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Zwanzigstes Kapitel.
»Trueman! Trueman! Trueman!«

Es schlug soeben sechs Uhr. Auf diese Stunde war meine Unterredung mit Harwell festgesetzt und ich durfte sie nicht verfehlen. So schickte ich denn eine Depesche an Gryce, um ihm zu melden, daß ich ihn noch an dem nämlichen Abende aufsuchen würde, und begab mich nach Hause. Harwell hatte sich schon vor mir eingefunden.

Welche Enthüllungen erwarteten mich? Dieser Gedanke regte mich derartig auf, daß ich meine Gefühle kaum zu beherrschen vermochte; indessen begrüßte ich den Sekretär so herzlich, als mir möglich war, und bat ihn, mir die versprochenen Aufklärungen zu geben.

Wie es schien, hatte jedoch Trueman Harwell überhaupt nichts aufzuklären; er war im Gegenteil nur gekommen, um sich wegen der heftigen Worte zu entschuldigen, die er den Abend zuvor ausgestoßen. Er behauptete, dafür gar keinen genügenden Grund anführen zu können, jene Aeußerungen seien ihm unüberlegterweise entschlüpft.

»Aber,« rief ich, »Sie müssen doch irgend einen Anhaltspunkt für eine so furchtbare Anklage gehabt haben, oder Ihre Worte waren die eines Wahnsinnigen.«

Er zog die Brauen finster zusammen, und seine Augen nahmen einen fast unheimlichen Ausdruck an. »Das folgt daraus nicht,« erwiderte er; »unter dem Einfluß einer großen Ueberraschung können wohl Aeußerungen fallen, die ebenso unbegründet sind, wie die meinige es war, ohne daß man deshalb gerade wahnsinnig genannt zu werden braucht.«

»Einer großen Ueberraschung? Herr Clavering muß Ihnen demnach bekannt gewesen sein; denn das Erscheinen eines gänzlich Fremden war keine genügende Veranlassung, Sie in eine solche Bestürzung zu versetzen.«

Er spielte in nervöser Unruhe mit den Fingern auf der Rücklehne des Stuhles, hinter welchem er stand, sagte aber nichts.

»Nehmen Sie Platz,« drängte ich und legte etwas Gebieterisches in den Ton meiner Stimme. »Es ist dies eine ernste Angelegenheit, die ich zu behandeln gedenke, wie sie es verdient; Sie haben mir schon einmal versprochen, mir alles, was zu Ihrer Kenntnis käme und Fräulein Eleonore entlasten könnte, unverzüglich mitzuteilen.«

»Ich sage Ihnen nichts weiter,« unterbrach er mich kalt, »als daß ich schon längst gesprochen haben würde, wäre mir etwas bekannt, was dazu beitragen könnte, Fräulein Eleonore von dem entsetzlichen Verdacht zu befreien.«

»Machen Sie keine Ausflüchte,« beharrte ich, »Sie wissen etwas, und ich fordere Sie im Namen der Gerechtigkeit auf, es mir nicht länger vorzuenthalten.«

»Sie irren sich,« versetzte er mürrisch, »ich weiß gar nichts! ich habe vielleicht Gründe, mir mancherlei Gedanken zu machen; allein mein Gewissen erlaubt es mir nicht, mit kaltem Blute einen Verdacht zu äußern, der nicht nur den Ruf eines ehrlichen Mannes schädigen, sondern auch mich in die unangenehme Stellung eines Anklägers ohne genügenden Anhalt für seine Anklage bringen würde.«

»In dieser Stellung befinden Sie sich bereits,« erwiderte ich kühl; »es wird Ihnen nicht gelingen, daß ich vergesse, wie Sie in meiner Gegenwart Henry Clavering des Mordes an Herrn Leavenworth bezichtigt haben. Sie würden besser daran thun, sich deutlicher bezüglich dieser Anschuldigung zu erklären.«

»Sie sind allerdings mir gegenüber im Vorteil,« sprach der Sekretär, einen leichteren Ton anschlagend, indem er Platz nahm; »wenn Sie Ihre Ueberlegenheit benutzen und mich zwingen wollen, Ihnen das wenige mitzuteilen, was ich weiß, so kann ich diesen Zwang nur bedauern, muß mich aber eben Ihrem Willen fügen.«

»Dann sind es also nur Gewissensskrupel, welche Sie bisher verhindert haben, zu sprechen?«

»Gewiß, und außerdem die Dürftigkeit der mir zu Gebote stehenden Thatsachen.«

»Darüber werde ich urteilen, sobald ich alles erfahren habe.«

»Herr Raymond,« begann er und wischte sich die hellen Schweißtropfen von der Stirn, »Sie sind Rechtsanwalt und ohne Zweifel ein praktischer Mann; aber vielleicht ist es Ihnen doch schon einmal passiert, daß Sie eine Ihnen drohende Gefahr ahnten, daß Sie sich von gewissen Beängstigungen, die, sozusagen, in der Luft schwebten, ergriffen fühlten, und daß Sie dennoch gänzlich im Unklaren über die Ursache dieses seltsamen Gefühles blieben, bis der Zufall Sie darüber aufklärte, daß in der That ein Feind Ihnen nachstellte, oder daß der Schatten des Todes über das Buch hinwegzog, in welchem Sie lasen, oder sich mit Ihrem Atem mischte, als Sie schliefen.«

Ich schüttelte mit dem Kopf; denn ich vermochte nicht, ihn zu verstehen.

