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Siebenzehntes Kapitel.
Große Ueberraschungen.

In den nächsten Tagen hatte es ganz den Anschein, als ob ich nur geringe Fortschritte machen würde. Clavering mied, vielleicht durch meine Anwesenheit veranlaßt, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort und nahm mir so alle Gelegenheit, seine Bekanntschaft in unauffälliger Weise zu machen, während die Abende, welche ich in Fräulein Leavenworths Hause zubrachte, mir fast nur Aufregungen und Unbehaglichkeit verursachten.

Das Manuskript bedurfte der Durchsicht weniger, als ich anfänglich geglaubt hatte, da Herr Leavenworth ein Mann gewesen war, der mit großer Aufmerksamkeit und Sorgfalt arbeitete; doch hatte ich, während ich die geringen notwendigen Aenderungen machte, Muße genug, Harwells Charakter zu studieren.

Ich fand, daß er nicht mehr und nicht weniger war als ein ausgezeichneter Famulus. Er war steif, unzugänglich und finster, aber pflichtgetreu und zuverlässig, so daß ich ihn achten lernte und sogar eine gewisse Zuneigung zu ihm faßte, obwohl ich bemerkte, daß sie nicht gegenseitig war. Von Eleonore sprach er niemals; er berührte nicht einmal die Unruhe, in der sich die Familie befand, bis sich mir der Gedanke aufdrängte, daß diese Schweigsamkeit einen tieferen Grund haben müsse. Infolge dieser Vermutung unterließ ich es nicht, ihn scharf zu beobachten; aber er war immer derselbe fleißige, ausdauernde, ruhige Arbeiter.

Diese fortwährende Erfolglosigkeit rieb mich fast auf; – Clavering scheu – der Sekretär unnahbar! Was konnte dabei herauskommen? Auch meine kurzen Besuche bei Fräulein Mary brachten mich nicht vorwärts; sie schien eine Krisis durchzumachen, die ihr große Qual verursachte. Wenn sie sich allein glaubte, rang sie oft die Hände, wie um ein drohendes Uebel oder eine beängstigende Vision abzuwehren; oder sie stand gesenkten Hauptes mit matt herabhängenden Armen da, ihre ganze Gestalt regungslos und anscheinend ohne Empfindung, als leide sie unter einer Last, die sie weder ertragen noch abwerfen konnte. Für gewöhnlich indessen bewahrte sie ihr stolzes, selbstbewußtes Benehmen.

Ein solches Gebahren hielt mich auf der Hut, und ich lebte der Hoffnung, daß mir die junge Dame über kurz oder lang Aufklärung geben würde. Diese zitternden Lippen mußten sich doch wohl einmal öffnen und mir das Geheimnis, das Eleonores Glück und Ehre bedrohte, offenbaren. Ich konnte jene grausame Anklage, die sie einst ihrer Cousine entgegengeschleudert, nicht vergessen; und um dieses Rätsel zu ergründen, verlängerten sich unmerklich meine Besuche bei Mary, wogegen sich die Zeit meiner Anwesenheit in der Bibliothek verkürzte, so daß sich der unermüdliche Sekretär öfters beklagte, ohne Arbeit zu sein.

So verfloß die Zeit, und ein zweiter Montag-Abend rückte heran, ohne daß ich der Lösung des Problems auch nur um einen Zoll breit näher gekommen wäre als vor zwei Wochen. Im Hause selbst sprach niemand mehr von der Mordthat noch von Hannah, obwohl man die Zeitungen nicht einen Augenblick in der Hausthür liegen ließ, sobald der Träger sie gebracht hatte; Herrin und Gesinde bezeugten ein gleiches Interesse, den Inhalt der Morgen- und Abendblätter kennen zu lernen. Mich selbst trieb es wie wahnsinnig an, die Dielen aufzuheben und die Tapeten abzureißen, als könnte ich hinter denselben finden, was ich zu wissen begehrte.

An diesem Montag indessen war ich ruhiger als sonst; am Tage zuvor hatte ich Eleonores schönes und doch so trauriges Antlitz am Fenster ihres Hauses gesehen, und ihr Anblick hatte mich so ermutigt, daß ich sogar noch eine Woche der Enttäuschung hätte ertragen können.

