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Achtunddreißigstes Kapitel.
Ein volles Bekenntnis.

»Ich bin kein schlechter Mensch, aber einer, dessen Leidenschaften, wenn sie einmal erwacht sind, furchtbar wirken; Ehrgeiz, Liebe, Eifersucht, Rachsucht, bei manchen nur vorübergehende Regungen, sind bei mir andauernd und unbezähmbar; sie ruhen zwar in mir wie zusammengeringelte Schlangen, die kein Zeichen ihres Daseins geben, dann aber tödlich in ihrem Sprung und erbarmungslos in ihrer Wut sind.

»In dem Geschäft, in welches ich als junger Mensch eintrat, war ich ein regelmäßiger, pünktlicher und tüchtiger Arbeiter; man hielt mich für eine gute Rechenmaschine, für nichts weiter; wie konnte auch jemand, der nie dem Vergnügen nachging, niemals rauchte und niemals lachte, Herz, Seele und Gefühl haben. Ich verstand es, mit den Zahlen vortrefflich umzugehen; aber dazu brauchte man derartige Dinge nicht; ich konnte auch Tag um Tag und Monat um Monat schreiben, ohne mich eines Versehens schuldig zu machen; aber das bewies eben nur, daß ich ein lebendiger Automat war. Ich ließ die Leute bei diesem Gedanken, in der festen Ueberzeugung, daß dereinst ein Tag anbrechen würde, an welchem sie ihre Ansichten von mir ändern sollten. Ich liebte niemanden, nicht einmal mich selbst genug, um auf die Meinung anderer von mir etwas zu geben; das Leben war für mich ein leeres Blatt, eine öde Fläche, die ich durchwandern mußte, ich mochte wollen oder nicht.

»So wäre es wohl auch bis auf den heutigen Tag geblieben, hätte mich das Schicksal nicht mit Mary Leavenworth zusammengeführt. Als ich vor etwa neun Monaten mein Pult in dem Bankgeschäft verließ, um meinen Sitz in Herrn Leavenworths Zimmer aufzuschlagen, da fiel eine sengende Fackel in mein Inneres, deren Flamme nicht erlosch und auch nicht eher erlöschen wird, als bis mein düsteres Verhängnis mich ereilt hat.

»Als ich am Abend des ersten Tages meinem neuen Chef in das Wohnzimmer folgte und jenes Weib in seinem ganzen Zauber vor mir sich erheben sah, da wußte ich, wie von einem plötzlichen Blitze erleuchtet, welches meine Zukunft sein würde, wenn ich in diesem Hause bliebe. Sie gönnte mir damals kaum einen flüchtigen Blick; aber ihre Gleichgültigkeit schreckte mich nicht ab; es genügte mir, daß ich in ihrer Gegenwart verweilen und ihre Reize ungehindert bewundern durfte. Es war mir, als ob ich in den blumenumkränzten Krater eines Vulkans schaute. Furcht und Bezauberung hielten mich im Banne; ich hätte mich nicht zurückziehen können, selbst wenn ich den Willen dazu gehabt hätte.

»Und so war es jeden Tag; unaussprechlichen Schmerz wie unsägliche Wonne empfand ich bei ihrem Anblick. Dabei studierte ich fort und fort ihr Wesen, ihr Lächeln, ihre Bewegungen, die Art und Weise, wie sie das Haupt wandte oder die Augenlider hob. Ich wollte mich absichtlich so in ihre Schönheit verstricken, daß keine Macht der Welt mich von ihr loszureißen vermochte. Zwar wußte ich damals so gut wie jetzt, daß sie sich niemals zu mir herablassen würde; und wenn ich mich ihr zu Füßen gelegt hätte, damit sie über mich hinwegschreite, sie würde nicht einmal zu mir niedergeblickt haben, um zu sehen, auf wen ihr Fuß trat; ich mochte Tage, Monate, Jahre hindurch das Alphabet ihrer Wünsche lernen, sie hätte mir nicht einmal gedankt, oder auch nur die Wimpern gehoben, um mir mit einem Blick zu lohnen. Ich war ihr nichts, konnte ihr nichts sein, außer wenn, – und dieser Gedanke tauchte erst allmählich in mir auf, – ich mich in irgend welcher Weise zu ihrem Herrn emporschwingen konnte.

»Mittlerweile schrieb ich nach Herrn Leavenworths Diktat und erwarb mir seine Zufriedenheit; denn mein methodisches Arbeiten war ganz nach seinem Geschmack. Was die anderen Mitglieder der Familie betrifft, so behandelte mich Fräulein Eleonore, wie man es von einer so stolzen, aber sympathischen Natur erwarten durfte, nicht vertraulich, aber doch wie ein Mitglied des Haushaltes, welches sie jeden Tag bei Tisch traf.

»So waren sechs Monate verstrichen, und während derselben hatte ich zwei Thatsachen in Erfahrung gebracht: Erstens, daß Mary Leavenworth ihre Stellung als voraussichtliche Erbin eines großen Vermögens über alles liebte, und zweitens, daß sie im Besitz eines Geheimnisses war, welches diese Stellung gefährdete. Was es war, das konnte ich vorläufig nicht ergründen: aber als ich mich später überzeugte, daß es ein Liebesverhältnis sein mußte, da wuchsen meine Hoffnungen, so seltsam das auch klingen mag; denn ich hatte zugleich die Bemerkung gemacht, daß Herr Leavenworth, dessen Charakter ich ebenso genau studiert hatte, wie denjenigen seiner Nichte, in jenem Punkte keinen Widerspruch duldete. Bei dem Zusammenprallen der beiden starrsinnigen Menschen konnte sich vielleicht etwas ereignen, was mir einen Vorteil über Mary gab.