»Dann können Sie sich auch nicht vorstellen, was ich in den letzten drei Wochen gelitten habe,« fuhr er mit einer eisigen Zurückhaltung fort, die sich wie ein Nachtfrost über meine plötzlich erregte Neugier legte.

»Bitte um Verzeihung,« beeilte ich mich einzuschalten; »aber der Umstand, daß ich niemals derartige Vorahnungen empfunden habe, hindert mich nicht daran, solche Gefühle an anderen zu begreifen.«

»Dann werden Sie mich nicht auslachen,« fuhr er fort, näher zu mir heranrückend, »wenn ich Ihnen erzähle, daß ich am Abend vor Herrn Leavenworths Mord den ganzen Vorgang in einem Traume sah. Daß ich sah, wie er ermordet wurde und – und –,« seine Stimme sank dabei zu einem ängstlichen Flüstern herab, »daß ich das Gesicht des Mörders erblickte.«

Ein unwillkürlicher Schauder erfaßte mich. »Und das war,« begann ich, –

»Mein einziger Grund, jenen Mann der That zu beschuldigen, den ich in der Halle des Leavenworthschen Hauses so unerwartet sah.«

»Sie behaupten demnach, daß Ihr Traumgesicht und das Antlitz, welches Sie in jener Nacht erblickten, das nämliche war?«

Er nickte mit dem Kopf.

Ich zog meinen Stuhl näher an ihn heran. »Berichten Sie mir Ihren Traum,« bat ich.

»Es war am Abend vor dem Morde,« hob Harwell mit leiser, von Entsetzen durchzitterter Stimme an. »Ich hatte mich in recht zufriedener und glücklicher Stimmung zu Bett gelegt; denn obwohl mein Leben kein sehr angenehmes ist,« fügte er mit einem Seufzer hinzu, »waren mir gerade an jenem Tage einige freundliche Worte gesagt worden, und ich versank bald in einen sanften Schlummer. Plötzlich hörte ich in übernatürlichem Tone meinen Namen rufen. ›Trueman! Trueman! Trueman!‹ wiederholte eine mir unbekannte Stimme, und als ich mich aufrichtete, sah ich eine Frau neben meinem Lager stehen. Ihr Gesicht war mir fremd; aber ich könnte Ihnen noch heute jeden einzelnen Zug desselben beschreiben. Sie beugte sich über mich und sah mich mit einem schreckensvollen, hilfeflehenden Blick an, obgleich ihre Lippen stumm blieben, und nur jener geisterhafte Schrei in meinen Ohren klang.« Erschöpft machte er eine Pause.

»Fahren Sie fort!« mahnte ich nach einigen Minuten des Schweigens.

»Als mich jene hilfeflehenden Augen trafen, erhob ich mich; sofort zerfloß die ganze Erscheinung, und ich wurde mir, wie es öfters in Träumen geschieht, eines Geräusches unten in der Halle bewußt. In der nächsten Sekunde sah ich die hohe Gestalt eines Mannes in das Bibliothekzimmer schleichen, wobei mich ein Gefühl, halb Neugier, halb Entsetzen erfaßte.

»Seltsamerweise schien es mir, als ob ich jetzt meine Persönlichkeit wechselte und nicht mehr ein dritter war, der diese Vorgänge beobachtete, sondern Herr Leavenworth selbst, welcher an seinem Schreibtische saß und das Herannahen der drohenden Gefahr empfand, ohne im stande zu sein, sich zu rühren. Zwar kehrte ich jenem Manne den Rücken zu; aber ich merkte doch, wie er sich heimlich durch den Gang schlich, das anstoßende Zimmer betrat, an den Toilettentisch ging, in welchem das Pistol lag, das Schubfach aufschloß, die Waffe herausnahm, sie mit geübter Hand wog und dann wieder zurückkam. Ich fühlte jeden Schritt des Meuchlers, der immer näher auf mich losging, bis er auf der Schwelle war, die mich vom Tode trennte. Ich hörte das Knirschen seiner Zähne, als er sich zu seiner verruchten That rüstete; ich konnte jeden Zug seines Antlitzes erkennen –«

»Und dieses Antlitz,« unterbrach ich ihn, »war –«

»Dasjenige des Mannes, der sich gestern abend von Mary Leavenworth verabschiedete.«


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