Ich hatte mich darauf gefaßt, durch meine Besuche bei Mary nichts mehr zu erfahren, und betrat ihr Haus an dem fraglichen Abend mit einem Gleichmut, wie ich ihn, seit ich den Eingang zum erstenmal durchschritten, nicht wieder empfunden hatte.

Als ich mich dem Empfangssalon näherte, bemerkte ich, daß Mary mit einer Unruhe in demselben auf und ab schritt, als erwarte sie eine Meldung oder einen Besuch. Ich faßte einen raschen Entschluß, ging auf sie zu und fragte: »Habe ich das Glück, Sie allein zu treffen, Fräulein Leavenworth?«

Sie blieb stehen und erwiderte errötend meinen Gruß, forderte mich aber nicht wie sonst zum Eintritt auf.

»Würden Sie meine Aufdringlichkeit verzeihen, wenn ich es wage, Sie um eine kurze Unterredung zu bitten?«

Sie schaute ungeduldig nach der Uhr und schien sich entschuldigen zu wollen, daß sie mich nicht empfangen könne; plötzlich aber ward sie andern Sinnes, schob einen Stuhl vor das Kaminfeuer und winkte mir, mich zu setzen.

Obwohl sie sich bemühte, ruhig zu erscheinen, entging mir ihre seltsame Aufregung nicht; zugleich fühlte ich jedoch, daß mir nur wenige Minuten gehören würden, und ich begann deshalb: »Fräulein Leavenworth, wenn ich Ihnen heute abend lästig falle, so habe ich dafür einen andern Grund, als nur Ihre Gesellschaft genießen zu wollen; ich bin gekommen, eine Bitte an Sie zu richten.«

Sofort sah ich, daß ich ihr ungelegen kam. »Eine Bitte an mich?« fragte sie kalt.

»Ja,« fuhr ich unbeirrt fort; »bis jetzt ist mir noch jeder Versuch, die Wahrheit zu ergründen, mißglückt, und so bitte ich Sie um Ihre Hilfe, um das Wort, welches Ihre Cousine zwar nicht retten, uns aber vielleicht auf die Spur bringen kann.«

»Ich verstehe Sie in der That nicht,« versetzte sie, zusammenzuckend.

»Fräulein Leavenworth,« erklärte ich, »es ist überflüssig, Ihnen auseinanderzusetzen, in welcher schlimmen Lage Ihre Cousine sich befindet; Sie wissen, welche Fragen in der Coroners-Untersuchung ihr gestellt wurden, und in eine wie gefährliche Stellung sie die Beantwortung derselben gebracht hat; aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist, daß, wenn der auf ihr ruhende Verdacht nicht bald gehoben wird, sie –«

»Großer Gott!« rief Mary aus, »Sie meinen doch nicht etwa, daß –«

»Sie verhaftet werden wird? Allerdings!«

Der Pfeil hatte getroffen; Scham, Angst und Entsetzen spiegelten sich in jedem Zuge des bleichen Gesichtes.

»Und das bloß um des Schlüssels willen?« murmelte sie.

»Um des Schlüssels willen? Was in aller Welt wissen Sie denn von einem Schlüssel?«

»Was ich davon weiß?« stotterte sie verlegen; »haben Sie selbst es mir denn nicht erzählt?«

»Nein,« entgegnete ich.

»Dann habe ich es in den Zeitungen gelesen.«

»Die Zeitungen haben nichts darüber gebracht.«

Sie wurde immer verwirrter. »Ich glaubte, jedermann wisse das,« stammelte sie. Dann aber verbesserte sie sich mit einem Ausdruck plötzlicher Entschlossenheit: »Nein, das habe ich nicht geglaubt; ich wußte, daß es ein Geheimnis war; aber – O, Herr Raymond! Eleonore selbst hat es mir erzählt.«

»Eleonore?«

»Ja, an jenem letzten Abend, als sie hier war, und wir beide im Besuchszimmer zusammen trafen.«

Ich konnte meine Ungläubigkeit kaum verbergen. Eleonore, die doch von dem Verdachte wußte, welchen ihre Cousine auf sie hatte, sollte letzterer eine Thatsache mitgeteilt haben, welche diesen Verdacht noch steigerte? Das vermochte ich nicht zu fassen.