»Das einzige, was mir dabei Schwierigkeiten machte, war der Umstand, daß ich den Namen des Mannes nicht kannte, für welchen sie sich interessierte. Aber hier kam mir der Zufall zu Hilfe. Eines Tages, jetzt vor etwa einem Monat, war ich wie gewöhnlich damit beschäftigt, die für Herrn Leavenworth eingetroffenen Briefschaften zu öffnen. Ein Billet, – könnte ich es jemals wieder vergessen, – lautete folgendermaßen:

›Hoffmann-Haus, d. 1. März 1876.
An Horatio Leavenworth.

Hochgeehrter Herr!

Sie besitzen eine Nichte, welche Sie lieben, und der Sie vertrauen, die auch der Liebe und des Vertrauens würdig zu sein scheint, welches Sie oder andere ihr schenken, so schön, so entzückend ist sie in Erscheinung und Unterhaltung. Aber jede Rose hat ihre Dornen, und auch diese Rose ist keine Ausnahme; obschon so liebenswürdig, reizend und zärtlich, ist sie doch imstande, jemanden zu quälen und zu mißachten, der ihr vertraute, und dessen unzweifelhafte Rechte sie mit Füßen tritt. Niemand als ich hat ein größeres Anrecht auf ihre Treue und Ergebenheit, und wenn Sie mir nicht glauben wollen, so befragen Sie ihr schönes grausames Gesicht.

Hochachtungsvoll
Henry Ritchie Clavering.‹

»Wäre eine Bombe zu meinen Füßen niedergefallen und zerplatzt, oder der böse Geist leibhaftig auf meinen Ruf erschienen, es hätte mich unmöglich mehr niederschmettern können als dieser Brief. Nicht nur war mir der Name, der unter jenen vernichtenden Zeilen stand, gänzlich unbekannt, sondern der Inhalt deutete darauf hin, daß der Absender ihr Gebieter war, einen Platz besaß, den ich für mich selbst zu erringen strebte. Einige Minuten war ich die Beute der heftigsten Wut und bittersten Verzweiflung; dann wurde ich ruhiger, weil ich begriff, daß ich durch den Besitz dieses Briefes thatsächlich Herr ihres Schicksals war.

»Ein anderer hätte sie vielleicht aufgesucht, ihr das verhängnisvolle Billet gezeigt und gedroht, es in ihres Onkels Hände zu liefern, um dadurch einen Vorteil über sie zu gewinnen; aber meine Pläne gingen tiefer; ich wußte, daß ich nur, wenn sie sich in der allergrößten Not befand, hoffen durfte, sie zu erwerben, sie mußte sich dicht am Rande eines ihr entgegengähnenden Abgrundes fühlen, um nach dem ersten zu greifen, der ihr hilfreich die Hand bot.

»Ich entschloß mich also, den Brief meinem Prinzipal einzuhändigen. Aber ich hatte ihn ja geöffnet; wie konnte ich ihn dem Adressaten überreichen, ohne dessen Verdacht zu erregen? Hierzu sah ich nur ein Mittel, es nämlich so einzurichten, daß er glauben mußte, ich öffne das Schreiben zum erstenmale. Ich wartete also, bis er in sein Zimmer trat, und während ich mit dem Brief auf ihn zuging, schnitt ich das Couvert auf, zog das Billet hervor, warf einen flüchtigen Blick darauf und legte es vor ihn auf den Tisch. ›Dieser Brief scheint privater Natur zu sein,‹ sagte ich, ›obgleich es auf dem Couvert nicht vermerkt war.‹ Er nahm ihn in die Hand und las. Bei den ersten Worten zuckte er zusammen, sah mich scharf an, und da er nach meinen Mienen glaubte, daß ich zu wenig gelesen hatte, um von dem Inhalt Kenntnis genommen zu haben, so kehrte er sich in seinem Stuhl um und verharrte schweigend, bis er mit dem Billet zu Ende war. Ich wartete noch einen Moment, dann begab ich mich an mein Pult. Eine, zwei, drei Minuten verflossen, ohne daß eine Silbe zwischen uns gewechselt worden wäre, offenbar überlas er den Brief zum zweitenmale, dann stand er schnell auf und verließ das Gemach. Als er an mir vorüberschritt, hatte ich Gelegenheit, sein Gesicht einen Augenblick im Spiegel zu sehen, und der Ausdruck desselben war derartig, daß er die in meiner Brust keimende Hoffnung keineswegs verminderte.

»Dicht hinter ihm die Treppe hinaufsteigend, sah ich ihn in Marys Zimmer gehen, und als sich einige Stunden später die Familie um den Mittagstisch versammelt hatte, machte ich die Bemerkung, daß sich zwischen dem Onkel und seiner Lieblingsnichte eine unübersteigliche Schranke aufgetürmt hatte.

»Zwei Tage verstrichen, für mich Tage der größten und unerträglichsten Spannung. Hatte Herr Leavenworth jenen Brief beantwortet? Sollte alles so enden, wie es angefangen, ohne daß der geheimnisvolle Clavering auf dem Schauplatz erschien? Ich wußte mir diese Frage nicht zu beantworten.

»Mittlerweile nahm meine einförmige Arbeit ihren ununterbrochenen Fortgang; ich schrieb und schrieb, bis es mir schien, als ob mein Lebensblut mit jedem Tropfen Tinte aus der Feder flösse. Unablässig beobachtend und lauschend, wagte ich es kaum, bei einem ungewöhnlichen Geräusch die Augen zu heben oder den Kopf zu wenden aus Furcht, mich zu verraten.

