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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Timothy Cook.

»Und sehen Sie denn nicht ein,« sagte Gryce zu mir, »daß Sie durch Ihre Annahme, Eleonore sei die Gattin von Henry Clavering und letzterer der Mörder, die Sache für ihre Klientin nur noch schlimmer machen, anstatt die junge Dame von dem auf ihr ruhenden Verdachte zu befreien?«

»Aber Sie selbst halten doch Eleonore für unfähig, auch nur im entferntesten mit einem derartigen Verbrechen in Verbindung zu stehen.«

»Nach meiner Ueberzeugung ist Eleonore Leavenworth unschuldig,« entgegnete Gryce.

»Und was bleibt mir dann zu thun übrig?«

»Weiter nichts, als zu beweisen, daß Ihre Annahme unrichtig ist.«

Ich blickte ihn einen Moment in sprachloser Ueberraschung an.

»Ich glaube nicht, daß dies so gar schwer sein wird,« fuhr der Detektiv fort; »wo ist jener Cook?«

»Unten,« erwiderte ich; »er und ›Spürnase‹; ich habe sie mitgebracht.«

»Das war klug von Ihnen; haben Sie die Güte, die beiden heraufzurufen.«

Ich trat an die Thüre und rief nach den Verlangten.

»Ich erwartete natürlich, daß Sie den Wunsch hegen würden, die Leute zu vernehmen,« sagte ich, zurückkommend.

In der nächsten Minute betraten ›Spürnase‹ und Cook das Zimmer.

»Ah,« sprach Gryce, den letzteren, wenn auch nicht direkt, musternd, »das ist also der Mann, der in den Diensten des verstorbenen Pastor Robbins stand? Sie sehen aus, als ob Sie die Wahrheit sagen könnten.«

»Das thue ich immer, Herr; jedenfalls hat mich noch niemand einen Lügner geheißen.«

»Gewiß nicht,« erwiderte der Detektiv freundlich, und dann fragte er ihn ohne weitere Einleitung: »Wie hieß die Dame, bei deren Trauung Sie als Zeuge dienten, mit Vornamen?«

»Ja, wenn ich das noch wüßte!«

»Aber Sie erinnern sich ihres Aussehens?«

»So gut, als ob es meine Mutter wäre. Ich würde die schönen Augen der Dame niemals vergessen, auch wenn ich hundert Jahre lebte.«

»Sie würden dieselbe also wiedererkennen?«

»Ohne Zweifel.«

»Gut, dann erzählen Sie uns alles, was Sie von der Trauung wissen.«

»Nun, meine Herren, das trug sich ungefähr so zu: Ich befand mich etwa seit einem Jahr in Robbins Diensten, als ich eines Morgens in dem an die Straße grenzenden Garten beschäftigt war. Da gewahrte ich einen Herrn, der sich zuerst nach allen Richtungen umschaute und dann schnell auf unser Haus zu kam. Sein stattliches Aeußere fiel mir auf; denn eine solche vornehme Erscheinung gab es in ganz F. nicht. Ich hätte mich indessen weiter nicht um ihn gekümmert, wenn nicht fünf Minuten später ein Wagen mit zwei Damen ebenfalls vor der Pfarrei gehalten hätte; ich sah, daß sie aussteigen wollten, ging auf das Gefährt zu und half ihnen.

»Haben Sie ihre Gesichter gesehen?«

»Fürs erste noch nicht, denn sie waren verschleiert.«

»Gut; fahren Sie fort.«

»Ich hatte mich wieder an meine Arbeit gemacht, als ich nach kurzer Zeit Herrn Robbins meinen Namen rufen hörte. Ich wurde sehr bald gewahr, daß es eine Trauung galt, die denn auch in aller Form vollzogen wurde. Das ist ungefähr alles, was ich Ihnen zu sagen habe.« Timothy Cook wischte sich den Schweiß von der Stirn, als ob ihn der Bericht große Mühe gekostet hätte.