»Aber Sie wußten es doch,« fuhr Mary fort, »und ich habe nicht verraten, was ich geheim halten sollte.«

»Nein,« antwortete ich; »aber gerade das ist ein Punkt, Fräulein Leavenworth, der die Lage Ihrer Cousine zu einer sehr gefährlichen macht. Wenn diese Thatsache unaufgeklärt bleibt, so muß es den Namen Ihrer Cousine für immer mit Schmach bedecken; es ist ein Glied in der Kette des Indizien-Beweises, das keine Spitzfindigkeit wegräumt, kein Leugnen entfernt. Nur ihr bisher makelloser Ruf und der Glaube eines Mannes, der trotz des gegen sie sprechenden Scheines von ihrer Unschuld fest überzeugt ist, hat sie bis jetzt vor dem eisernen Griff der Diener der Gerechtigkeit bewahrt. Jener Schlüssel und das über denselben beobachtete Schweigen versenkt sie langsam aber sicher in einen Abgrund, aus welchem ihre besten Freunde bald nicht mehr im stande sein werden, sie zu retten.«

»Und Sie sagen mir das –«

»Auf daß Sie Mitleid mit dem armen Mädchen haben sollen, das für sich selbst kein Mitleid kennt, und uns durch die Eröffnung einiger Einzelheiten, die Ihnen bekannt sein müssen, darin beistehen, Ihre Cousine von dem Verdacht zu befreien, der sie zu vernichten droht.«

»Und Sie, mein Herr, können glauben, daß ich mehr darüber weiß als Sie, daß ich noch mit Dingen zurückhalte, welche das furchtbare Trauerspiel betreffen, das unser Haus in eine Wüstenei und unser Dasein in ein dauerndes Schrecknis verwandelt hat? Ist vielleicht der Verdacht auch auf mich schon gefallen? Sind Sie gekommen, mich in meinem eigenen Hause anzuklagen?«

»Fräulein Leavenworth,« bat ich, »beruhigen Sie sich; es kommt mir nicht in den Sinn, Sie irgendwie zu beschuldigen; ich möchte nur, daß Sie mich über den vermutlichen Grund des so verdächtigenden Stillschweigens Ihrer Cousine aufklären. Derselbe kann Ihnen nicht unbekannt sein; Sie sind ihre Verwandte, fast ihre Schwester, sind seit Jahren ihre tägliche Gefährtin gewesen und müssen es deshalb wissen, weshalb oder für wen sie ihre Lippen so versiegelt und Thatsachen verheimlicht, die, wenn sie bekannt wären, den Verdacht auf den wirklichen Thäter lenken würden, – d. h. wenn Sie, was Sie bisher stets versichert haben, von der Unschuld Ihrer Cousine überzeugt sind.«

Da sie mir keine Antwort gab, stand ich auf und trat vor sie hin. »Fräulein Leavenworth,« fragte ich ernst und eindringlich, »glauben Sie, daß Ihre Cousine an diesem Verbrechen unschuldig ist – oder nicht?«

»Unschuldig? – Eleonore? – O, mein Gott! Wenn nur alle Welt so schuldlos wäre wie sie!«

»Dann müssen Sie auch annehmen, daß, wenn sie Thatsachen verschweigt, die sie unbedingt enthüllen müßte, sie es nur aus Rücksicht gegen eine Person thut, die weniger schuldlos ist als sie.«

»Wie? – Nein, nein! Das behaupte ich keineswegs. Was veranlaßt Sie zu einer solchen Annahme?«

»Eleonores Handlungsweise selbst; bei ihrem Charakter läßt ein derartiges Benehmen keine andere Deutung zu. Entweder ist sie wahnsinnig, oder sie schützt jemand anderes auf ihre Kosten.«

»Und für wen glauben Sie wohl,« fragte Mary mit zitternden Lippen, »daß Eleonore sich aufopfert?«

»Ah,« antwortete ich, »das ist gerade der Punkt, den aufzuklären Sie mir helfen sollen. Bei Ihrer Kenntnis von Eleonores Vergangenheit –«

