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Dreißigstes Kapitel.
Verbrannte Papiere.

Soviel ich mich erinnere, sah ich mich nicht sogleich nach Beistand um. Die furchtbare Entdeckung, welche ich gerade in dem Momente machte, als die Hoffnung in mir am freudigsten war; der plötzliche Stoß, mit welchem alle meine Pläne, die sich auf das voraussichtliche Zeugnis dieses Mädchens gründeten, über den Haufen geworfen wurden; das unglückliche Zusammentreffen jenes Todesfalles mit der gefährlichen Lage, in der der schuldige Teil, wer es nun auch sein mochte, sich zu dieser Stunde befinden mußte: – das alles kam mir zu überwältigend für ein unverzügliches Handeln. Ich konnte nur dastehen und das stille Antlitz vor mir betrachten, das in seiner friedlichen Ruhe lächelte, als sei der Tod wirklich freundlicher, als wir denken, und mich über die Vorsehung wundern, die uns anstatt der Hilfe neue Sorge, statt der Aufklärung Verwickelung, statt der Wahrheit Enttäuschung gebracht hatte. Wie beredt der Tod auch selbst auf Gesichtern sprechen mag, die wir nicht kennen und lieben, so waren dennoch die Ursachen und Folgen dieses Sterbens zu wichtig, als daß ich bei dem Tragischen dieser Scene noch länger hätte verweilen können; Hannah, das Mädchen, ging auf in Hannah, der Zeugin.

Je länger ich auf die Tote hinschaute, desto mehr zog mich der Ausdruck von Erwartung an, der sich um den hübschen Mund und die halbgeschlossenen Lider gelegt hatte. Ich beugte mich über sie, wie es wohl ein Freund gethan haben würde, und fragte mich, ob sie wirklich schon ganz tot sei, oder ob vielleicht noch sofortige ärztliche Hilfe von irgend welchem Nutzen sein möchte. Aber bei genauer Betrachtung gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß sie schon seit einigen Stunden tot sein müsse, und entschlossen, den Bann zu brechen, unter welchem ich stand, begab ich mich in das nächste Zimmer, stieß das Fenster auf und befestigte daran das rote Taschentuch, welches ich aus Vorsicht mitgenommen hatte.

Auf der Stelle kam ein junger Mann, den ich für Spürnase hielt, obwohl er nicht die geringste Aehnlichkeit weder im Gesicht noch in der Kleidung mit dem jungen Mann besaß, als welchen ich ihn kennen gelernt hatte, und näherte sich Frau Beldens Villa.

Als ich bemerkte, daß er einen raschen Schritt nach mir hinwarf, schritt ich über den Flur und erwartete ihn an der Treppe.

»Wie steht's,« flüsterte er, nachdem er das Haus betreten hatte, »Sie haben sie gesehen?«

»Ja,« entgegnete ich bitter, »allerdings habe ich sie gesehen.«

Schnell war er an meiner Seite. »Und hat sie gestanden?« fragte er.

»Ich habe nicht mit ihr gesprochen,« antwortete ich, zog ihn in Frau Beldens Zimmer und fragte hastig: »Sie teilten mir heute mit, daß Sie das Mädchen gesehen hätten; waren Sie in ihrer Kammer?«

»Nein, ich habe sie nur von außen erblickt; als ich ein Licht in der Kammer sah, kletterte ich während Ihrer und Frau Beldens Abwesenheit auf das flache Dach der Veranda, guckte durch das Fenster und sah sie in ihrem Stübchen auf und ab gehen. Aber was giebt es denn?« fügte er hinzu, »Sie kommen mir heute so seltsam vor.«

Länger vermochte ich nicht, an mich zu halten. »Folgen Sie mir,« versetzte ich, »und überzeugen Sie sich selbst.« Ich führte ihn nach der Kammer, die ich vor kurzem verlassen hatte, und deutete schweigend auf die stille Gestalt. »Sie sagten mir, daß ich Hannah hier finden würde,« fuhr ich nach einer kurzen Pause fort; »Sie sagten mir aber nicht, daß ich sie so finden würde.«