»Sie sagen, es wären zwei Damen gewesen; war die, welche jenem Herrn angetraut wurde, blond oder brünett?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen; es ist mir nur so, als ob sie nicht dunkel gewesen wäre.«

»Aber dem Gesicht nach würden Sie die Damen von einander unterscheiden können?«

»Gewiß.«

Gryce flüsterte mir zu, ich möchte aus einem gewissen Fache seines Schreibtisches zwei Porträts nehmen und sie an verschiedenen Plätzen im Zimmer aufstellen. »Sie haben vorher gesagt,« wandte er sich darauf an den Mann, »daß Sie sich des Namens der Braut nicht entsinnen; wie kommt das? Wurden Sie nicht aufgefordert, den Trauschein zu unterzeichnen?«

»Allerdings; aber ich weiß davon nicht mehr viel zu erzählen. Herr Robbins ersuchte mich, meinen Namen an eine bestimmte Stelle eines Schriftstückes zu setzen, welches er mir hinschob. Ich folgte seinem Geheiß, – und das war alles.«

»Stand kein anderer Name auf dem Dokument, als Sie dasselbe unterschrieben?«

»Nein, Herr. Herr Robbins wandte sich darauf an die andere Dame und bat sie ebenfalls, den Trauschein zu unterzeichnen, was sie auch that.«

»Haben Sie denn da ihr Gesicht nicht gesehen?«

»Nein, Herr; sie kehrte mir den Rücken zu, als sie den Schleier lüftete, und ich bemerkte nur, daß Herr Robbins sie mit Bewunderung anschaute; sie muß also sehr schön gewesen sein.«

»Und was geschah dann?«

»Das weiß ich nicht; denn ich verließ gleich darauf das Zimmer.«

»Wo befanden Sie sich, als die Damen wieder abfuhren?«

»Bei der Gartenarbeit.«

»Sie müssen sie demnach gesehen haben. Ging der Herr mit ihnen?«

»Nein, und das war eben das Auffallendste an der ganzen Sache; die Damen verließen den Ort, wie sie gekommen waren, und auch er; nach wenigen Augenblicken trat Herr Robbins zu mir heran und gebot mir, die Trauung geheim zu halten und niemand etwas von dem zu sagen, was ich gesehen hätte; denn es sei ein Geheimnis.«

»Waren Sie die einzige Person im Hause, welche von der Geschichte etwas erfuhr? Waren denn keine Frauen dabei?«

»Nein, Herr; Fräulein Robbins war in die Nähschule gegangen.«

Während dieses Zwiegespräches war mir eine leise Ahnung davon aufgedämmert, was Gryces Vermutungen wären. Ich hatte Eleonores wohlgelungenes Bild auf den Kaminsims gesetzt, und Marys sprechend getroffene Photographie auf den Schreibtisch gestellt. Cook stand jedoch mit dem Rücken nach jener Seite des Zimmers, und bevor er die Bilder sehen konnte, fragte ich ihn, ob dies alles sei, was er uns mitzuteilen habe.

»Ja,« lautete die Antwort.

»Besitzen wir denn nichts,« fragte Gryce mit einem bedeutsamen Blick auf ›Spürnase‹, »was wir Herrn Cook als Belohnung für seinen Bericht geben könnten? Haben Sie die Güte, sich einmal nach einer Stärkung umzusehen.«

Der Gefragte nickte und trat auf einen Geschirrschrank zu, welcher neben dem Kaminsims stand.

Cook folgte ihm, wie es ganz natürlich war, mit den Augen, schritt dann mit einem leisen Ruf des Erstaunens durch das Gemach und blieb vor Eleonores Bild bewundernd stehen.

Ich fühlte alle meine Pulse vor Erregung schlagen, als er sich umkehrte und plötzlich überrascht ausrief: »Das ist sie!« Mit Marys Photographie in der Hand eilte er auf uns zu.

Ich kann nicht gerade sagen, daß diese Entdeckung mir gänzlich unerwartet kam; Gryce hatte mich zu sehr darauf vorbereitet.