»Ich bitte Sie um Verzeihung,« unterbrach mich Mary, mit abweisender Handbewegung in ihren Stuhl zurücksinkend, »ich weiß nichts, oder nur sehr wenig von Eleonores persönlichen Ansichten oder Gefühlen; dieses Rätsel muß ein anderer lösen als ich.«

Jetzt änderte ich meine Taktik. »Als Ihnen Eleonore mitteilte,« sagte ich, »daß der vermißte Schlüssel in ihrem Besitz gefunden worden sei, sagte sie Ihnen da auch, woher sie ihn hatte, und warum sie ihn verbarg?«

»Nein.«

»Sie teilte Ihnen also nichts weiter als die nackte Thatsache mit, ohne jede weitere Erklärung?«

»Weiter nichts.«

»Es ist aber doch höchst seltsam, daß sie ein so gravierendes Geständnis derjenigen machte, welche ihr nur wenige Stunden vorher die Anklage, ein todeswürdiges Verbrechen begangen zu haben, entgegenschleuderte.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Sie werden es doch nicht in Abrede stellen, daß Sie zuerst nicht nur an die Schuld Ihrer Cousine glaubten, sondern sie thatsächlich des Mordes bezichtigten?«

»Erklären Sie sich deutlicher!« rief sie.

»Erinnern Sie sich dessen nicht, Fräulein Leavenworth, was oben im Zimmer gesprochen ward, als Sie am Morgen der Coroners-Untersuchung unmittelbar vor meinem und Herrn Gryces Eintritt in Ihr Zimmer mit Ihrer Cousine allein waren?«

»Sie hörten es?« flüsterte sie, und ein tödlicher Schrecken spiegelte sich in ihrem Antlitz.

»Ohne es zu wollen; ich befand mich gerade draußen vor der Thür –«

»Was vernahmen Sie?«

Ich erzählte die einzelnen Umstände und wiederholte die damals gehörten Worte.

»Und Herr Gryce?«

»Stand neben mir.«

Es schien, als ob ihre Blicke mich verschlingen wollten. »Nach Ihrem Eintritt wurde nichts mehr gesprochen?«

»Nein.«

»Und Sie haben nicht vergessen, was sie damals hörten?«

»Wie hätte ich das gekonnt, Fräulein Leavenworth?«

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schien einen Moment alles um sich her zu vergessen. »Also deshalb sind Sie heute abend zu mir gekommen?« rief sie plötzlich aus, indem sie sich mit einer Gebärde der Verzweiflung erhob und mir einen entrüsteten Blick zuschleuderte. »Mit diesem Todesurteil auf den Lippen erzwingen Sie den Zutritt zu mir, quälen mich mit Fragen –«

»Verzeihen Sie mir,« unterbrach ich sie, »sind meine Fragen nicht derart, daß Sie dieselben schon aus Rücksicht für Ihre Cousine, Ihre tägliche Gefährtin, bereitwillig beantworten sollten? Gehe ich etwa zu weit, wenn ich Sie frage, welche Gründe Sie für eine so schwere Beschuldigung hatten, als das Verbrechen mit allen seinen Nebenumständen noch frisch vor Ihnen lag, während Sie unmittelbar darauf so kräftig für Fräulein Eleonores Unschuld eintraten, obgleich die Beweise ihrer Schuld sich so erschreckend häuften?«

Sie hörte gar nicht auf mich. »O, mein grausames Geschick,« murmelte sie, »mein grausames Geschick!«

»Fräulein Leavenworth,« sagte ich, vor sie hintretend, »obgleich zwischen Ihnen und Ihrer Cousine eine augenblickliche Entfremdung besteht, so können Sie doch nicht wünschen, als deren Feindin zu gelten. Sprechen Sie also, lassen Sie mich wenigstens den Namen der Person wissen, für die sie sich aufopfern will. Ein Wink von Ihnen –«

Mit einem seltsamen Blick erhob sie sich und unterbrach mich mit der abweisenden Bemerkung: »Wenn Sie es selbst nicht wissen, ich kann es Ihnen nicht mitteilen; bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Fragen, Herr Raymond.« Und zum zweitenmale schaute sie nach der Uhr.