»Gütiger Himmel!« rief er, zusammenzuckend, »sie ist doch nicht tot?«

»Ja,« erwiderte ich, »tot!«

Er schien es nicht begreifen zu können. »Aber das ist ja unmöglich!« wandte er ein, »sie hat nur ein narkotisches Mittel genommen und ist von tiefem Schlaf befangen.«

»Das ist ein Schlaf, aus welchem sie niemals erwachen wird; schauen Sie her!« Ich ergriff ihre Hand, hob sie empor und ließ ihr schweres Gewicht auf das Bett zurückfallen. Das überzeugte ihn; einen Moment noch blickte er sie ganz bestürzt an, dann kam plötzlich Leben in ihn, und, ohne ein Wort zu sagen, kehrte er die auf dem Boden liegenden Kleider um.

»Was thun Sie da?« fragte ich, »wonach suchen Sie?«

»Nach einem Stück Papier, aus welchem ich sie gestern abend etwas nehmen sah, das ich für eine Dosis Arznei hielt. Ah! hier ist es!« rief er gleich darauf, indem er einen Papierschnitzel aufhob, der unter dem Rande des Bettes auf dem Boden gelegen hatte und mir bisher entgangen war.

»Lassen Sie mich sehen,« bat ich.

Er händigte mir das Papier ein, auf dessen innerer Fläche ich deutlich die Ueberreste eines weißen Pulvers unterschied. »Das ist ja von hoher Wichtigkeit!« rief ich, das Papier sorgsam zusammenfaltend. »Wenn von dem Pulver noch genug vorhanden ist, um zu beweisen, daß es Gift enthält, so ist die Todesart des Mädchens erwiesen, und wir haben hier einen Selbstmord.«

»Das ist nicht so ganz sicher,« entgegnete er; »wenn ich die näheren Umstände richtig beurteile, so war jenes Mädchen ebensowenig willens, sich zu vergiften, als ich es bin. Sie sah munter und fröhlich aus, und als sie das verhängnisvolle Papier entfaltete, spielte sogar ein Lächeln des Triumphes um ihre Lippen; wenn Frau Belden ihr die Dosis zum Einnehmen gegeben und ihr gesagt hätte, es sei Medizin –«

»Das müssen wir vorerst noch zu ergründen suchen, ebenso, ob die Dosis ein Gift war oder nicht; vielleicht ist Hannah an einem Herzschlage gestorben.«

Er zuckte schweigend die Achseln und deutete zuerst auf den Stuhl, auf welchem das Frühstück stand, und dann auf die erbrochene Thür.

»Ja,« antwortete ich auf seinen fragenden Blick, »Frau Belden ist heute morgen hier gewesen und hat auch beim Herausgehen die Thür geschlossen; aber das beweist doch nur, daß sie das Mädchen für vollkommen gesund hielt.«

»Auch als sie dies marmorbleiche Gesicht auf dem Kopfkissen liegen sah?«

»Sie mag Hannah in der Eile gar nicht so genau angesehen und nur das Frühstück hingestellt haben.«

»Ich will auf niemand einen ungerechten Verdacht werfen; aber es ist in der That ein seltsames Zusammentreffen.«

»Wir haben keine Zeit, uns mit allerlei Vermutungen herumzuschlagen,« entgegnete ich; »wir müssen handeln! Kommen Sie!« fügte ich hinzu, indem ich rasch auf die Thür zuschritt.

»Was wollen Sie beginnen?« fragte er, »haben Sie vergessen, daß dies nur eine Episode in dem großen Geheimnis ist, zu dessen Aufklärung wir hierher geschickt worden sind? Wenn dieses Mädchen durch irgend ein Verbrechen zu Tode kam, so ist es unsere Pflicht, es herauszubringen.«

»Das ist jetzt Sache des Coroners, wir haben nichts mehr damit zu thun.«

»Ich weiß es; aber wir können uns wenigstens die Kammer und alles, was darinnen ist, genau betrachten, bevor wir die Angelegenheit fremden Händen übergeben; Herr Gryce erwartet das ganz gewiß von uns.«