»Das soll die Dame sein, welche Herrn Clavering angetraut wurde, lieber Mann? Ich denke, Sie irren sich,« bemerkte der Detektiv in ungläubigem Tone.

»Mich irren? Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich die Dame unter allen Umständen wiedererkennen würde? Sie ist es, und wenn sie die Gattin des Präsidenten selbst wäre!«

»Ich bin sehr erstaunt,« fuhr Gryce fort und warf mir einen so spöttischen Blick zu, daß ich unter anderen Umständen und bei anderer Stimmung sehr aufgebracht darüber geworden wäre.

»Wenn Sie die andere Dame dort mir als die Braut bezeichnet hätten,« setzte er, mit dem Finger auf das Bild am Kaminsims zeigend, hinzu, »so würde ich mich gar nicht gewundert haben.«

»Sie? Ich habe die Dame niemals vorher gesehen. Aber würden Sie wohl die Güte haben, mir den Namen dieser hier zu nennen, meine Herren?«

»Wenn das, was Sie uns mitgeteilt haben, auf Wahrheit beruht, so heißt sie Frau Clavering.«

»Clavering? Jawohl! Jetzt erinnere ich mich, so hieß jener Herr.« –

Als ich mit Gryce wieder allein war, muß sich wohl die Verwirrung, welche ich fühlte, sehr deutlich auf meinem Gesicht ausgeprägt haben; denn erst nach einigen Minuten bedeutsamen Stillschweigens sagte er mit einem Anflug spöttischen Humors: »Die unerwartete Entdeckung hat Sie wohl ein wenig überrascht? Mich nicht im mindesten.«

»Ich gestehe meinen Irrtum gern ein, und Sie werden mir zugeben, daß jene Entdeckung die ganze Angelegenheit mit einem einzigen Schlage ändert.«

»Es ändert nichts an der Wahrheit.«

»Was ist die Wahrheit?«

»Nach meiner Ansicht hat sich die Sachlage wesentlich gebessert; so lange Eleonore als die Gattin Claverings galt, ließ sich der Mord gar nicht erklären. Warum sollte sie oder ihr Mann jemand nach dem Leben trachten, dessen Tod für sie von gar keinem Vorteil war? Aber nun es sich herausstellt, daß Mary, die Erbin, die verheiratete ist, hängt alles auf das klarste zusammen. Bei einem Verbrechen wie bei diesem, Herr Raymond, dürfen Sie niemals die Frage vergessen, wer aus dem Morde den größten Nutzen zieht.«

»Aber Eleonores Schweigen? Warum hielt sie mit gewissen Beweisen und Thatsachen so sehr zurück? Wie wollen Sie sich das erklären? Ich kann mir wohl vorstellen, daß eine Frau sich opfert, um die Folgen eines Verbrechens zu tragen, das ihr Gatte begangen hat; aber für den Mann ihrer Cousine sich opfern, – niemals!«

»Dann halten Sie also Clavering immer noch für den Mörder?«

»Wen anders sollte ich dafür halten? Eleonore kann doch unmöglich auch nur im entferntesten die Hand dabei im Spiele gehabt haben.«

»Gewiß nicht!« bestätigte Gryce.

»Aber wer denn?« fragte ich, und eine entsetzliche Ahnung stieg in mir auf.

»Wer denn? Wer denn als die eine, deren früherer Betrug und gegenwärtige Bedrängnis Leavenworths Tod als ein Rettungsmittel heischten, wer anders als die schöne, berückende, verführerische, golddürstige Göttin –«

»Nennen Sie keinen Namen!« unterbrach ich ihn, aufspringend; »Sie sind in offenbarem Irrtum, nennen Sie keinen Namen!«

»Verzeihen Sie,« entgegnete er, »der Name ›Mary Leavenworth‹ oder, wenn Sie lieber wollen, ›Frau Henry Clavering‹ wird noch oft in dieser Sache ausgesprochen werden; setzt Sie das in so großes Erstaunen? Ich habe es mir von vornherein gedacht.«


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