Ich änderte abermals meine Angriffsweise. »Fräulein Leavenworth, Sie fragten mich einst, ob jemand, der ein Unrecht begangen habe, es auch immer eingestehen müßte, und ich bejahte dies für den Fall, daß sich dadurch das Unrecht wieder gutmachen lasse. Erinnern Sie sich dessen?«

Ihre Lippen bewegten sich; aber sie sprach kein Wort.

»Ich fange an, zu glauben,« fuhr ich eindringlich fort, »daß ein offenes Geständnis das einzige Mittel ist, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, daß Ihr Mund allein Eleonore vor dem drohenden Verderben zu retten vermag. Wollen Sie mir nicht Rede stehen?«

Endlich schien ich die richtige Saite angeschlagen zu haben; denn sie zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. »O, wenn ich es könnte!« murmelte sie.

»Und warum können Sie es nicht? Sie werden sich nicht eher wieder glücklich fühlen, als bis Sie es gethan haben. Eleonore verharrt in ihrem Schweigen; aber das ist kein Grund für Sie, ihr Beispiel nachzuahmen; Sie machen dadurch ihre Stellung nur zu einer noch zweifelhafteren.«

»Ich weiß es, aber ich kann nicht anders handeln; der allgewaltigen Hand des Schicksals vermag ich nicht zu entrinnen.«

»Dem ist nicht so! Ein jeder ist im stande, eingebildete Fesseln wie die Ihrigen zu zerbrechen.«

»Nein, nein!« rief sie, »Sie verstehen mich nicht.«

»Ich verstehe so viel, daß der Pfad der Redlichkeit ein gerader ist, und daß, wer von ihm abweicht, in die Irre geht.«

Ein unbeschreiblich rührender Zug glitt über ihr Gesicht, ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, ihre Lippen öffneten sich, sie schien endlich nachgeben zu wollen, da – erklang der schrille Ton der Hausglocke.

»O!« rief sie, »sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht sehen kann, sagen Sie ihm –«

»Fräulein Leavenworth,« bat ich, ihre beiden Hände erfassend, »ich habe Ihnen eine Frage vorgelegt, welche das ganze Geheimnis des Verbrechens umschließt; antworten Sie mir, um Ihres Seelenheils willen, erzählen Sie mir, welche unglücklichen Umstände Sie veranlassen konnten –«

Doch sie achtete nicht auf meine Worte und riß ihre Hände aus den meinigen. »Die Thür!« rief sie, »sie wird sich öffnen und –«

Ich trat in die Vorhalle und sah Thomas, der gerade die vom Erdgeschoß heraufführende Treppe emporstieg. »Gehen Sie wieder hinab,« sagte ich, »ich werde Sie rufen, wenn wir Ihrer bedürfen.«

Mit einer Verbeugung verschwand er.

»Sie erwarten eine Antwort von mir?« rief Mary nachdem ich wieder eingetreten war, »jetzt in diesem Augenblick? – Ich kann nicht!«

Aber –«

»Unmöglich!« wiederholte sie mit einem Blick nach der Vorderthür.

»Fräulein Leavenworth!«

Sie schauderte.

»Ich fürchte, die Zeit wird nicht wiederkehren, wenn Sie jetzt nicht sprechen –«

»Unmöglich!« beharrte sie.

Zum zweitenmal erschallte die Glocke.

»Hören Sie?« rief sie.

Ich ging in die Halle und rief nach Thomas. »Jetzt können Sie die Thür öffnen,« sagte ich und wollte wieder zu Mary zurückkehren.

Aber sie wies mit befehlender Stimme nach oben. »Verlassen Sie mich jetzt,« flüsterte sie und gab Thomas einen Wink, daß er warten möge.

»Ich suche Sie noch einmal auf, bevor ich gehe,« sprach ich und eilte die Treppe hinauf.

Thomas öffnete die Thür.

»Ist Fräulein Leavenworth zu Hause?« hörte ich eine volle, doch etwas zitternde Stimme fragen.

»Ja, Herr,« ließ sich der Hausmeister im Tone der größten Hochachtung vernehmen.

Als ich mich über das Treppengeländer lehnte, sah ich zu meinem höchsten Erstaunen die Gestalt Claverings in der Vorhalle erscheinen und auf den Empfangssalon zuschreiten.


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