»In der dritten Nacht hatte ich einen Traum, den ich bereits Herrn Raymond mitgeteilt habe und hier nicht wiederholen will. Nur etwas bleibt mir noch zu berichtigen übrig: Ich hatte ihm erzählt, das Gesicht des Mannes, dessen Hand ich gegen meinen Chef sich wappnen sah, sei das Claverings gewesen; ich log, als ich das behauptete, das Antlitz, welches ich im Traum schaute, war mein eigenes, und darum erfüllte mich die Vision mit solchem Schrecken. In der sich duckenden Gestalt, die sich leise die Treppe hinabstahl, sah ich wie in einem Spiegel mein eigenes Abbild.

»Das Traumgesicht machte einen furchtbaren Eindruck auf mich; war es eine Vorahnung, ein Fingerzeig des Mittels, durch welches ich mir den Gegenstand meiner heißen Sehnsucht gewinnen konnte? War der Tod ihres Onkels die Brücke, welche die Kluft zwischen uns überspannen sollte? Ich gewöhnte mich allmählich an den Gedanken, daß es so sein könne; ich erwog die Möglichkeiten, welche diesen Pfad zu dem einzigen machten, der in mein Paradies führte; ich malte es mir sogar in der Phantasie aus, wie ihr liebliches Antlitz sich dankbar zu mir neigte, weil ich sie aus höchster Bedrängnis gerettet. An dem trüben, regnerischen Tage, welcher meinem Traum folgte, hatte ich, während ich bei meiner Arbeit saß, wiederholte Visionen jener schleichenden, meuchlerischen Gestalt, die sich die Treppe hinabstahl und mit erhobenem Pistol meinem ahnungslosen Prinzipal nahte. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich öfter die Augen auf die Thür richtete, durch welche die Erscheinung gekommen war, und darüber nachdachte, wie lange es wohl dauern würde, bis meine eigene Gestalt im Rahmen der Thür sich zeigte.

»Daß der verhängnisvolle Moment so nahe war, glaubte ich freilich nicht; selbst als ich meinen Chef an jenem Abend verließ. Nachdem ich mit ihm das in der Coroners-Untersuchung erwähnte Glas Sherry getrunken, hatte ich keine Idee, daß der Augenblick der That mit Riesenschritten heranrückte. Als ich jedoch keine drei Minuten später ein Damenkleid durch den Korridor rauschen hörte und, aufhorchend, vernahm, wie Mary Leavenworth auf ihrem Wege nach der Bibliothek an meiner Thür vorbeischritt, da begriff ich sofort, daß die Stunde gekommen sei, daß in jenem Gemach etwas geschehen würde, was meine That notwendig machte.

»Indem ich die Mittel überdachte, wie ich das wohl in Erfahrung bringen könnte, erinnerte ich mich, daß der durch das Haus gehende Ventilator zuerst auf den Gang führte, der Herrn Leavenworths Schlafzimmer mit der Bibliothek verband, und dann in die Kammer des großen unbewohnten Raumes mündete, der an meine Stube grenzte. Ich schloß rasch die Verbindungsthür auf und faßte Posten in der Kammer; sofort erreichte der Ton von Stimmen mein Ohr; unten war alles offen, und ich hörte, was zwischen Mary und ihrem Onkel vorging, gerade so gut, als ob ich im Bibliothekzimmer selbst gewesen wäre.

»Und was hörte ich? Genug, um meine Vermutungen zu rechtfertigen; es war ein Moment der Lebensfrage für sie. Herr Leavenworth war zufolge einer Drohung, die er offenbar einige Zeit vorher ausgestoßen, im Begriff, Schritte zur Abänderung seines Testaments zu thun, und sie bat ihn flehentlichst, ihr zu verzeihen und sie wieder in seine Gunst aufzunehmen.

»Worin ihr Vergehen bestand, das erfuhr ich freilich nicht genau; ich hörte sie nur erklären, daß ihre Handlung mehr die Folge einer Laune als eine That der Liebe gewesen sei, daß sie dieselbe bereue und nichts mehr wünsche, als frei von allen Verpflichtungen zu sein, um ihrem Onkel wieder das zu werden, was sie ihm war, bevor sie jenen Mann kennen lernte. Ich Narr glaubte, daß es sich um eine bloße Verlobung handelte, auf welche sie anspielte, und schöpfte aus ihren Worten die wahnsinnigste Hoffnung.

»Als ich einen Moment später ihren Onkel im herbsten Tone antworten hörte, daß sie alle Ansprüche auf seine Neigung und Gunst unwiderruflich verwirkt habe, da bedurfte es nicht erst noch ihres Verzweiflungsschreies, nicht jenes leisen Stöhnens, daß jemand ihr beistehen möge in ihrer Not, um meinen Entschluß zur unverzüglichen Ausführung zu bringen. Ich schlich in mein eigenes Zimmer zurück, wartete, bis sie wieder die Treppe hinaufgestiegen war, und stahl mich alsdann leise fort; ruhig wie immer in meinem Leben ging ich hinunter, gerade wie ich mich im Traum gesehen hatte, klopfte an die Thür des Bibliothekzimmers und trat ein.

»Herr Leavenworth saß an seinem gewöhnlichen Platz und schrieb.

»›Entschuldigen Sie,‹ sagte ich, als er verwundert aufblickte, ›ich habe mein Notizbuch verloren und glaube, daß ich es im Gange fallen ließ, als ich den Wein holte.‹

»Er nickte, und ich eilte hinter ihm vorbei rasch in das anstoßende Zimmer, setzte mich in den Besitz des Pistols, kehrte zurück und, fast ohne zu wissen, was ich that, nahm ich hinter ihm Stellung, zielte und feuerte. Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er vorn über, sank mit dem Kopf in seine Hände, und Mary Leavenworth war die Besitzerin der Millionen, welche sie begehrte.

