten, ist keine für mich.«

Als ihr nun aber die volle Wahrheit bekannt wurde, als ich ihr mit allem Eifer und allem Takt, dessen ich fähig war, bewies, daß ihr Verdacht grundlos gewesen, daß Trueman Harwell und nicht Mary den Mord begangen, da lauteten ihre ersten Worte: »Führen Sie mich zu ihr, o, führen Sie mich zu ihr! Ich mag nicht eher glücklich sein, als bis ich sie auf den Knieen um Verzeihung gebeten habe; Gott im Himmel, wie konnte ich ihr nur solches Unrecht zufügen!«

Ich hielt es für das Beste, mich ihrem Wunsch zu fügen, besorgte einen Wagen und fuhr mit ihr nach dem Hause ihrer Cousine.

»Mary wird mich von sich stoßen,« schluchzte sie unterwegs, »sie wird mich nicht eines Blickes würdigen; und sie thut recht daran, ein Unrecht wie dieses kann niemals vergeben werden. Aber – Gott ist mein Zeuge! – ich hielt meinen Verdacht für gerechtfertigt, und wenn Sie wüßten –«

»Ich weiß es,« unterbrach ich sie, »Mary erkennt selbst an, daß die Indizien gegen sie überwältigend waren, sie räumt ein, daß alle Welt sie für schuldig halten mußte und –«

»Hat sie das gesagt?«

»Ja.«

»Heute?«

»Ja.«

»Dann muß sie ihre Ansichten sehr geändert haben.«

Wenige Sekunden darauf hielt der Wagen, und ich betrat mit Eleonore das Haus, welches der Schauplatz so vielen Jammers gewesen war. Die Augen meiner schönen Begleiterin leuchteten, ihre Wangen glühten, von ihrer reinen Stirn waren die Schatten gewichen, – so schnell schmilzt das Eis der Verzweiflung im Sonnenschein der Hoffnung.

Thomas öffnete die Thür, und erfreut seine Gebieterin wiederzusehen, sagte er: »Fräulein Leavenworth befindet sich im Familienzimmer.«

Da ich bemerkte, daß Eleonore vor Erregung kaum im stande war, sich aufrecht zu erhalten, fragte ich sie, ob sie nicht lieber warten wolle, bis sie sich beruhigt haben würde.

»Ich muß sofort gehen, ich kann nicht warten!« antwortete sie, riß sich von meinem Arm los, durchschritt den Korridor und legte die Hand an die Thür des Wohnzimmers, als diese plötzlich von innen geöffnet wurde und Mary heraustrat.

»Mary!«

»Eleonore!«

Der Klang der beiden Stimmen sagte alles. Eleonore war ihrer Cousine zu Füßen gestürzt, und diese hatte sie beschämt aufgehoben. »Meine Sünde gegen dich ist zu groß,« rief die erstere, »du kannst mir nicht vergeben!«

»Meine Reue über meinen früheren Hochmut ist so wahr, daß ich alles vergebe!« lautete die leise Antwort.

Der Schatten zwischen den beiden Frauen war gewichen wie eine Wolke vor der Windsbraut, und die Zukunft hatte für sie nur gegenseitiges Vertrauen und warmes Mitgefühl.

Als ich etwa eine halbe Stunde später die Thür des Empfangssalons, in welchen ich mich zurückgezogen hatte, leise öffnen hörte und Mary auf der Schwelle stehen sah, war ich erstaunt über den Ausdruck sanfter Demut, welchem der sonst hoffärtige Zug in ihrem Gesicht gewichen war. Ich ging ihr entgegen und reichte ihr die Hand mit einem Gefühl der Achtung und Freundschaft, wie ich nicht geglaubt hätte, es je gegen sie empfinden zu können.

»Ich danke Ihnen,« sprach sie errötend, »ich habe überhaupt allen Grund, sehr dankbar zu sein; wie sehr, das ist mir erst heute klar geworden; aber jetzt bin ich nicht im stande, darüber zu sprechen, ich wollte Sie nur bitten, Eleonore überreden zu helfen, das Vermögen meines Onkels aus meinen Händen anzunehmen; es gehört ihr, wie Sie wissen, war ihr vermacht, oder würde es wenigstes gewesen sein, wenn –«

»Halt!« warf ich überrascht ein, »haben Sie das auch wohl erwogen? Sind Sie wirklich entschlossen, die Reichtümer Ihres Onkels in den Besitz Ihrer Cousine übergehen zu lassen?«

»Wie können Sie daran zweifeln?« hauchte sie.

Clavering saß neben Eleonore, als wir in das Wohnzimmer traten; sofort erhob er sich von seinem Sitze. »Herr Raymond,« sprach er, mich auf die Seite ziehend, »vor allem gestatten Sie mir, Sie um Verzeihung zu bitten. In Ihrem Besitze befindet sich ein Schriftstück, das ich Ihnen niemals hätte aufdrängen sollen; es war eine Beleidigung für Sie, die ich aufrichtig bereue; aber sie beruhte auf einem erklärlichen Irrtum. Wenn Sie in Erwägung meines damaligen traurigen Gemütszustandes mir vergeben wollen, so werden Sie mich für immer zu Ihrem Schuldner machen; wenn nicht –«

»Herr Clavering,« unterbrach ich ihn, »sprechen Sie nicht weiter, die Vorfälle jenes Tages gehören der Vergangenheit an, und ich für meinen Teil bin fest entschlossen, dieselbe sobald als möglich zu vergessen; die Zukunft winkt uns zu verheißend, als daß wir uns bei überwundenen Widerwärtigkeiten aufhalten sollten.«

Mit einem Blick gegenseitigen Verständnisses und einem freundschaftlichen Händedruck begaben wir uns wieder zu den Damen zurück.

Von der Unterhaltung, welche nun folgte, brauche ich nur das Ergebnis zu berichten: Eleonore blieb fest in ihrer Weigerung, einen Reichtum anzunehmen, der mit Blut befleckt war, und so kam man schließlich dahin überein, denselben der Errichtung und Erhaltung einer wohlthätigen Anstalt zu weihen, deren Segnungen der Stadt und ihren unglücklichen Armen zu gute kommen sollten.

Als wir uns von dem jungen, nunmehr vereinten Ehepaar verabschiedet hatten, und ich, nachdem ich Eleonore nach Hause geleitet, in Schlummer gesunken war, umfing mich ein Traum seligen Glückes, aus welchem ich seitdem nicht wieder erwacht bin; denn der Glanz ihrer treuen Augen ist schon seit vielen, vielen wonnigen Monaten der Leitstern meines Lebens.


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