»Ich habe mir alles genau angesehen, und das ganze meinem Gedächtnis eingeprägt; ich fürchte nur, daß ich es niemals werde vergessen können.«

»Und die Leiche? Haben Sie die Lage derselben bemerkt? Den Zustand der Bettwäsche, das gänzliche Fehlen aller Anzeichen von Furcht oder Kampf? Die Ruhe des Antlitzes und die zwanglose Haltung der Hände?«

»Ja, ja! Ich mag es gar nicht mehr sehen!«

»Ferner die Kleider, die dort an der Wand hängen?« fuhr er rasch fort, auf jeden der erwähnten Gegenstände mit dem Finger weisend. »Ein Kattunkleid, ein Shawl, nicht derjenige, mit welchem sie entflohen ist, sondern ein alter schwarzer, der wahrscheinlich Frau Belden gehört; ferner diese Truhe,« setzte er hinzu, indem er dieselbe öffnete, »sie enthält etwas Wäsche, zwar mit dem Namen der Frau des Hauses gezeichnet, aber für diese zu klein; sie ist, wie Sie sehen, für Hannah angefertigt, doch mit dem Namen ihrer Wirtin, um jeden Verdacht zu vermeiden. Und dann die auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke, – alle neu, alle ebenso gezeichnet. Aber was ist denn das?« rief er plötzlich aus.

Ich trat auf ihn zu und beugte mich wie er über die Waschschüssel, die mit verbranntem Papier halb angefüllt war.

»Als ich sie gestern abend beobachtete,« erklärte der Polizist, »sah ich, daß sie in dieser Ecke mit irgend etwas beschäftigt war, vermochte aber nicht zu erkennen, womit; offenbar hat sie etwas vernichtet, was sie niemanden sehen lassen wollte. Nicht ein Stück, nicht ein Schnitzel ist übrig geblieben; wie unglücklich!«

»Frau Belden muß das Rätsel lösen!« rief ich.

»Ja, Frau Belden muß das ganze Rätsel lösen!« bestätigte er. »Das Geheimnis des Leavenworth'schen Mordes hängt davon ab; wer weiß, ob dies nicht ein Geständnis gewesen ist,« setzte er hinzu, nachdenklich auf das verbrannte Papier blickend.

»Was es auch gewesen sein mag,« sagte ich, »es ist jetzt Asche; wir haben nichts als diese nackte Thatsache, und mit ihr allein können wir rechnen.«

»Gewiß!« bekräftigte er mit einem tiefen Seufzer; »doch Herr Gryce wird mir meine Unbedachtsamkeit niemals vergeben, er wird sagen, es sei höchst verdächtig gewesen, daß sie jene Dosis einnahm, während sie jeden Augenblick auf die Entdeckung gefaßt sein konnte; ich hätte dazwischen treten müssen.«

»Wer weiß,« tröstete ich ihn, »was eine Unterredung mit Frau Belden noch zu Tage fördert. Sie wird von ihrem Ausgang bald wieder zurückkommen, und alles hängt davon ab, herauszubringen, ob sie etwas von dem Morde weiß oder nicht. Mit diesen Worten zog ich ihn aus dem Zimmer, schloß die Thür hinter mir und stieg mit ihm die Treppe hinab. »Wir müssen ungesäumt ein Telegramm an Herrn Gryce abschicken, welches ihm diesen unerwarteten Zwischenfall mitteilt,« bemerkte ich.

»Ich will es sofort besorgen,« erwiderte Spürnase und wandte sich der Thür zu.

»Warten Sie einen Moment,« sagte ich, »bevor ich es vergesse: Frau Belden holte gestern zwei Briefe auf der Post ab, einen großen und einen kleineren; vielleicht könnten Sie entdecken, an welchem Orte dieselben aufgegeben worden sind.«

»Ich brauche nicht weit zu gehen, um dies zu erfahren,« unterbrach mich Spürnase und griff in die Tasche; »Himmel, ich habe ihn verloren!« rief er aus und eilte die Treppe wieder hinauf.

In diesem Augenblick hörte ich die Gitterthür gehen.


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