»Mein erster Gedanke war, mir den Brief zu verschaffen, an welchem er noch soeben geschrieben hatte; ich trat an den Tisch, riß das Schreiben aus seinen Händen, in welchem er, wie ich erwartet hatte, seinen Rechtsanwalt zu sich beschied, und schob es zugleich mit Claverings Brief, der, mit Blut bespritzt, auf dem Tisch lag, in meine Tasche.

»Erst als dies geschehen war, dachte ich an mich selbst und an das Echo, welches der Schuß geweckt haben mußte; ich ließ das Pistol neben dem Ermordeten zu Boden fallen und war darauf vorbereitet, falls jemand eintreten sollte, ihm zuzurufen, daß Herr Leavenworth sich das Leben genommen habe. Aber ich brauchte eine solche Thorheit nicht zu begehen; kein Mensch hatte den Knall gehört. Niemand kam, und so konnte ich ungestört darüber nachdenken, auf welche Weise ich am besten einer Entdeckung aus dem Wege ging.

»Eine nähere Besichtigung der Todeswunde im Kopf überzeugte mich von der Unmöglichkeit, die That als einen Selbstmord, oder als die That eines Einbrechers hinzustellen; für jeden, der in dergleichen Dingen bewandert ist, war es offenbar ein Mord, und zwar ein wohlüberlegter; meine einzige Hoffnung bestand also darin, ihn so geheimnisvoll als möglich zu machen, indem ich jede verdächtige Spur entfernte, die auf den Thäter oder dessen Motiv schließen ließ. Ich nahm das Pistol wieder auf und trug es in das andere Zimmer in der Absicht, es zu reinigen; da ich aber daselbst nichts vorfand, was diesem Zwecke hätte dienen können, so holte ich mir das Taschentuch, das ich vorher zu Herrn Leavenworths Füßen hatte liegen sehen. Es gehörte Fräulein Eleonore; aber ich merkte das nicht eher, als bis ich den Lauf gereinigt hatte; dann jedoch erschreckte mich der Anblick des Zeichens in der einen Ecke des Tuches, so daß ich vergaß, den Cylinder auszuwischen, und nur daran dachte, wie ich jenes verräterische Beweisstück beiseite schaffen konnte. Ich entdeckte nichts, wo ich es hätte vernichten können, und schob es daher tief hinter das Kissen eines der Stühle in der Absicht, es am nächsten Tage unbemerkt wieder hervorzuziehen und zu verbrennen.

»Nachdem ich dies gethan, lud ich das Pistol wieder, schloß es ein und schickte mich an, das Zimmer zu verlassen. Aber hier traf mich das Entsetzen, welches gewöhnlich einem großen Verbrechen folgt, wie ein Donnerschlag und machte mich zum erstenmal in meiner Handlungsweise unsicher; ich verschloß beim Herausgehen die Thür, was ich niemals gethan haben würde, wenn ich im Vollbesitz meiner Geisteskräfte gewesen wäre. Erst als ich oben auf der Treppe angekommen war, wurde mir klar, welchen Fehler ich begangen; aber jetzt war es zu spät, ihn wieder gut zu machen; denn vor mir stand Hannah, eine brennende Kerze in der Hand, und jeder Zug ihres Gesichtes drückte die höchste Ueberraschung aus, als sie mich betrachtete. ›Herr des Himmels!‹ rief sie, aber merkwürdigerweise mit leiser Stimme, ›wo sind Sie gewesen? Sie sehen ja aus, als ob Sie ein Gespenst erblickt hätten?‹ und ihre Augen hafteten mißtrauisch auf dem Schlüssel, den ich in der Hand hatte.

»Es war mir, als ob jemand mir die Kehle zuschnürte; rasch steckte ich den Schlüssel in die Tasche und trat auf sie zu. ›Ich will Ihnen erzählen, was ich gesehen habe,‹ flüsterte ich, ›wenn Sie mit mir die Treppe hinabkommen wollen; wir würden die Damen stören, wenn wir hier zusammen plauderten.‹ Mit diesen Worten ergriff ich ihre Hand und zog das Mädchen an mich heran; was für eine Absicht mir dabei vorschwebte, das weiß ich kaum, wahrscheinlich that ich es instinktiv; aber als ich den Ausdruck, den ihr Gesicht annahm, und die Lebhaftigkeit bemerkte, mit welcher sie mir folgte, faßte ich Mut und erinnerte mich, daß ich einen seltsamen, aber bestimmenden Einfluß auf Hannah besaß, wie ich früher mehrmals wahrgenommen hatte, und diesen Einfluß wollte ich jetzt für meine Zwecke ausnutzen

»Ich ging mit ihr die Treppe hinab, zog sie in eine Ecke des großen Empfangssalons und erzählte ihr da so schonend als möglich, was Herrn Leavenworth zugestoßen sei. Sie erschrak natürlich furchtbar; aber glücklicherweise schrie sie nicht, dazu war sie zu sehr geängstigt, und, sehr erleichtert darüber, setzte ich hinzu, daß ich nicht wisse, wer die That begangen habe, daß man mich aber als den Mörder bezeichnen würde, wenn man erführe, daß sie, Hannah, mich mit dem Bibliothekzimmerschlüssel auf der Treppe gesehen.

»›Ich will es aber nicht sagen,‹ flüsterte sie, zitternd vor Furcht und Aufregung, ›ich will es für mich behalten und niemand ein Sterbenswörtchen davon verraten.‹

»Ich überzeugte sie jedoch bald davon, daß sie es unmöglich für sich behalten könnte, sobald die Polizei beginnen würde, sie zu verhören, und mit Anwendung einiger Schmeicheleien gelang es mir schließlich, sie zu überreden, das Haus zu verlassen, bis der Sturm vorüber wäre. Dann aber verursachte es mir nicht geringe Mühe, bis ich ihr begreiflich gemacht, daß sie auf der Stelle abreisen müsse, ohne vorher noch ihre Sachen zu holen; erst als ich ihr das Versprechen gab, sie später zu heiraten, wenn sie mir jetzt zu Willen wäre, fügte sie sich meinem Drängen. ›Frau Belden wird mich gern aufnehmen,‹ sagte sie, ›wenn ich nur nach R. kommen könnte. Ich zweifle auch nicht daran, daß sie mich für längere Zeit beherbergen wird, wenn ich ihr sage, es geschieht auf Fräulein Marys Wunsch; aber heute nacht kann ich nicht mehr fort.‹

»Ich bemühte mich, ihr zu zeigen, daß auch dies sich sehr wohl machen ließe; der Mitternachtszug ging nicht vor einer halben Stunde ab, und die Entfernung bis zur Bahn konnte sie mit Bequemlichkeit in fünfzehn Minuten zurücklegen. Auf ihren Einwurf, daß sie kein Geld habe, versorgte ich sie mit dem nötigen, und als sie die Befürchtung aussprach, sie möchte den Weg nicht finden, beschrieb ich ihr denselben auf das allergenaueste, so daß sie gar nicht irre gehen konnte. Noch immer zauderte sie; doch endlich gab sie nach, und, nachdem wir uns über die Art und Weise verständigt hatten, wie wir mit einander korrespondieren wollten, gingen wir die Treppe hinab. Dort fanden wir einen Hut nebst Shawl, welche der Köchin gehörten: ich hüllte sie darin ein, und im nächsten Augenblicke waren wir auf dem Hofe. ›Denke daran, daß du nichts sagst von dem, was vorgefallen ist, was sich auch ereignen möge!‹ flüsterte ich ihr zu, als sie sich von mir verabschiedete.

»›Denke auch du daran, daß du dereinst kommen und mich heiraten wirst!‹ murmelte sie zurück und umschlang mich mit ihren Armen; diese Bewegung war eine plötzliche, und wahrscheinlich ließ sie dabei den Kerzenstumpf fallen, den sie bisher unwillkürlich in der Hand behalten hatte. Ich versprach es ihr, und sie glitt aus dem Gitterthore.

»Von der furchtbaren Aufregung, welche mir die Begegnung mit dem Mädchen und die ganze darauf folgende Szene verursacht hatte, kann ich kein besseres Bild entwerfen, als indem ich berichte, daß ich nicht nur den zweiten Fehler machte, das Haus nach meinem Wiedereintritt zu schließen, sondern es auch vergaß, den in meiner Tasche befindlichen Schlüssel auf die Straße zu werfen, oder mich desselben auf andere Art zu entäußern, als ich die Treppe zu meinem Zimmer hinaufstieg. Die Gefahr, in der ich soeben geschwebt hatte, war so groß, daß ich an nichts weiter zu denken vermochte; Hannahs bleiches Gesicht und ihr angstvoller Blick, als sie von meiner Seite hinaus auf die Straße flüchtete, standen mir unablässig vor Augen, sogar die Gestalt des Toten im Bibliothekzimmer verblaßte davor. Wie ein Alp lastete auf mir der Gedanke, daß sie sich verirren und zurückkommen oder zurückgebracht werden könne, daß ich sie am Morgen, bleich und verstört, unten auf der Freitreppe finden würde, sobald ich aus dem Hause träte. Ich stellte mir vor, es müsse so sein; sie könne nimmer allein ihren Weg nach dem kleinen Landhause in einem entfernten Städtchen finden, und daß ich mit diesem verwünschten Mädchen eine gefährliche Spur hinausgesandt hätte, die mich schon am nächsten Tage mit Entdeckung bedrohen würde. Aber auch diese Besorgnisse schwanden vor der Gefahr, die mir bevorstand, so lange ich mich im Besitz des Schlüssels und der Papiere befand; wie konnte ich sie los werden? Ich wagte nicht, mein Zimmer noch einmal zu verlassen, auch nicht das Fenster zu öffnen, aus Furcht, es möchte mich jemand sehen. Mein krankhaftes Entsetzen hatte einen solchen Höhepunkt erreicht, daß ich glaubte, Herr Leavenworth würde meine Schritte hören, dessen Ohren ich doch für immer geschlossen hatte.

»Indessen die Notwendigkeit, etwas zu thun, um jene verdächtigen Gegenstände zu vernichten, überwand schließlich meine thörichte Angst; ich zog den gefährlichsten der beiden Briefe, denjenigen, den Herr Leavenworth selbst geschrieben hatte, aus der Tasche, zerkaute ihn zu einem Brei und warf ihn in eine Ecke; aber auf dem andern klebte Blut, und nichts, selbst nicht die Rücksicht auf meine eigene Sicherheit konnte mich dazu veranlassen, ihn an meine Lippen zu bringen; ich war gezwungen, ihn vorläufig zerknittert in der Hand zu behalten, und so lag ich denn, das geängstigte Gesicht Hannahs stets vor Augen, halb angekleidet auf meinem Bett, bis langsam und träge der Morgen herankroch. Ich habe gehört, daß ein Jahr im Himmel wie ein Tag erscheine, und glaube es gern, weiß ich doch, daß eine Stunde in der Hölle eine Ewigkeit dünkt.

»Doch mit Tagesanbruch kam auch die Hoffnung. War es der auf der Wand spielende Sonnenschein, der mich an Mary erinnerte und alles, was ich für sie bereit war, zu thun, oder die Rückkehr meines angeborenen Stoizismus angesichts der dringenden Notwendigkeit, das vermag ich nicht zu sagen; ich weiß nur, daß ich Ruhe und Selbstbeherrschung wiedergewann. Auch die Frage, was ich mit dem Brief und dem Schlüssel anfangen sollte, löste sich jetzt; diese Gegenstände zu verbergen, getraute ich mich nicht, lieber hätte ich sie offen liegen lassen, darauf rechnend, daß man sie so leichter übersehen würde. Ich zerschnitt den Brief in Fidibusse, trug sie in den unbewohnten Raum neben meinem Zimmer und steckte sie dort in eine Vase, dann nahm ich den Schlüssel und ging die Treppe hinab mit der Absicht, ihn im Vorbeigehen in das Schloß des Bibliothekzimmers zu schieben; aber Fräulein Eleonore, die dicht hinter mir herkam, machte mir dies unmöglich. Ich hing daher den Schlüssel, ohne daß sie es merkte, an einen der Gaskronleuchter im zweiten Korridor und begab mich ruhig in das Frühstückszimmer, dessen Schwelle ich mit dem Gefühl betrat, als wäre nichts vorgefallen, was meine Gemütsstimmung hätte erschüttern können.

»Mary befand sich schon dort, sie sah äußerst blaß und mutlos aus, und als ich ihrem Auge begegnete, das wunderbarerweise wirklich einmal auf mich gerichtet war, konnte ich fast lächeln bei dem Gedanken daran, aus welcher Not ich sie befreit hatte, und in der Hoffnung auf den Lohn, den ich dereinst dafür empfangen sollte.

»Wie die Schreckenskunde zuerst laut wurde und welches Benehmen ich dabei und späterhin beobachtete, brauche ich nicht im einzelnen zu berichten; ich geberdete mich gerade so, als hätte ich bei dem Morde die Hand gar nicht im Spiele gehabt; denn wie die Sachen jetzt standen, konnte auf mich auch kein Schatten des Verdachtes fallen; ich, der arbeitsame, niemals sich beklagende Sekretär, dessen Leidenschaft für eine der Nichten seines Prinzipals die Dame selbst nicht einmal ahnte, war nicht die Person, welche man eines Verbrechens verdächtigte, das ihn einer angenehmen und einträglichen Stellung beraubt hätte. So erfüllte ich alle Pflichten, die mir mein Beruf gebot, setzte die Polizei von dem Morde in Kenntnis und ging nach Herrn Veeleys Bureau, gerade als ob die Stunden, die zwischen der Zeit, in welcher ich mich an jenem verhängnisvollen Abende zum erstenmal von Herrn Leavenworth verabschiedet, und meinem Erscheinen am Morgen beim Frühstück verstrichen waren, gänzlich aus meinem Gedächtnis getilgt wären.

»Nach diesem Grundsatz regelte ich auch mein Verhalten während der Coroners-Untersuchung; ich entschloß mich, abgesehen von der halben Stunde der That und der sie begleitenden Umstände alle an mich gerichteten Fragen der Wahrheit gemäß zu beantworten, da Leute in meiner Lage gewöhnlich den großen Fehler begehen, zuviel zu lügen, und sich dadurch bei unbedeutenden Dingen in Widersprüche verwickeln.

»Doch leider hatte ich, nur an meine eigene Sicherheit denkend, eines vergessen, nämlich die gefährliche Lage, in welche ich Mary Leavenworth als die einzige, die aus dem Verbrechen Vorteil zog, gebracht hatte. Erst als ein Geschworener aus der in Herrn Leavenworths Glas am Morgen vorgefundenen Weinmenge den Schluß zog, daß der Ermordete, kurz nachdem ich ihn verlassen, zu Tode gekommen sein mußte, sah ich ein, wie ich dem Verdachte gegen sie Thür und Thor durch die Aussage geöffnet hatte, daß ich einige Minuten nach dem Hinaufgehen ein Geräusch auf der Treppe gehört habe. Daß alle Anwesenden dabei Eleonore im Sinne hatten, beruhigte mich nicht; denn sie stand mit dem Verbrechen in gar keinem Zusammenhange, so daß ich nicht glaubte, der Verdacht könne auch nur einen Augenblick auf ihr haften bleiben. Aber Mary – wenn die Aufmerksamkeit sich erst einmal auf sie lenkte, wie mußte sich da die nächste Stunde gestalten?

»So begann ich denn in dem vergeblichen Versuch, meinen Fehler wieder gut zu machen, zu lügen; gezwungen zuzugestehen, daß in der letzten Zeit der Schatten eines Zerwürfnisses zwischen Herrn Leavenworth und einer seiner Nichten sich gezeigt hatte, nannte ich Eleonore als die ihrem Oheim entfremdete, da ihr dies am wenigsten schadete; ferner leugnete ich, daß Herr Leavenworth einen Brief empfangen habe, der zur Aufklärung des Verbrechens dienen könne.

»Die Folgen davon waren ernstlicher, als ich erwartet hatte; es war ein Verdacht rege geworden, welchen jeder neu hinzukommende Beweis durch eine Art von Verhängnis zu verstärken schien; es stellte sich nicht nur heraus, daß Herrn Leavenworths eigenes Pistol bei dem Morde gebraucht worden war und noch dazu durch eine zu jener Zeit im Hause sich befindende Person, sondern ich selbst mußte einräumen, daß Eleonore kurze Zeit vorher das Pistol zu laden, zu zielen und abzufeuern gelernt hatte, ein Zusammentreffen, das in der Hölle selbst gebraut sein mußte.

»Als ich dies alles mit ansah, steigerte sich meine Furcht, was die Damen beim Verhör aussagen würden; wenn sie nun in ihrer Unschuld zugestanden, daß Mary, als ich die zu meiner Stube führende Treppe emporstieg, in das Zimmer ihres Onkels gegangen war, um ihn zu überreden, er möge seine Absicht, sie zu enterben, nicht verwirklichen, – was mußte das für Folgen haben? Ich schwebte in furchtbarer Angst.

»Aber Ereignisse, von denen ich damals keine Kenntnis besaß, waren inzwischen eingetreten und beeinflußten die Damen. Eleonore beargwöhnte, nicht ohne scheinbaren Grund, nicht nur ihre Cousine, sondern hatte es dieser auch mitgeteilt, und Mary, von Entsetzen überwältigt, als sie entdeckte, daß Indizienbeweise gegen sie vorlagen, entschied sich, alles, was man gegen sie aussagen würde, zu leugnen, indem sie auf Eleonores Edelmut vertraute, daß diese ihr nicht widersprechen würde. Auch täuschte sie sich darin nicht; obgleich ihre Cousine durch diese Maßregel gezwungen wurde, das gegen sie bereits herrschende Vorurteil zu steigern, so widersprach sie Marys Aussagen nicht nur nicht, sondern weigerte sich sogar, wenn eine Antwort von ihr verlangt wurde, die ihre Cousine in eine schiefe Lage gebracht haben würde, dieselbe zu geben; denn eine Lüge vorzubringen vermochte sie nicht, auch wenn sie eine ihr teuere Person dadurch gerettet hätte.

»Diese großmütige Handlungsweise blieb nicht ohne Eindruck auf mich; sie erhöhte meine Bewunderung und zeigte mir, daß hier ein Weib war, die meine Hilfe verdiente, wenn ich ihr solche ohne Gefahr für meine eigene Sicherheit leisten konnte. Aus dem Gange der Coroners-Untersuchung ergab es sich, daß uns alle wirkliche Gefahr bedrohte, so lange der Schlüssel und der Brief sich im Hause befanden. Noch vor Beibringung des mit Pulverschleim befleckten Taschentuches hatte ich mir vorgenommen, jene beiden Gegenstände zu vernichten; als dieses aber der Jury gezeigt ward, erfaßte mich ein solcher Schreck, daß ich sofort aufstand, unter irgend einem Vorwand nach der oberen Etage hinaufstieg, den Schlüssel vom Kronleuchter, die Fidibusse aus der Vase nahm und damit nach Mary Leavenworths Boudoir eilte, in der Hoffnung, die gefährlichen Beweisstücke dort in das Kaminfeuer werfen zu können.

»Doch zu meiner großen Enttäuschung fand ich nur einige wenige verglimmende Kohlen auf dem Rost, und nun schwankte ich, was ich thun solle, als ich plötzlich Schritte nahen hörte. An die Folgen denkend, welche eintreten mußten, wenn man mich zu einer solchen Zeit in diesem Zimmer antraf, schleuderte ich die Fidibusse in die Kohlen und eilte nach der Thür; aber bei der Raschheit, mit der ich dies that, entfiel der Schlüssel meiner Hand und glitt unter einen Stuhl. Erschrocken über dies Mißgeschick blieb ich stehen; doch bei dem Schall der sich immer mehr nähernden Schritte verlor ich alle Herrschaft über mich selbst und floh aus dem Boudoir.

»Ich hatte auch wirklich keine Zeit zu verlieren; denn kaum war ich an meiner eigenen Thür angelangt, als Eleonore, gefolgt von zwei Mägden, am Kopf der Treppe erschien und auf das Zimmer zuschritt, welches ich soeben verlassen hatte. Dieser Anblick beruhigte mich; denn sie mußte den Schlüssel sehen und würde schon Mittel finden, ihn beiseite zu schaffen. Ich habe auch immer geglaubt, daß dies geschehen sei; denn mir ist nie wieder etwas von Schlüssel oder Brief zu Ohren gekommen.

»Dieser Umstand mag es erklären, warum die gefahrvolle Stellung, in welcher Eleonore sich befand, keine größere Besorgnis in mir erregte. Ich war der Meinung, der Verdacht, welchen die Polizei gegen sie hegte, beruhe auf weiter nichts als auf der Eigentümlichkeit ihres Benehmens bei der Coroners-Untersuchung und auf der Entdeckung jenes pulverbefleckten Taschentuches. Ich wußte nicht, daß sie einen offenbaren Beweis für die Verbindung Eleonores mit dem Verbrechen hatte; und selbst wenn ich es gewußt hätte, so zweifle ich, ob ich einen anderen Weg eingeschlagen haben würde. Ich dachte nur an Marys Gefahr, und eine solche war meiner Ueberzeugung nach nicht vorhanden; im Gegenteil, niemand in der Welt schien auch nur einen Schatten des Argwohns auf sie zu werfen. Wenn Gryce, den ich bald fürchten lernte, nur ein einziges Zeichen von Verdacht geäußert, oder Herr Raymond, den ich als meinen hartnäckigsten Feind ansah, obwohl er selbst es nicht wußte, das geringste Mißtrauen gegen sie verraten hätte, so wäre ich auf meiner Hut gewesen; aber sie waren weit davon entfernt, und, durch ihr Benehmen in falsche Sicherheit eingelullt, ließ ich die Tage ruhig dahingehen, ohne für die Geliebte zu fürchten.

»Für mich selbst aber stand die Sache anders; der Gedanke an Hannah schloß jedes Gefühl persönlicher Sicherheit aus. Da ich das unermüdliche Bestreben der Polizei kannte, sie aufzufinden, schwebte ich in beständiger Angst. Dazu kam die schreckliche, sich mir aufdrängende Gewißheit, daß ich, anstatt bei Mary Leavenworth an Boden zu gewinnen, viel mehr verloren hatte; sie legte nicht nur den unüberwindlichsten Abscheu gegen die That an den Tag, welche sie zur Herrin von ihres Onkels Reichtum gemacht hatte, sondern zeigte auch, was ich Herrn Raymonds Einfluß zuschrieb, daß sie bis zu einem gewissen Grade diejenigen Eigenschaften ihres Geistes und Herzens abstreifte, auf Grund deren ich hoffte, sie dereinst zu erwerben, eine Entdeckung, die mich fast zum Wahnsinn trieb.

»Endlich kam eine Zeit, in der ich meine Angst nicht mehr zu unterdrücken vermochte. Als ich eines Abends mit Herrn Raymond die Treppe hinabstieg, sah ich im Empfangssalon einen fremden Herrn stehen, der Mary mit Blicken anschaute, die mein Blut in Wallung gebracht haben würden, selbst wenn ich ihn nicht die Worte hätte flüstern hören: ›Aber du bist mein Weib und weißt es; magst du nun sagen oder thun, was du willst.‹

»Das war der Wetterschlag, der mein Leben vernichtete; nach dem, was ich gethan hatte, um sie mir zu erringen, zu hören, daß ein anderer sie schon die seinige nannte, war mehr, als ein Sterblicher zu ertragen vermag. Der Haß, der jetzt in mir aufloderte, kannte keine Grenzen; ich fragte Herrn Raymond nach dem Namen des Mannes, und als ich erfuhr, daß es, wie ich erwartet hatte, Clavering war, schlug ich Klugheit, Vorsicht, Vernunft in den Wind und bezeichnete ihn in einem Moment wahnwitziger Wut als den Mörder von Herrn Leavenworth.

»Im nächsten Augenblick hätte ich die halbe Welt darum gegeben, wenn es mir möglich gewesen wäre, das Wort zurückzunehmen, hatte ich doch weiter nichts erreicht, als die Aufmerksamkeit auf mich selbst gelenkt, indem ich einen Mann anklagte, welchem nichts bewiesen werden konnte. Aber ein Widerruf war unmöglich, so that ich denn nach einer Nacht des Nachdenkens das Beste, was sich für jetzt thun ließ, und gab einen abergläubischen Grund für meine Handlungsweise an. Dadurch eroberte ich mir meine vorige Stellung wieder zurück, ohne aus Herrn Raymonds Geiste jenen unbestimmten, für meine Sicherheit notwendigen Zweifel hinsichtlich der Mitschuld meines Nebenbuhlers zu entfernen, denn ich hatte bemerkt, daß Herr Raymond aus irgend welchem Grunde Verdacht gegen Clavering hegte.

»Sobald ich dies in Erfahrung gebracht, nahm die Rachsucht vollständig Besitz von mir, und ich legte mir die Frage vor, ob es nicht möglich sei, die ganze Last des Verbrechens auf jenen Mann zu wälzen. Auch dann noch würde ich wohl kaum den Versuch dazu gemacht haben, hätte ich nicht das geflüsterte Zwiegespräch zweier Leute vom Dienstpersonal belauscht, wodurch ich erfuhr, daß man Clavering am Abend des Mordes das Haus hatte betreten, aber nicht verlassen sehen. Diese Thatsache bestimmte meinen Entschluß; mit einem solchen Beweis in der Hand, war ich imstande, meinen Feind zu verderben.

»Hannah allein stand noch in meinem Wege; solange sie am Leben blieb, drohte mir unvermeidliche Vernichtung. Ich beschloß, mit einem Schlage sie aus der Welt zu schaffen und meinen Haß gegen Clavering zu sättigen. Aber wie? Durch welche Mittel konnte ich dies erreichen, ohne meinen Posten zu verlassen und neuen Argwohn zu erregen? Anfangs erschien es mir eine unlösbare Aufgabe; aber nachdem ich mir die Sache einen Tag gründlich überlegt hatte, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß das einzige Mittel zur Erreichung meiner Pläne war, Hannah zum Selbstmord zu veranlassen.

»Kaum war dieser Gedanke in mir zur Reife gekommen, so beeilte ich mich auch schon, ihn zur Ausführung zu bringen. Der ungeheuren Gefahr, welche ich lief, mir sehr wohl bewußt, traf ich jede erdenkliche Vorsichtsmaßregel. Ich schloß mich in mein Zimmer ein und schrieb ihr in Druckschrift, da sie mir ausdrücklich gesagt hatte, sie könne Geschriebenes nicht lesen, einen Brief, in welchem ich, auf ihre Unwissenheit, ihre närrische Verliebtheit und ihren irischen Aberglauben bauend, ihr erzählte, daß jede Nacht mich süße Träume von ihr umgaukelten, und daß ich es gern sähe, wenn auch sie selbst im Schlaf meiner gedächte. Ich schlösse ihr hiermit ein kleines Zaubermittel ein, das sie nach meiner Anweisung gebrauchen müsse, um die lieblichsten Erscheinungen zu haben. Sie solle meinen Brief verbrennen, das Päckchen aber, welches er enthielt, öffnen, das Pulver verschlucken und sich zu Bett begeben. Das Pulver war ein tödliches Gift, und das Papier des Päckchens jenes gefälschte Geständnis, welches Henry Clavering verdächtigte.

Jetzt folgte für mich eine Zeit der höchsten Angst, obgleich ich meinen Namen nicht unter jenen Brief gesetzt hatte. Die geringste Abweichung von dem, was ich Hannah vorgeschrieben, konnte für mich verhängnisvoll werden. Das Ergebnis meines so vorsichtig angelegten Planes konnte ich nur durch die Zeitungen erfahren, aber selbst als ich einige Tage später einen kurzen Bericht las, welcher mir wenigstens die Gewißheit von dem Tode des Mädchens gab, das ich fürchtete, empfand ich keine Spur von Erleichterung.

»Was weiter geschehen ist, bezeugen die düstern Gefängnismauern, zwischen denen ich dies Bekenntnis niederschreibe. Dies ist mein letztes Wort, meine Kraft ist zu Ende.« –


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